Der Erste Weltkrieg - Eine europäische Katastrophe, hg. v. Cabanes, Bruno/Duménil, Anne. Aus dem Französischen v. Lamerz-Beckschäfer, Birgit mit einem Vorwort v. Krumeich, Gerd. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. 480 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Der Erste Weltkrieg - Eine europäische Katastrophe, hg. v. Cabanes, Bruno/Duménil, Anne. Aus dem Französischen v. Lamerz-Beckschäfer, Birgit mit einem Vorwort v. Krumeich, Gerd. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. 480 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Diese Erkenntnis gilt in besonderem Maß für den Buchmarkt, der gehalten ist, den ökonomischen Wind prestigeträchtiger Jubiläen rechtzeitig zu nützen. 2014 jährt sich die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan), der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zum einhundertsten Mal. Schon im Vorfeld ist ein stetiges Ansteigen der Publikationstätigkeit spürbar, das sich sowohl in verschiedenen Neuerscheinungen als auch in Adaptierungen bereits bekannter Arbeiten äußert.
Das hier zur Besprechung vorliegende Werk der in Yale und München wirkenden französischen Historiker und Herausgeber Bruno Cabanes und Anne Duménil stellt in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit dar. Bereits die Aufmachung in Gestalt eines großformatigen Bildbandes erregt Aufsehen und unterscheidet diese Publikation von den bisher bekannten, einschlägigen Gesamtdarstellungen zum Ersten Weltkrieg; gedruckt auf qualitativ hochwertigem Glanzpapier, präsentiert sich jede Doppelseite als eine gleichwertige Einheit von Text und meist farbigem, bislang weitgehend unbekanntem Fotomaterial. Diese Kombination ermöglicht eine sinnliche Wahrnehmung der Weltkriegsthematik und eine Rekonstruktion des Zeitkolorits, wie sie im rein Verbalen kaum denkbar scheint.
Es mag nicht ganz überraschen, dass diese innovative Gestaltungsform nicht in Deutschland, sondern in Frankreich ihren Ausgang genommen hat, wo der Band bereits 2007 unter dem Originaltitel „Larousse de la Grande Guerre“ erschienen ist. Die dortige Geschichtsschreibung ist von einer langen kulturhistorischen, stark auf die Alltagsgeschichte fokussierenden Tradition geprägt, die die inhaltliche Konzeption dieser Darstellung mit dem zentralen Bild des Soldaten als des nicht professionellen Kämpfers, sondern des von der Ungunst der Verhältnisse in diese Rolle und ins Grauen gedrängten Zivilisten, entscheidend prägt. Die mit Masse aus Frankreich, daneben aber auch aus Deutschland, Großbritannien, Irland und den USA stammenden, nahezu sämtlich der Schule des „Historial de la Grande Guerre“ in Péronne (Somme) verbundenen männlichen und weiblichen Autoren der Beiträge treten ganz hinter diese zurück; kleingedruckt nur im Inhaltsverzeichnis erwähnt, werden sie nirgendwo näher vorgestellt. Wohl aber ist der Band mit einer Chronik, einer knappen Bibliographie und einem kombinierten Register der Orts- und Personennamen versehen.
Die inhaltliche Substanz des Werks verteilt sich auf insgesamt 68 Text-Bild-Einheiten, charakterisiert durch ein markantes Datum und ein damit verknüpftes Ereignis, einsetzend mit dem 18. Oktober 1912 („Die Balkankriege“) und endend 1927 – 1928 („Den Großen Krieg hinter sich lassen“). Das Ziel dieser dem Zeitlauf folgenden Schlaglichter besteht darin, im Interesse einer möglichst umfassenden Gesamtsicht der Kriegszeit den aus der klassischen Geschichtsschreibung bereits wohlbekannten, symbolträchtigen Schlüsselereignissen gleichwertig die von diesen geprägten, bisher oft vernachlässigten, vielfältigen Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen zur Seite zu stellen. Unter dem Titel „Drei Jahre unter der Fahne“ erfolgt zunächst ein Seitenblick auf die dem Krieg vorgestaffelte, französische und deutsche Gesetzgebung zur Verlängerung des Wehrdienstes. Militärische Großunternehmen wie die Schlacht von Tannenberg, das „Wunder an der Marne“ und das alliierte Desaster von Gallipoli, die Hölle von Verdun, die Somme-Schlacht, der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, Ypern, Caporetto oder die deutsche „Michael-Offensive“ vom März 1918 finden in der Folge selbstverständlich ebenso Beachtung wie das Attentat von Sarajevo, der Kriegseintritt der USA, die Russische Revolution, die 14 Punkte des US-Präsidenten Wilson, der Untergang der Donaumonarchie und des Deutschen Kaiserreiches sowie der Vertrag von Versailles. Kriegsverbrechen und ihre propagandistische Verwertung, die verheerende Wirkung neuartiger Waffensysteme und die mannigfaltigen Zerstörungen stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen zu deutschen Kriegsgräueln in Belgien, zum ersten Giftgaseinsatz, zur Versenkung der „Lusitania“, zum Völkermord an den Armeniern, zur standrechtlichen Erschießung der britischen Fluchthelferin Edith Cavell und zur Deportation der Frauen von Lille, zu der von den Deutschen beim Rückzug in Nordfrankreich 1917 angewandten Taktik der „verbrannten Erde“, zur Bombardierung Londons und zur gnadenlosen belgischen Jagd auf Kollaborateure Mitte November 1918. Mit dem Osteraufstand 1916 in Dublin, der Aufteilung des Nahen Ostens oder der Kapitulation Deutsch-Ostafrikas rücken Entwicklungen in gemeinhin weniger beachteten Regionen in den Blickpunkt des Interesses, die wegen ihrer langwierigen Folgewirkungen mit Recht Würdigung verdienen.
