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Kuller, Christiane, Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland (= Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus Band 1). Oldenbourg, München 2013. 480 S. 20 Ill. Besprochen von Werner Schubert.

Kuller, Christiane, Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland (= Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus Band 1). Oldenbourg, München 2013. 480 S. 20 Ill. Besprochen von Werner Schubert.

 

2009 beauftragte das Bundesministerium der Finanzen eine Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Reichsfinanzministeriums während des Nationalsozialismus, die untersuchen sollte, „welchen Beitrag das RFM etwa bei der Ausplünderung der Juden sowie der Finanzierung der Rüstung und des Krieges leistete, welche Handlungsspielräume es dabei gab und wie diese genutzt wurden“ (Christian Mentel mit Hans-Peter Ullmann in einem Interview). Das vorliegende Werk ist der Auftaktband zu der Reihe: „Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus“. Die Studie befasst sich „räumlich mit der Finanzverwaltung im Reichsgebiet und in den ‚angeschlossenen’ Gebieten, in denen reguläre Finanzbehörden errichtet wurden“, wobei der Entwicklung in Österreich eine besondere Bedeutung zukommt, weil dort die Behörden „nicht nur in kurzer Zeit tiefgreifend umgestaltet wurden, sondern auch mit den Folgen einer großen Welle ungesteuerter ‚Arisierungen’ in den ersten Monaten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme konfrontiert waren“ (S. 22). Quellen der Darstellung sind die allerdings nicht vollständig überlieferten Akten des Reichsfinanzministeriums – es fehlt insbesondere die Überlieferung zur Enteignung der Deportierten –, Personalakten, Einzelakten sowie teilweise auch Wiedergutmachungsakten. Zunächst behandelt Kuller den organisatorischen Rahmen der Judenverfolgung in den Behörden der staatlichen Finanzverwaltung (S. 31-131), und zwar als erstes das Reichsfinanzministerium, das von 1932-1945 unter der Leitung des Juristen Schwerin v. Krosigk stand – Staatssekretär war der Nationalsozialist Fritz Reinhardt –, und anschließend die Oberfinanzdirektionen bzw. Oberfinanzpräsidien, die Finanzämter, die Beiräte der Finanzämter, aus denen die Juden frühzeitig entfernt wurden, und die Sonderzuständigkeit des Finanzamts Berlin-Moabit, das bis 1941 zentral für die Durchführung der Enteignung insbesondere jüdischer Emigranten war. Im Teil 2 geht es um die steuerliche Diskriminierung der Juden (S. 133-184), die sich bereits in der Auslegung der überkommenen Steuergesetze nach rassischen und ideologischen Grundsätzen bzw. nach der nationalsozialistischen Weltanschauung zeigte. Nach Radikalisierungsentwürfen aus dem Planungszentrum Steuerverwaltung im Sommer 1935 (S. 144ff.) kam es im April 1938 zur Verpflichtung der Juden, ihr Vermögen anzumelden (S. 153ff.). Im Anschluss an das Pogrom vom 9./10. 11. 1938 wurde den Juden eine „Vermögensabgabe“ auferlegt, die durch die Finanzverwaltung eingezogen wurde und die über eine Milliarde RM erbrachte (S. 167). 1939 wurde für Juden eine gesonderte Steuerklasse geschaffen (S. 167ff.).

 

Unter der Überschrift „Die Ausplünderung jüdischer Emigranten“ (S. 185-242) geht Kuller ein auf die 1931 durch eine Notverordnung eingeführte Reichsfluchtsteuer, die eine Kapitalflucht aus Deutschland unterbinden sollte. Unter dem Nationalsozialismus diente diese Steuer als Instrument der Ausplünderung der Juden, deren Auswanderung erwünscht war, wodurch die Zielsetzung der Reichsfluchtsteuer in ihr Gegenteil verkehrt wurde (S. 190). Auch die 1931 eingeführte Devisenbewirtschaftung war ein indirektes Diskriminierungsinstrument, um Devisenverluste durch jüdische Auswanderer zu verhindern. Seit Ende 1936 waren Sicherungsanordnungen zulässig (S. 222f.), während Sicherungsbescheide der Reichsfluchtsteuerstellen bereits seit einem Erlass vom Mai 1934 möglich waren (S. 198). Transferabkommen für jüdische Immigranten mit der Jewish Agency for Palestine kamen mehreren zehntausend Emigranten aus Deutschland zugute (S. 235). S. 242-305 geht Kuller der Rolle der Finanzbehörden bei der „Arisierung“ im Konflikt zwischen „staatlichen Interessen, Gauleitungen und Privatwirtschaft“ nach. In diesem Zusammenhang folgt Kuller einem eingeschränkten Arisierungsbegriff, in dessen Mittelpunkt „gewerbliche Verdrängungsprozesse und die Übereignung von privatem Vermögen“ stehen (S. 247). Mit drei Verordnungen bzw. Anordnungen Görings zur Erfassung und Anmeldung jüdischen Vermögens (S. 264) wurde die Zwangsarisierung vorbereitet, die für alle Gewerbebetriebe nach Verordnungen vom November/Dezember 1938 durchzuführen war. In diesem Zusammenhang wurden Arisierungsgewinne entsprechend einer Verordnung vom 3. 12. 1938 durch sog. Ausgleichszahlungen von der Reichsfinanzverwaltung abgeschöpft, die insgesamt 200 Mio. RM erbrachten (S. 284f.). Besondere Abschnitte befassen sich mit dem „Arisierungsskandal“ in Franken (Einsetzung einer Prüfungskommission durch Göring) und mit den Vorgängen in Österreich, wo die Reichsfinanzverwaltung ihre Ansprüche nur zum Teil durchsetzen konnte.

