441 | Aufnehmen des Kindes (in die Familie) ist der in frühmittelalterlichen Volksrechten erkennbare, nach der Geburt vielleicht notwendige förmliche Rechtsakt, durch den ein neugeborenes Kind Mitglied der Rechtsgemeinschaft wird und deshalb danach nicht mehr ausgesetzt werden kann. Unter dem Einfluss des Christentums verschwindet dieses besondere A. Lit.: Hübner 52f., 699; Coulin, A., Der nasciturus, ZRG GA 31 (1910), 131 |
442 | Aufopferung ist die Beseitigung eines einzelnen Rechtes zugunsten der Allgemeinheit oder eines begünstigten Dritten, für die seit der Aufklärung Ersatz zu leisten ist (vgl. § 75 Einl. ALR). Lit.: Köbler, DRG 259; Niesler, A., Aufopferung und Enteignung vom ALR bis zur WRV, Juristische Zeitgeschichte 8 (2007), 128ff.; Menninger, L., Die Inanspruchnahme Privater durch den Staat, 2014 |
443 | Aufrechnung (Wort 1372) ist die schon der römischen klassischen Jurisprudenz als prozessual geltend zu machende (lat. [F.]) →compensatio bekannte, wechselseitige Tilgung zweier sich gegenüberstehender gleichartiger Forderungen durch Verrechnung (Verurteilung nur auf einen vorhandenen Überschuss bzw. [lat.] exceptio [F.] doli zur Überprüfung der Gegenforderung). Das ältere deutsche Recht kennt anscheinend einen besonderen Aufrechnungsvertrag. Eine A. durch einseitige Erklärung entsteht wohl unter römischrechtlichem Einfluss im Spätmittelalter. Später genügt auf Grund eines Ansatzes des Glossators Martinus eine bloße Aufrechnungslage für das Erlöschen der gegenüberstehenden Ansprüche (ALR I 16 § 301, Cc 1290, ABGB § 1348). Seit dem späteren 19. Jh. wird die A. als einseitiges Rechtsgeschäft eingeordnet und wieder eine Aufrechnungserklärung verlangt. Lit.: Kaser § 53; Köbler, DRG 43, 125; Dernburg, H., Geschichte und Theorie der Compensation, Neudruck 1965, 2. A. 1968; Prausnitz, O., Die Geschichte der Forderungsverrechnung, 1928; Pielemeier, K., Das Aufrechnungsverbot des § 393 BGB, 1988; Halbwachs, V., Ipso iure compensatur, hg. v. Thier, A. u. a., 1999; Pichonnaz, P., La compensation, 2001; Köbler, U., Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechts-wortschatzes, 2010 |
444 | Aufsicht (Wort 1483) ist allgemein der übergeordnete Blick auf eine Angelegenheit, der Rechte und Pflichten begründen kann. Lit.: Köbler, U., Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, 2010 |
445 | Auftrag (Wort 1532) ist im römischen Recht die als (lat. [N.]) →mandatum bezeichnete Übernahme der unentgeltlichen Besorgung eines fremden Geschäfts (eines Auftraggebers oder Mandanten durch einen Auftragnehmer oder Mandatar), die wohl auf sittliche Pflichten zum Tätigwerden für einen Nachbarn zurückgeht, wobei diesem A. mangels der Möglichkeit unmittelbarer Stellvertretung keine Vollmacht entspricht (höchstpersönlicher Konsensualkontrakt). Im deutschen Recht scheint der A. zunächst keine besondere Rolle gespielt zu haben. Nach der Rezeption des römischrechtlichen Mandats wird am Ende des 19. Jh.s zwischen A. als Innenverhältnis und Vollmacht als Rechtsmacht gegenüber Dritten (Außenverhältnis) unterschieden (§ 788 SächsBGB 1863, § 662 BGB 1896). Lit.: Kaser § 4; Söllner §§ 9, 17, 18; Hübner; Kroeschell, DRG 3; Müller, U., Die Entwicklung der direkten Stellvertretung, 1969; Albrecht, G., Vollmacht und Auftrag, 1970; Coing, H., Europäisches Privatrecht, Bd. 1f. 1985ff.; Amann, P., Abgrenzung und Anwendungsbereich von Dienstvertrag, Werkvertrag und Auftrag in der Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuches, Diss. jur. Bielefeld 1987; Grau, U., Historische Entwicklung und Perspektiven des Rechts der öffentlichen Aufträge, 2004; Köbler, U., Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, 2010; Principles of European Law Mandate Contracts, prepared by Loos, M., 2013 |
446 | Aufwendung (Wort 1542) ist der Einsatz von Mitteln zur Erlangung eines Wertes. Lit.:; Köbler, U., Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, 2010 |
447 | Aufwertung ist die Erhöhung eines Wechselkurses einer Währung im Verhältnis zum Goldwert oder zu anderen Währungen. Daneben wird auch die Erhöhung des Nennbetrages einer Geldschuld, die in Einheiten einer entwerteten Währung ausgedrückt ist, entsprechend der Kaufkraft bei der Begründung des Schuldverhältnisses als A. bezeichnet (z. B. Aufwertungsent-scheidung des Reichsgerichts vom 28. 11. 1923, 3. Steuernotverordnung vom Februar 1924 auf Grund der Inflation, Aufwertungsgesetz vom Juli 1925) im Deutschen Reich. Lit.: Kroeschell, 20. Jh. 50; Mügel, O., Die Entwicklung der Aufwertungslehre des Reichsgerichts, DJZ 1928, 29ff.; Klemmer, M., Gesetzesbindung und Richterfreiheit in den Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, 1996; Scholz, R., Analyse der Entstehungsbedingungen der reichsgerichtlichen Auf-wertungsrechtsprechung, 2001; Chlosta, C., Nur dem Gesetz unterworfen?, 2005 |
448 | Aufzeichnung ist die Umwandlung von Gedachtem oder Gesprochenem in Schrift oder andere weniger schnell vergängliche Mittel. →Schriftlichkeit |
449 | Auge ist das dem Sehen dienende Sinnesorgan von Tieren und Menschen, das auch als Zeichen der alles sehenden Gerechtigkeit verwendet werden kann. Lit.: Deonna, W., Le symbolisme de l’oeil, 1965; Jaeger, W., Augenvotive, 1979; Schleusener-Eichholz, G., Das Auge im Mittelalter, 1980; Geissmar, C., Das Auge Gottes, 1993; Stolleis, M., Das Auge des Gesetzes, 2004 |
450 | Augenschein ist die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung. Der A. ist als Beweismittel bereits dem römischen Prozessrecht bekannt und findet auch im mittelalterlichen deutschen Prozess (insbesondere im Inquisitionsprozess) Verwendung (mhd. blickender schin, lat. evidentia ocularis). Seit dem 17. Jh. wird der A. wissenschaftlich erörtert. Lit.: Kaser § 84; Hänel, A., Das Beweissystem des Sachsenspiegels, 1858; Planck, J., Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, Bd. 2 1879; Holdefleiß, E., Der Augenscheinbeweis im mittelalterlichen deutschen Strafverfahren, 1933 |
451 | Auge um Auge, Zahn um Zahn. Lit.: Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, hg. v. Schmidt-Wiegand, R., 1996, 39 (2. Moses 21, 22-25, Körte 1837) |
452 | Augen auf, Kauf ist Kauf ist wohl ein erst im 19. Jh. geschaffenes Rechtssprichwort, das der Begründung des Ausschlusses der Sachmangelhaftung im deutschen Recht dient. Lit.: Vgl. Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, hg. v. Schmidt-Wiegand, R., 1996, 2002, 38f. |
453 | Augsburg geht auf den 45 n. Chr. auf einem Bergsporn zwischen Lech und Wertach gegründeten Vorort Augusta Vindelicum der römischen Provinz Rätien zurück (um 121 n. Chr. [lat. N.] municipium). Vielleicht ist es seit dem 4. Jh. (oder 5. Jh.) trotz Zerstörung durch Germanen (5. Jh. Alemannen) Sitz eines seit dem 7. Jh. bzw. 738 nachweisbaren Bischofs. 1156 grenzt eine Urkunde Kaiser Friedrichs I. Barbarossa die Rechte des Bischofs und die Rechte der Bürger voneinander ab. 1167/1168 lässt sich der Kaiser die Hochstiftsvogtei und die Blutgerichtsbarkeit in A. übertragen. 1273 kommt die Vogtei an das Reich. 1276 zeichnet die Stadt ein eigenes, vom König bestätigtes Stadtrecht in mittelhochdeutscher Sprache auf. Zu dieser Zeit entsteht wohl in A. eine mittelhochdeutsche Fassung des Sachsenspiegels, die zu Deutschenspiegel und sog. Schwabenspiegel weiterbearbeitet wird. 1294 erhält A. ein Nichtevokationsprivileg König Adolfs von Nassau. An der Wende des Mittelalters zu Neuzeit wirkt von A. aus die Kaufmannsfamilie Fugger. 1555 wird in A. der Augsburger Religionsfriede geschlossen. Bis 1805 bleibt das zu einem europäischen Handelsmittelpunkt aufsteigende A. danach Reichsstadt, bis es am 26. 12. 1805 durch den Vertrag von Pressburg an Bayern fällt. Lit.: Köbler, Historisches Lexikon; Das Stadtbuch von Augsburg, hg. v. Meyer, C., 1872; Urkundenbuch der Stadt Augsburg, hg. v. Meyer, C., 1874ff.; Berner, E., Zur Verfassungsgeschichte der Stadt Augsburg, 1876; Hellmann, F., Das Konkursrecht der Reichsstadt Augsburg, 1905; Wolff, A., Gerichtsverfassung und Prozess im Hochstift Augsburg in der Rezeptionszeit, Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 4 (1913), 129; Steiger, H., Geschichte der Stadt Augsburg, 1941; Augusta 955-1955, 1955; Liedl, E., Gerichtsverfassung und Zivilprozess der freien Reichsstadt Augsburg, 1958; Batori, J., Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert, 1969; Zorn, W., Augsburg, 2. A. 1972, 4. A. 2001; Schröder, D., Stadt Augsburg 1975; Geschichte der Stadt Augsburg, hg. v. Gottlieb, G., 2. A. 1985; Fassl, P., Konfession, Wirtschaft und Politik, 1988; Roeck, P., Eine Stadt in Krieg und Frieden, 1989; Dietrich, R., Die Integration Augsburgs in den bayerischen Staat, 1993; Hecker, H., Das Recht der Reichsstadt Augsburg, ZRG GA 113 (1996), 391; Augsburger Buchdruck und Verlagswesen, hg. v. Gier, H. u. a., 1997; Künast, H., Getruckt zu Augspurg, 1997; Müller, F., Bürgerliche Herrschaft in Augsburg, 1998; Schorer, R., Die Strafgerichtsbarkeit in der Reichsstadt Augsburg, 2001; Roeck, B., Geschichte Augsburgs, 2005 |
454 | Augsburger Konfession (Bekenntnis) ist die von Philipp Melanchthon für den Reichstag zu Augsburg verfasste, am 25. 6. 1530 verlesene Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche mit 2 Teilen zu 21 und 7 Artikeln (im Gegensatz zum Helvetischen Bekenntnis). Lit.: Hoffmann, G., Entstehungsgeschichte der Augustana, Z. f. systemat. Theologie 15 (1938), 419 |
455 | Augsburger Religionsfriede ist der im Reichsabschied des Heiligen römischen Reiches vom 25. 9. 1555 zwischen König Ferdinand I. (für Karl V.) und den deutschen Reichsständen in Bezug auf die Religion nach dem Stand vom 2. 8. 1552 geschlossene Friede, der die freie Religionsausübung für Katholiken und Lutheraner gewährleistet. Er sichert den Reichsständen (nicht aber ihren Untertanen) die Freiheit der Bekenntniswahl zu ([lat.] →cuius regio, eius religio). Gibt ein geistlicher Reichsstand den katholischen Glauben auf, verliert er Gebiet und Kirchenamt ([lat.] →reservatum [N.] ecclesiasticum). Das Auswanderungsrecht von Untertanen bereitet die Religionsfreiheit vor. Der lückenhafte, widersprüchliche und auch mehrdeutige A. R. kann weder die geistliche Einheit herstellen noch den Frieden dauerhaft sichern, bildet aber die Grundlage des paritätischen Reichskirchenrechts bis 1806. Lit.: Kroeschell, DRG 2; Köbler, DRG 130; Brandi, K., Der Augsburger Religionsfriede, 2. A. 1927; Simon, M., Der Augsburger Religionsfriede, 1955; Walder, E., Religionsvergleiche des 16. Jahrhunderts, 3. A. 1974; Rabe, H., Der Augsburger Religionsfriede und das Reichskammergericht 1550-1600, 1976; Heckel, M., Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 2. A. 2001; Gotthard, A., Der Augsburger Religionsfrieden, 2004; Heckel, M., Konfessionalisierung in Koexistenznöten, HZ 280 (2005), 647; Heckel, M., Politischer Friede, HZ 282 (2006), 391; Der Augsburger Religionsfriede, hg. v. Schilling, H. u. a., 2007 |
