Original Ergebnisseite.

Bremm, Klaus-Jürgen, Propaganda im Ersten Weltkrieg. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. 188 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

Bremm, Klaus-Jürgen, Propaganda im Ersten Weltkrieg. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. 188 S., Abb.

 

Das angehende 20. Jahrhundert gilt gemeinhin als Geburtsstunde des modernen Krieges. Dieses Etikett zielt in hohem Ausmaß auf den erstmaligen Einsatz von Waffensystemen erheblicher Vernichtungskapazität ab, beschränkt sich allerdings nicht ausschließlich auf diesen Aspekt. Die zunehmende Totalität der Kriegsführung, die neben dem Soldaten im Feld immer stärker die Zivilbevölkerung einbezog, ließ die gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Inland wie im Ausland als notwendiges, im Hinblick auf den Kampfwillen und Durchhaltewillen unverzichtbares Element der Führung hervortreten. Auf den Umstand, welches Ausmaß und welche Bedeutung die Propaganda als weitgehend neue Errungenschaft im Ersten Weltkrieg angenommen hat, hat der deutsche Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm nunmehr sein Augenmerk gerichtet. Sein Buch „unternimmt erstmals den Versuch, in einer integrierenden Betrachtung die Propagandabemühungen der vier wichtigsten Kriegsparteien Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Amerika zu vergleichen und in ihren Wechselwirkungen zu rekonstruieren“. Das Besondere dieser Propaganda bestehe dabei nicht so sehr im zu erwartenden „bipolare(n) Bild von bewusst agierenden Manipulatoren und unkritisch rezipierender Bevölkerung“, sondern in dem Eindruck, „dass Propagandisten wie auch ihre Zielgruppen die verbreiteten Botschaften von der moralischen oder geistigen Weltmission der eigenen Nation einträchtig geteilt haben“, gleichsam als eine „Selbstartikulation unterschiedlicher politischer Systeme, die dazu neigten, ihre zuvor tolerierten Unterschiede nun plötzlich als Gegensätze von endzeitlichem Rang zu deuten“ (S. 11f.).

 

In einem kurzen historischen Rückblick verweist der Verfasser zunächst auf die von der Diffamierung des Gegners getragene politische Agitation im Altertum (Athen, Rom) und im Mittelalter (Erster Kreuzzug), bevor er auf die aus der Gegenreformation hervorgehende Geburt des Propagandabegriffs während der Französischen Revolution und den Versuch der Kontrolle dieser mit politischer Sprengkraft versehenen Neuerung durch Metternichs vormärzliche Karlsbader Beschlüsse zu sprechen kommt. In Großbritannien wurde während des 19. Jahrhunderts der russische Zar Nikolaus I. als Konkurrent im Orient und möglicher Bedroher Indiens zum barbarischen Weltschurken stilisiert, eine Rolle, die später auf Deutschland und seinen Kaiser übertragen werden sollte.

 