 

Im umfangreichen Abschnitt über die staatliche Enteignung jüdischen Vermögens (S. 307-426) geht Kuller zunächst auf die Entwicklung des Enteignungsrechts bis zum Ende der Weimarer Republik ein, während der es zu einer Nationalisierung des Eigentumsschutzes und dessen Einschränkung durch „gemeinwohlorientierte und wirtschaftliche Interessen“ gekommen war. Inwieweit diese Tendenzen an die ersten Enteignungsgesetze der NS-Zeit vom 14. 7. 1933 (Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens und Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, S. 325ff.) anknüpften, hätte noch detaillierter begründet werden sollen (vgl. S. 324f.). Beide Gesetze legitimierten die Einziehung von Vermögen, wobei das Ausbürgerungsgesetz eine „viel explizitere antijüdische Ausrichtung“ aufwies als das Enteignungsgesetz (S. 339). Mit der Durchführung des Ausbürgerungsgesetzes wurde das Finanzamt Berlin-Moabit beauftragt. In weiteren Abschnitten befasst sich Kuller mit der Verwaltung und Verwertung der während des Pogroms vom November 1938 „sichergestellten“ Vermögenswerte (S. 347ff.), mit der Legalisierung der Raubaktionen in Österreich (S. 352ff.) und mit der Praxis der Vermögensverwertung in der Ostmark (S. 352ff., 366ff.), im Sudetengau sowie im Protektorat Böhmen und Mähren. Durch einen Erlass vom 29. 5. 1941 erhielt die Reichsfinanzverwaltung eine Schlüsselposition bei der Verwertung des Vermögens abgeschobener Juden (S. 379ff.). Durch die 11. VO vom 25. 11. 1941 zum Reichsbürgergesetz von 1935 (deren Zustandekommen Kuller ausführlich darstellt, S. 387ff.) wurde allen Juden, die sich im Ausland aufhielten, die Staatsbürgerschaft entzogen; ihr Vermögen verfiel unmittelbar dem Staat. Für Juden, deren Deportationsziele nicht im Ausland lagen, ergingen weiterhin individuelle Einziehungsverfügungen entsprechend den Gesetzen von 1933 (vgl. S. 398). Die Schlussabschnitte (S. 402ff.) befassen sich mit der Aktion 3 (Tarnbezeichnung für die Einziehung deportierter Juden nach der Verordnung vom November 1941) und den Konflikten zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und der Reichsfinanzverwaltung (S. 397ff., 402ff.).

 

In der präzisen „Zusammenfassung und Schlussbetrachtung“ (S. 427-443) stellt Kuller fest, dass die Finanzbeamten „im Rahmen ihres Ermessensspielraumes rassistische Kategorien zugrunde legten und systematisch zu Ungunsten von Juden entschieden“ (S. 441f.) und dass die „fiskalische Judenverfolgung“ nicht ausschließlich dem „Normenstaat“ im Sinne der Theorie Fränkels vom Doppelstaat zugeordnet werden könne. Mit ihrer „Vermittlungs- und Transformationsarbeit“ sei die Finanzverwaltung in „doppelter Hinsicht ein Tragpfeiler der nationalsozialistischen Herrschaft“ gewesen und habe „die Funktionsfähigkeit der rassistischen Diktatur“ stabilisiert (S. 443). Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personenregister (S. 476ff.). Hilfreich wäre auch ein Sachregister, zumindest aber ein Verzeichnis der wichtigsten, oft wiederholt behandelten Gesetze, Verordnungen und Anordnungen gewesen, deren Inhalt mitunter etwas ausführlicher hätte beschrieben werden sollen. Im Einzelnen wäre eine etwas detailliertere Erfassung der „Aktion 3“ besonders hinsichtlich des finanziellen Ertrags von Interesse gewesen. Hingewiesen sei darauf, dass Kuller auf einen Ausblick auf die Wiedergutmachung nach 1945 verzichtet hat, und darauf, dass im Zusammenhang mit den Devisengesetzen eine umfangreiche strafrechtliche Judikatur des Reichsgerichts existiert (vgl. Nachschlagewerk des Reichsgerichts zum Strafrecht, Bd. 4, hg. v. W. Schubert/H. P. Glöckner, Goldbach 1999, S. 588ff., 666ff.), deren Erforschung Aufgabe der Strafrechtsgeschichte wäre. Insgesamt liegt mit dem Werk Christiane Kullers eine annähernd vollständige Darstellung der Normengeschichte sowie der Verwaltungspraxis des Reichsfinanzministeriums und der ihr untergeordneten Finanzbehörden zur antisemitischen Finanzpolitik im nationalsozialistischen Deutschland vor, ein Werk, das auch für rechtsgeschichtliche Fragestellungen einen großen Gewinn darstellt.

 

Kiel

Werner Schubert