321 | Antisemitismus ist die die Juden (Semiten) ablehnende Haltung. Sie entsteht nach antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorläufern in der 2. Hälfte des 19. Jh.s (in Preußen Sozialkonservative wie Hermann Wagener seit der liberalen neuen Ära von 1858, in Österreich um 1885) neu. In dieser Zeit gelten Juden als Modernisierungs-gewinner des Liberalismus, wobei auch die katholische Kirche ihr Unbehagen über die gesellschaftlichen Veränderungen am steigenden Einfluss der Juden zum Ausdruck bringt.→Jude Lit.: Badinter, R., Un antisémitisme ordinaire, 1997; Scheil, S., Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912, 1999; Walter, D., Antisemitische Kriminalität, 1999; Katholischer Antisemitismus, hg. v. Blaschke, A. u. a., 2000; Kertzer, D., Die Päpste gegen die Juden, 2001; Bergmann, W., Geschichte des Antisemitismus, 2002; Ferrari Zumbini, M., Die Wurzeln des Bösen - Gründerjahre des Antisemitismus, 2002; Haury, T., Antisemitismus von links, 2002; El olivo y la espada, hg. v. Joan i Tous, P. u. a., 2003; Ley, M., Kleine Geschichte des Antisemitismus, 2003; Der Berliner Antisemitismusstreit 1879-1881, bearb. v. Krieger, K., 2003; Benz, W., Was ist Antisemitismus?, 2004; Wladika, M., Hitlers Vätergeneration, 2005; Terwey, S., Moderner Antisemitismus in Großbritannien 1899-1919, 2006; Mittmann, T., Vom Günstling zum Urfeind der Juden, 2006; Volkov, S., Germans, Jews and Antisemites, 2006; Sieg, U., Deutschlands Prophet - Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, 2007; Nonn, C., Antisemitismus, 2008; Brügmann, C., Flucht in den Zivilprozess, 2009; Herholt, v., Antisemitismus in der Antike, 2009: Antisemitische Geschichtsbilder, hg. v. Bergmann, W. u. a., 2009; Herbeck, U., Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“, 2009; Handbuch des Antisemitismus, hg. v. Benz, W., Bd. 1ff. 1209ff.; Albrecht, H., Antiliberalismus und Antisemitismus, 2010; Antisemitism in Eastern Europe, hg. v. Petersen, H. u. a., 2010; Imperien in der Antike, hg. v. Harrison, T., 2010; Bergmann, W. u. a., Antisemitismus in Zentraleuropa, 2011; Hofer, S., Richter zwischen den Fronten, 2011; Jahr, C., Antisemitismus vor Gericht, 2011; Nicosia, F., Zionismus und Antisemitismus, 2012 |
322 | Antitribonianus ist das 1603 posthum erschienene Werk François →Hotmans, das im Angriff auf →Tribonian die Anwendbarkeit des (lat. [N.])Corpus iuris civilis in der Neuzeit bestreitet und die Schaffung eigener Gesetzbücher empfiehlt. Lit.: http://www.koeblergerhard.de/Fontes/HotmanFranz(HotomanusFranciscus)Antitribonian1603.pdf Baron, J., Franz Hotmans Antitribonian, 1888 |
323 | Antrag (Wort 1325) ist das →Angebot auf Abschluss eines →Vertrags. Lit.: Köbler, U., Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, 2010 |
324 | Antrustio (lat. [M.], zu afrk. druht, lat.-afrk. trustis, M., bewaffnete Schar) ist der im Volksrecht der →Franken durch dreifaches Wergeld des Freien ausgezeichnete, auch in Kapitularien und Formeln erwähnte freie Königsmann. Lit.: Bergengruen, A., Adel und Grundherrschaft im Merovingerreich, 1958; Olberg, G. v., Die Bezeichnungen für soziale Stände, 1991 |
325 | Antwerpen an der Schelde wird 726 erstmals urkundlich erwähnt. 1291 erhält es Stadtrecht. 1852 wird eine Universität eingerichtet. |
326 | Anwachsung (Wort 1453, Anwachsungsrecht 1721) ist die Erhöhung der Anteile anderer Berechtigter an einer (gesamthänderischen) Gesamtheit im Wege der Gesamtnachfolge bei Wegfall eines Mitberechtigten. Sie hat wohl in alten gesamthänderischen Gesamtheiten (z. B. Hausgemeinschaft, Akkreszenz im klassischen römischen Erbrecht) Bedeutung und wird später eher zurückgedrängt (z. B. durch Eintrittsrechte, Realteilung). Durch das Bürgerliche Gesetzbuch (1900) gewinnt sie mit dem Gesamthandsprinzip an Gewicht. Lit.: Kaser §§ 73 III, 76 III 1 154ff.; Hübner; Breuel, F., Geschichte des Anwachsrechts in Ostfriesland, 1954; Coing, H., Europäisches Privatrecht, Bd. 1f. 1985ff.; Meyer, H., Anwachs und Insel im hochmittelalterlichen Recht der Grafschaft Flandern, ZRG GA 113 (1996), 333; Köbler, U., Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, 2010 |
327 | Anwalt ist der Vertreter eines anderen (im Recht). Im römischen Recht ist Vertretung grundsätzlich ausgeschlossen. Im deutschen Bereich begegnen die ersten Anfänge im fränkischen Reich. Zum Hochmittelalter hin erscheinen Vertreter für Bischöfe (Vögte), Äbte, Gemeinden oder Genossenschaften. Bis zur zweiten Hälfte des 15. Jh.s setzt sich neben dem Fürsprecher als Vertreter im (loßen) Wort (Mund der Partei) die inhaltliche Vertretung der Partei in der Sache im bürgerlichen Rechtsstreit durch. Mit der Rezeption des römisch-kanonischen Prozessrechts wird am Ende des 15. Jh.s der meist rechtsgelehrte, praktisch geschulte →Prokurator zum Vertreter der Partei vor Gericht, der rechtsgelehrte →Advokat zum außergericht-lichen Berater (1495 am Reichskammergericht acht Prokuratoren, zwei Advokaten, seit 1500 bzw. 1530 Prüfungen), doch verwischen sich in Deutschland die Unterschiede trotz Fortführung der verschiedenen Benennungen schon seit dem 16. Jh. wieder. Bedeutung hat der A. vor allem im Zivilprozess. In Preußen wird 1725 die Prokuratur abgeschafft und 1780 die Advokatur als freier Beruf beseitigt (Assistenzrat, Justizkommissar). Im 19. Jh. werden auch in Preußen wieder frei wählbare Prozessvertreter zugelassen, die seit 1849 (1878 im Deutschen Reich) Rechtsanwälte heißen (Österreich Advokatenordnungen von 1849 und 1868). Neben ihnen dürfen in Deutschland seit 2008 (Rechtsdienstleistungsgesetz) auch Nichtjuristen eingeschränkt Rechtsberatung durchführen. Lit.: Kaser § 87 II IV; Kroeschell, DRG 2; Köbler, DRG 155, 202; Weißler, A., Geschichte der Rechtsanwaltschaft, 1905; Kübl, F., Geschichte der österreichischen Advokatur, 1925; Bader, K., Vorsprecher und Anwalt in den fürstenbergischen Gerichtsordnungen, 1931; Böhm, O., Die nürnbergische Anwaltschaft um 1500 bis 1806, 1949; Döhring, E., Geschichte der deutschen Rechtspflege, 1953; Kern, E., Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954; Schlosser, H., Spätmittelalterlicher Zivilprozess, 1971; Failenschmid, H., Anwalt und Fürsprech, 1981; Holly, G., Geschichte der Ehrengerichtsbarkeit der deutschen Rechtsanwälte, 1989; Krach, T., Jüdische Rechtsanwälte in Preußen, 