Beim Kriegsausbruch Anfang August 1914 glaubte, so Klaus-Jürgen Bremm, das bürgerliche Publikum in Deutschland „nur zu gern“ die „Botschaft von der Einkreisung Deutschlands und solidarisierte sich spontan mit der Reichsleitung, elektrisiert von einem emotionalen Wechselbad aus Schauder, Pflichteifer und aufwallenden Brüderlichkeitsgefühlen“ (S. 22), eine gezielte propagandistische Beeinflussung durch amtliche Stellen hatte „gar nicht einmal stattfinden müssen“ (S. 34). Diese „Ideen von 1914“ hatten allerdings über die ersten militärischen Erfolge hinaus keinen Bestand, „in ihrer Außenwirkung auf die Öffentlichkeit in den neutralen Ländern und insbesondere in den Vereinigten Staaten versagten sie weitgehend“. Auch sei es „ein Paradox, dass sich die deutschen Geisteswissenschaftler, die ihren ehemaligen Kollegen im Ausland so engagiert mit dem Anspruch einer höheren deutschen Kulturmission in der Welt entgegen getreten waren, zugleich so wenig Verständnis für das Denken und die Sichtweisen anderer, geistig tatsächlich nahestehender Nationen aufbrachten“ (S. 35). Die deutschen Völkerrechtsverletzungen in Belgien gaben vor allem der britischen Boulevardpresse in Form des Genres der German atrocities Nahrung, das selbst vor dreistesten Lügen, wie den berühmten abgehackten Händen oder der angeblichen Verwertung von Leichen in deutschen Fabriken, nicht zurückschrecken sollte, ein „Kartenhaus“, das entgegen ärgsten Befürchtungen der britischen Propagandaverantwortlichen „erst nach dem Krieg zusammen(brach)“ (S. 54). Demgegenüber agierte die deutsche Seite reichlich ungeschickt: Während der Gegner Frankreich in der deutschen Propaganda ohnehin kaum berücksichtigt wurde, entfaltete die von Werner Sombart ins Leben gerufene Verunglimpfung der Briten als Anführer einer „globale(n) Verschwörung von Krämern und Spekulanten“ (S. 27) damals kaum Wirkungskraft. Auch der formalrechtlich nicht angreifbare, aber nichtsdestotrotz von den Alliierten propagandistisch weidlich ausgeschlachtete „Fall Cavell“, die Erschießung einer britischen Krankenschwester und Fluchthelferin wegen Spionage durch die deutschen Militärbehörden in Belgien im Oktober 1915, offenbare, wie wenig Verständnis diese „für die Psychologie moderner Massengesellschaften besaßen, deren zentrales Element bis heute die bedingungslose Empathie mit Opfern jedweder Art darstellt“. Ein ähnlich gelagerter, aber von den Franzosen zu verantwortender Fall, wurde, als rechtskonform wahrgenommen, im Gegenzug von der deutschen Presse nicht einmal rezipiert, wohl aus dem „vollkommenen Mangel an Fantasie […] zu erkennen, wie nicht Rechtspositionen, sondern Geschichten, Gefühle und Meinungen die meist dürftig informierte Öffentlichkeit in allen Ländern stark beeinflussten“ (S. 49f.). So ließen sich - erstaunlicher Weise und ganz im Gegensatz zum rassistisch anmutenden Vorgehen der alliierten Propaganda gegenüber Deutschland - auch „in der deutschen Propaganda im Ersten Weltkrieg kaum Versuche zu einer echten Hassrhetorik gegenüber den Feindmächten und ihren Truppen ausmachen“ (S. 142), und „die meisten Darstellungen des Gegners auf deutschen Plakaten oder Postkarten hatten […] eher satirischen Charakter, sie zeigten entlarvte Lügner oder kleine Gauner, doch selten Monster“ (S. 158).

 

Differenziert fällt das Urteil des Verfassers über die deutsche Auslandspropaganda aus. Diese habe unter anderem versucht, die islamische Welt gegen die europäischen Kolonialherren und die Bolschewiki gegen Russland zu instrumentalisieren und konnte „gerade in Amerika […] bei den politikfernen Bevölkerungskreisen, bei Arbeitern, Farmern und kleinen Angestellten durchaus Erfolge erzielen“ (S. 76). Zwar sei „der deutsche Ansatz einer direkten Massenansprache […] der zukunftsweisendere“ gegenüber den anfänglichen britischen Bemühungen um die ausländischen Eliten gewesen, doch „das fortgesetzte Scheitern der politischen Führung in Berlin, Gegnern wie Neutralen mit einer eigenen Idee von einer Nachkriegsordnung zu begegnen, brachte sie dauerhaft auf die Verliererstraße“ (S. 78).

 

Der Blick auf die Propaganda der Alliierten im Ersten Weltkrieg mache „eindrucksvoll“ klar, „dass eine kriegführende moderne Massendemokratie, anders als der Wilhelminische Beamtenstaat, einen unvergleichlich höheren Druck bis hin zum Terror auf seine Bürger auszuüben vermochte, und wie im Falle Amerikas auch nicht davor zurückschreckte“ (S. 115). Dort wurden mit dem Kriegseintritt der USA am 6. April 1917 durch das Committee for Public Information (CPI) unter dem Zeitungsmann und Wilson-Intimus George Creel die antideutschen Affekte angeheizt, „Gleichgültige […] belehrt, Abseitsstehende isoliert und angeblich feindlich gesonnene Einwanderer verfolgt“ (S. 113), bisweilen von den aufgebrachten Massen gar gelyncht. Creel folgte in der Manipulation der Massen dem Vorbild der britischen Propaganda, die sich 1916 unter dem neuen Premierminister David Lloyd George von dem an die Eliten gerichteten Konzept Charles Mastermans und seines Wellington-House zu verabschieden begann und mit Max Aitkens (Lord Beaverbrook) Informationsministerium und Alfred Harmsworths (Lord Northcliffe) Crew-House, dem neuen Department für Feindpropaganda, auf eine von professionellen Pressemanagern geleitete, aggressive Propagandaflut setzte, die sich „an ein Massenpublikum (richtete), dessen Opferbereitschaft und Durchhaltevermögen auf beiden Seiten der Frontlinien immer kriegsentscheidender geworden waren“ (S. 67). In Frankreich kam es in Bezug auf den deutschen Gegner ebenfalls zu „einem ‚Diskurs des Hasses auf den Feind‘, dem die deutsche Propaganda verständnislos gegenüberstand“ (S. 142).