456 | Augsburger Vertrag (Augsburger Transaktion) →Niederlande |
457 | Augustiner ist der Anhänger des nach der im 8. Jh. entstandenen sog. Regel Augustins (354-430) lebenden kirchlichen Ordens. Zu den Augustinern gehören die Augustiner-Eremiten (Orden zwischen 1244 und 1256), während Augustinerchorherren (11. Jh.), Prämonstratenser und Dominikaner nur auch nach der Regel Augustins leben. Lit.: Verheijen, L., La règle de St. Augustin, 1967; Feine, H., Kirchliche Rechtsgeschichte, 1950, 5. A. 1972; Gutiérrez, D. u. a., Geschichte des Augustinerordens, 1975ff.; Cremona, C., Augustinus, 2. A. 1995; Mönchtum, Orden, Klöster, hg. v. Schwaiger, G., 2003 |
458 | Augustinus (354-430) Lit.: Fuhrer, T., Augustinus, 2004; Augustin Handbuch, hg. v. Drecoll, V., 2007; Chadwick, H., Augustine of Hippo, 2009; Drecoll, V. u. a., Augustin und der Manichäismus, 2011 |
459 | Augustus (Rom 23. 9. 63 v. Chr.–Nola bei Neapel 19. 8. 14 n. Chr.) Sohn einer Nichte Caesars, 44 n. Chr. Adoptivsohn Caesars (ursprünglich Gaius Octavius, seit Adoption Gaius Iulius Caesar, Ehrenname griech. sebastos, lat. augustus, Erhabener, der vom Beginn seines Aufstiegs lernen musste, zu lügen und zu betrügen, wo immer es ihm nützlich erschien) verfolgt die Mörder Caesars und wird 36 v. Chr. Herrscher im westlichen und 30 v. Chr. Herrscher auch im östlichen Teil des römischen Reiches. Äußerlich stellt er die republikanischen Zustände wieder her. Tatsächlich leitet er (27 v. Chr.) mit seinem Prinzipat den zentrierenden und dadurch stabilisierenden Übergang zum Kaisertum ein. Seine Herrschaft wird am Ende auf Grund weitreichender Zustimmung als (lat.) pax (F.) Augusta (augusteische Friedenszeit) erklärt. Für die Ehe erlässt er gesetzliche Gebote und Verbote. Lit.: Kienast, D., Augustus, 1982, 3. A. 1999, 4. A. 2009; Eck, W., Augustus und seine Zeit, 1998; Bleicken, J., Augustus, 1998; Bringmann, K./Schäfer, T., Augustus und die Begründung des römischen Kaisertums, 2002; Schlange-Schöningen, H., Augustus, 2005; Bringmann, K., Augustus, 2007, 2. A. 2012; Augustus, Schriften, Reden und Aussprüche, hg. v. Bringmann, K. u. a., 2008; Dahlheim, W., Augustus, 2010; Cooley, A., Res Gestae Divi Augusti, 2009 |
460 | Auktion ist die schon der Antike bekannte, dort rechtlich nicht besonders beachtete Veräußerung einer (beweglichen) Sache an den Meistbietenden durch öffentlichen Aufruf. Sie erhält sich in der Form der Vergabe von Steuern, Ämtern und Nutzungen an den Meistbietenden in den romanischen Ländern. Im 13. Jh. dringt die A. gepfändeter Güter eines nichtzahlenden Schuldners nach Mitteleuropa ein. Daneben findet sich seit dem 14. Jh. die A. von Waren durch Großhändler, seit der Mitte des 17. Jh.s die A. fremdländischer Waren durch Kolonialgesellschaften. Wegen der damit möglichen Missstände entstehen Ordnungsvorschriften, die mit Einführung der Gewerbefreiheit im 19. Jh. wieder aufgegeben werden. Wegen der damit wieder möglichen Missstände greift der Gesetzeber seit 1883 wieder ein (in Deutschland u. a. 1960 § 34b GewO). Lit.: Süßheim, M., Das moderne Auktionsgewerbe, 1900; Durach, H., Die deutschen Großhandelsauktionen, 1960; Thielmann, G., Die römische Privatauktion, 1961; Marx, H./Arens, H., Der Auktionator, 1992; Schneider, A., Auktionsrecht, 1999; Spindler, G./Wiebe, A., Internet-Auktion, 2001 |