1991; Grahl, C., Die Abschaffung der Advokatur unter Friedrich dem Großen, 1994; Siegrist, H., Advokat, Bürger und Staat, 1996; Krug, G., Die Advokat-Anwälte, Diss. jur. Mannheim 1996; Die Geschichte des Deutschen Anwaltvereins, hg. v. Deutschen Anwaltverein, 1997; Nirk, R., 50 Jahre NJW. Die Entwicklung der Anwaltschaft, NJW 1997, 2625; Scherner, K., Advokaten, Revolutionäre, Anwälte, 1997; Treve, W., Rechts-, Wirtschafts- und Steuerberatung in zwei Jahrhunderten, 3. A. 1998; Klas, A., Standes- oder Leistungselite?, 2002; Wiedemann, A., Preußische Justizreformen, 2003; Reichspersonal, hg. v. Baumann, A., 2003 |
328 | Anwaltszwang ist die (tatsächliche oder) rechtliche Verpflichtung, im →Prozess einen →Anwalt zu verwenden. |
329 | Anwartschaft ist die einer bestimmten Person zustehende rein tatsächliche Aussicht auf ein später zu erwartendes Amt oder Recht. Im deutschen Mittelalter hat der nahe Verwandte ein Anrecht auf den Nachlass (→Erbenwartrecht). Im 20. Jh. setzt sich die A. als werdendes Recht, das dem Vollrecht wesensgleich ist, beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt durch. Lit.: Kaser § 10 I; Hübner; Kroeschell, DRG 1; Köbler, DRG 269; Berger, W., Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht, 1984 |
330 | Anweisung (Wort 1271/1286) ist die schriftliche Aufforderung eines Teiles (Anweisender, Wort 1863) an einen anderen Teil (Angewiesener) (Deckungsverhältnis), Geld, Wertpapiere oder andere Sachen an einen die Anweisung dem Angewiesenen vorlegenden Dritten (Anweisungsempfänger, Wort 1809) zu leisten (lat. [F.] delegatio zwischen Delegant, Delegat und Delegatar, Verhältnis zwischen Angewiesenem und Anweisungsempfänger Valutaverhältnis). Sie hat römische Grundlagen. Sie gehört in die Frühzeit des →Wertpapiers (13./14. Jh.). Die pandektenwissenschatliche Erörterung des 19. Jh. bereitet die Gestaltung im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896/1900 vor. Die A. kann Zahlungsanweisung oder Verpflichtungsanweisung sein. Lit.: Eisenried, U., Die bürgerlich-rechtliche Anweisung und ihre Entstehung, 2010; Köbler, U., Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, 2010 |
331 | Anwenderecht ist das in die Anfänge des dichteren Ackerbaus zurückreichende, seit dem 13. Jh. vielfach schriftlich bezeugte Recht, zur Bestellung des eigenen Feldes kurzzeitig ein Nachbargrundstück zu betreten und dadurch zu benutzen. Das Bürgerliche Gesetzbuch (1900) lässt das landesrecht-lich vorhandene A. als Teil des Nachbarrechts bestehen. Lit.: Hübner 281; Götz, A., Das Anwenderecht, 1925; Schmidt-Wiegand, Anwende, Text und Sprachbezug in der Rechtssprachgeographie, 1985, 146 |
332 | Anzeige ist die Mitteilung eines rechtlich erheblichen Vorgangs oder Zustands. Sie ist in verschiedenen Formen dem römischen Recht bekannt. Eine Verpflichtung zu einer A. bestimmter Handlungen stellt die Rügepflicht dar. Der hochmittelalterliche kanonische Prozess unterscheidet im 12. Jh. die A. von der (lat. [F.]) accusatio. In der frühen Neuzeit genügt im Strafverfahren statt der Klage eines einzelnen Klägers die A. beim Richter zur Ingangsetzung des Verfahrens. Lit.: Köbler, DRG 157; Kisker, S., Die Nichtanzeige geplanter Straftaten - §§ 138, 139 StGB, 2002 |