 

Darüber hinaus setzt sich der Band auch mit den Institutionen und Maßnahmen der politischen Zensur in den jeweiligen Ländern, der Haltung der Presse und dem unterschiedlichen Umgang mit den Kriegskorrespondenten auseinander. Ein Vergleich der französischen Union sacrée mit dem deutschen Burgfrieden kommt zur Erkenntnis, dass in Frankreich mehr als alle amtliche Propaganda „das wachsende Vertrauen in die überraschende Fähigkeit der republikanischen Regierung, den Krieg mit seinen Krisen immer wieder zu meistern, die kompromisslose Haltung der meisten Franzosen (förderte). […] Gerade im Vergleich zum föderalen deutschen Regierungssystem agierten die bisher als schlampig verschrienen Institutionen der Republik im Krieg mit erstaunlicher Effektivität. Den Vertretern von Linken, Katholiken und Monarchisten blieb dies keineswegs verborgen und ihre Einsicht bildete die Grundlage eines neuen Patriotismus. […] Einer bei aller notorischen Gegnerschaft seit langem an mühsame Kompromisse gewöhnten französischen Gesellschaft fiel es fraglos leichter, sich wenigstens vorübergehend zusammenzuraufen als den oft an ihren Maximalpositionen haftenden politischen Fraktionen im Kaiserreich“ (S. 146). Bald nach der deutschen Niederlage war dort auch „die so bereitwillig akzeptierte Mär vom zwar sieglosen aber doch ungeschlagenen Feldheer kaum noch aufrecht zu erhalten“ (S. 161) und mündete in die mit der „Dolchstoß-Legende“ einhergehenden politischen Verwerfungen der Weimarer Republik.

 

Klaus-Jürgen Bremm kommt zum Schluss, dass die Propaganda im Ersten Weltkrieg, die zumeist peinlich bemüht war, sich nicht offen als solche erkennen zu geben, „ein klassischer Selbstläufer“ gewesen sei, „ihre Lügen waren tatsächlich geliebte Lügen“. Sie wurden erst als solche benannt, „als man nach Kriegsende wie aus einem bizarren Traum wieder zu sich gekommen war und jetzt nur noch Scham und Reue über sein Tun empfand“ (S. 171). Die Propaganda konnte zwar „bestehende Stimmungen verstärken oder festigen“, doch sei - auch das überaus bemerkenswert - gemeinhin „ein Einfluss auf die großen politischen Entscheidungen nirgendwo erkennbar“ (S. 169). Seine Arbeit liefert somit auf knappen 170 Druckseiten nicht nur eine vergleichende Analyse der Propagandainstitutionen und Propagandamaßnahmen der wichtigsten kriegführenden Mächte mit Ausnahme Österreich-Ungarns und Russlands im Ersten Weltkrieg, sondern auch entsprechende Thesen zur jeweiligen Wirkmächtigkeit der propagandistischen Bemühungen im gesellschaftlichen Kontext. Neben einigen kleineren Fehlern muss allerdings die Datierung des Münchener Dolchstoß-Prozesses in jedem Fall berichtigt werden (1925 statt fälschlich „Oktober 1915“, S. 163). Ergänzt wird der Text durch 147 im Anhang versammelte, auf Literaturbelege beschränkte Anmerkungen, eine Zeittafel, ein gemischtes Register und ein vielleicht zu bescheiden ausgefallenes Literaturverzeichnis, das etwa Klaus Kirchners monumentale Flugblatt-Edition als grundlegendes Quellenwerk ignoriert. Uneingeschränktes Lob verdienen die im Farbdruck wiedergegebenen, treffsicheren Illustrationen, welche die inhaltlichen Aussagen des Bandes vorzüglich unterstützen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic