| 6063 | Russland geht auf die alte, ihrer Herkunft nach umstrittene Bezeichnung Rus für (germanistische) Stämme zurück, die vermutlich unter dem skandinavisch-warägischen Heerführer Rurik in slawischem Gebiet im 9. Jh. ein Reich um Kiew gründen. Dieses zunehmend slawisierte, unter Wladimir dem Heiligen (977-1015) christianisierte Reich zerfällt um 1125. 1236 dringen von Osten Mongolen vor, die unter Führung des Fürsten von →Moskau bis 1480 wieder zurückgedrängt werden. Das einheimische, von oströmisch-byzantinischem Recht beeinflusste Gewohnheitsrecht (Strafrecht, Erbrecht, Handelsrecht, Verfahrensrecht) wird als Russkaja Prawda (russische Wahrheit) bereits in der ersten Hälfte des 11. Jh.s aufgezeichnet (erhalten in Abschriften seit dem späten 13. Jh.). Dazu kommt das kirchlich-byzantinische Recht (slaw. →Kormcaja). In der frühen Neuzeit wird R. ein autokratischer, nach Osten (Sibirien 1582) und Süden (Ukraine 1654) ausgreifender Einheitsstaat (nach dem Fall des Kaisertums Ostrom [1453] 1547 Zar), der sich im 18. Jh. dem Westen und der Aufklärung nähert (Katharina die Große). Sankt Petersburg wird Hauptstadt. Deutsche Siedler (Russlanddeutsche) werden geholt. Das weltliche Recht wird 1645 auf der Grundlage der Russkaja Prawda und späterer Rechtsbücher im Codex Aleksy Michailovic in 25 Kapiteln und 963 Artikeln zusammengefasst (Privatrecht, Zivilprozessrecht, Strafrecht, Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht). Kodifikationsversuche scheitern. 1755 erhält Moskau eine Universität. Im 19. Jh. ist R. europäische Großmacht, die als Führerin des Panslawismus handelt. Bemühungen, das Recht nach dem Vorbild des →Code civil Frankreichs zu kodifizieren, scheitern nach dem erfolglosen Angriff Napoleons auf R. 1813. Eine neue, anfangs chronologisch, später aber unter Aussonderung überholter Sätze lose systematisch geordnete, rechtswissenschaftlich rückständige, im Wesentlichen nur das bestehende ständische Recht zusammenfassende Sammlung der Gesetze (Svod Zakonov Rossijskoj Imperii) in 8 Teilen, 15 Bänden und 60000 Artikeln entsteht 1833. Sie dient hauptsächlich dem Behördengebrauch. Sie wird durch die Recht-sprechung ergänzt und überholt. 1845 wird ein Strafgesetzbuch geschaffen. Die Leibeigenschaft wird 1861 durch Bauernbefreiung beseitigt. Die Gewaltentren-nung wird 1864 eingeführt. Gleichzeitig erfolgt eine westlich orientierte Justizreform. Das neue Recht wird aber tatsächlich fast nur in den Städten angewendet. Zu dieser Zeit beginnt auch eine vorsichtige Beschäftigung mit dem römischen Recht an den Universitäten. Entwürfe einer seit 1882 an einem Zivilgesetzbuch arbeitenden Kommission werden (1899, 1903) nicht in Kraft gesetzt. Im März 1917 wird in einer Revolution (Meuterei und Demonstration der Arbeiter am 27. 2. 1917, Februarrevolution, nach gregorianischem Kalender am 12. 3. 1917) der Zar gestürzt (Abdankung am 2. 3. 1917 bzw. nach gre-gorianischem Kalender am 15. 3. 1917, Republik) und eine bürgerliche Regierung eingesetzt. Am 25. Oktober 1917 (= 7. 11. 1917) gewinnen die Sozialisten (Bolschewisten) unter Uljanow (Lenin 1870-1924) durch gewaltsame Absetzung der Regierung die Oberhand (Oktoberrevolution mit 6 Toten unter den Angreifern). Russland wird in die Räterepublik der →Sowjetunion verwan-delt. 1918 werden revolutionäre Gesetzbücher für Eherecht, Familienrecht, Vor-mundschaftsrecht und Arbeitsrecht geschaffen, 1922 für R. ein Zivilgesetzbuch erlassen. Bis 1935 wird unter Stalin (Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili aus Georgien, 1878-1953, 1922 Generalsekretär der Kommunistischen Partei) in der Sowjetunion eine sozialistische (marxistische) Rechtsordnung begründet. 1960 wird ein neues Strafgesetzbuch eingeführt. 1964 werden Zivilgesetzbuch (458 Artikel) und Zivilprozessordnung erneuert. Auf der Grundlage von Grundlagengesetzen der Sowjetunion (1968/70) erlässt R. ein Familiengesetzbuch vom 30. 7. 1969 und ein Arbeitsgesetzbuch vom 9. 12. 1971. Nach einer von Michael Gorbatschow eingeleiteten Reformbewegung wird 1991 die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (Sowjetunion) in die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) überführt, deren wichtigstes Mitglied das erneuerte R. unter Boris Jelzin ist. Zum 1. 1. 1995 tritt hier der erste Teil eines neuen Zivilgesetzbuchs in Kraft. 1996 wird in R. zum 1. 1. 1997 das Strafgesetzbuch erneuert. Lit.: Kroeschell, DRG 3; Handbuch des gesamten russischen Zivilrechts, hg. v. 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