333 | Aostatal Lit.: Roddi, G., Il Coutumier Valdostano (1588), 1994 (Diss. jur. Freiburg im Üchtland) |
334 | Apanage ist die Ausstattung eines nachgeborenen Sohnes, Bruders oder sonstigen Mitglieds eines landesherrlichen Hauses zur Sicherung des standesgemäßen Unterhalts. Sie entwickelt sich nach älteren Vorläufern (Bretagne 990?, Dreux 1137?) im 13. Jh. in Frankreich. Einen Rechtsanspruch auf A. gibt es nur bei Vorliegen eines entsprechenden Hausgesetzes. Die meist bei Eintritt der Volljährigkeit fällige A. kann auf eine Person oder auf eine Linie bezogen sein. Lit.: Schulze, H., Das Recht der Erstgeburt, 1851; Wood, C., The French Apanages, 1966 |
335 | Apel, Johann (Nürnberg 1486-27. 4. 1536) wird nach dem Rechtsstudium in Wittenberg 1524 Rechtslehrer, 1530 Kanzler in Preußen und 1534 Rechtsberater in Nürnberg. 1535 schlägt er eine dialektische Lehrmethode für die Rechtswissenschaft vor. Außerdem bietet er erste systematische Ansätze. Lit.: Köbler, DRG 144; Muther, T., Doctor Johann Apell, 1861; Wieacker, F., Einflüsse des Humanismus auf die Rezeption, Z. f. d. ges. Staatswiss. 100 (1940), 423 |
336 | Apokalypse Lit.: Fried, J., Aufstieg aus dem Untergang, 2001 |
337 | Apostasie (F.) ist der von der Spätantike bis zur Aufklärung geahndete Abfall vom Glauben. Lit.: Hinschius, P., System des katholischen Kirchenrechts, 1888ff.; Schauf, H., Einführung in das kirchliche Strafrecht, 1952 |
338 | Apostelbrief ist im gelehrten Verfahrensrecht des Mittelalters der Bericht, den der untere Richter (lat. iudex [M.] a quo) auf die Bitte einer Partei, die →Appellation gegen seine Entscheidung erhebt, an den oberen Richter (lat. iudex [M.] ad quem) sendet. Er enthält eine Schilderung des bisherigen Verfahrensablaufs und eine Beurteilung der Berechtigung der Appellation sowie später auch die bisherigen Prozessakten. Lit.: Kroeschell, DRG 2; Sägmüller, J., Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Bd. 2 3. A. 1914, 342 |
339 | Apotheke („Aufbewahrungsort“, für Heilmittel zunächst in Klöstern, um 1241 verbietet Friedrich II. im Edikt von Salerno das Betreiben von Apotheken durch Ärzte, 1241 Löwenapotheke in Trier bezeugt) ist das Unternehmen des wissenschaftlich ausgebildeten, staatlich zu Herstellung und Verkauf von Arzneimitteln Berechtigten (Apothekers). Seit etwa 1850 gründen Apotheker Drogerien mit einem breiten Warenangebot, darunter auch Arzneimittel. 1935 wird eine deutsche Apothekerschaft geschaffen, 1937 eine Reichsapothekenkammer eingerichtet. 1961 ergeht ein Arzneimittelgesetz. Lit.: Schröder, G., NS-Pharmazie - Gleichschaltung des deutschen Apothekerwesens im Dritten Reich, 1988; Schlick, C., Apotheken im totalitären Staat, 2008; Schäfer, C., Apotheker und Drogist, 2009 |
340 | Apothekenurteil ist die in drei Stufen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Einschränkung von Grundrechten (z. B. Berufsfreiheit) ordnende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Deutschlands vom 11. 6. 1958 über die Zulassung eines Apothekers in Traunreut. Lit.: Henne, T., Das Lüth-Urteil, hg. v. Henne, T. u. a., 2004 |