In diese unverzichtbaren Topoi der traditionellen Geschichtsschreibung sind jene Kapitel eingewoben, die sich im weitesten Sinn dem Alltag der betroffenen Bevölkerung, der Soldaten wie der Zivilisten, widmen. Sie umfassen die Lebens- und Arbeitsbedingungen ebenso wie den mentalen Bereich und kulturelle Äußerungen; die Verarbeitung des Kriegserlebnisses und Zeugnisse der Kriegsbegeisterung stehen neben solchen des Widerstands und der Friedenssehnsucht. Man liest über Hunger, Ersatz und Rationierung, über den Kostenfaktor Krieg und die industrielle Mobilmachung an der Heimatfront, die Jahrhundertpandemie der Spanischen Grippe und den dem Kriegsende folgenden Wiederaufbau in den verwüsteten Gebieten Westeuropas, vom Kriegsmanifest 93 namhafter deutscher Intellektueller im Oktober 1914, vom sozialistischen Zimmerwalder Manifest ein knappes Jahr später, von Meutereien an der Front und dem Streik der Pariser Näherinnen im Frühjahr 1917 sowie der Realisierung des Frauenwahlrechts mit dem Systemumbruch 1918 in Deutschland und Österreich. Ein Beitrag geht auf das spezifische kindliche Erleben des Krieges ein, weitere auf die Bedeutung der Religiosität, auf den Einsatz von Frauen in der russischen Streitmacht, die physischen und psychischen Versehrungen der Kriegsopfer, auf das Schicksal der Vermissten und der Heimatlosen. Viele Abschnitte thematisieren den großen Bereich kultureller Äußerungen im engeren Sinn. Die Bandbreite reicht von der französischen satirischen Wochenschrift Le Canard Enchaîné über den Dadaismus, den Jargon der Schützengräben, die Feldpostbriefe bis hin zu literarischen, filmischen und musealen Auseinandersetzungen mit dem Trauma Krieg und dem Gedenken der Veteranen. Ein wenig überrascht, dass ein Beitrag zur heute zunehmend stärker beachteten materiellen Gedenkkultur in Form der zahlreichen Kriegerdenkmäler fehlt.
Wo viel Licht ist, mag auch etwas Schatten sein, und diesen hat der deutsche Historiker und Co-Herausgeber der „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“ (2003), Gerd Krumeich, in seinem Vorwort auf diplomatische Weise angedeutet. Denn nicht alle inhaltlichen Aussagen des Bandes stehen so als communis opinio bereits außer Streit. Es wäre „Widerspruch vonnöten“, wenn die erwähnte Verschleppung der Frauen von Lille 1916 „als ein Unternehmen gebrandmarkt wird, das auf die Demütigung der Frauen gezielt habe und bereits eine Vorform der zutiefst unmenschlichen Behandlung der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg gewesen sei“. Ebenso bleibe das angesichts der während der deutschen Rückzugsbewegungen 1917 in Nordfrankreich angerichteten Zerstörungen vorgebrachte, zeitgenössische deutsche Argument, „dass Engländer, Amerikaner und vor allem Franzosen die Landschaften der Picardie, des Artois und Flanderns mindestens so sehr in Schutt und Asche gelegt hätten wie die Deutschen, […] immer noch vollständig ungehört“ (S. 8f.). Trotz seines internationalen Zuschnitts ist der Band darüber hinaus insgesamt durch eine starke Konzentration auf Westeuropa gekennzeichnet und vermittelt im Wesentlichen den französischen Blick auf das Weltkriegsgeschehen; darin liegt für den mitteleuropäischen Nutzer aber auch der Vorteil der Bereicherung durch ein sein Selbstbild korrigierendes Fremdbild. Mit den marginalen Schwächen des Buches sollte er somit, sofern er diese als Anregung zur Diskussion begreift, gut leben können und sich die Freude an dieser nun in deutscher Sprache vorliegenden, zum ganz überwiegenden Teil (auch sprachlich) sehr gelungenen, bunten historischen Collage keineswegs nehmen lassen.
Kapfenberg Werner Augustinovic