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Iggers, Georg G(erson)/Wang, Q(ingija) Edward/Mukherjee, Supriya, Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute, aus dem Englischen v. Hornfeck, Susanne/Ott, Andrea. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013. 416 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Iggers, Georg G(erson)/Wang, Q(ingija) Edward/Mukherjee, Supriya, Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute, aus dem Englischen v. Hornfeck, Susanne/Ott, Andrea. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013. 416 S.

 

Die englische Originalausgabe des vorliegenden Werks, „A Global History of Modern Historiography“ (2008), in Kooperation mit seinen beiden Schülern Qingjia Edward Wang (für Ostasien) und Supriya Mukherjee (für Indien) verfasst von dem in Hamburg geborenen, nach seiner Emigration in den USA wirkenden und in Kürze das 87. Lebensjahr vollendenden Nestor der Geschichtstheorie, Georg Gerson Iggers, erschien vor sechs Jahren und liegt nun, überarbeitet, aktualisiert und erweitert, auch in deutscher Sprache vor. Das unter anderem von Jürgen Kocka wohlwollend geförderte Projekt will „die Entwicklungen des historischen Denkens und Schreibens in einem breiteren intellektuellen, sozialen und ökonomischen Kontext vom 18. Jahrhundert bis heute untersuchen“ und sich dabei „vor allem auf die Interaktion zwischen dem Westen (gemeint sind das westliche Europa und Nordamerika, W. A.) und nichtwestlichen Ländern (konzentrieren)“ (S. 28). Die Verfasser: „Unser Buch möchte das Vorurteil von der Überlegenheit westlichen historischen Denkens ausräumen, indem wir aufzeigen, dass in all den von uns behandelten Kulturen weit zurückreichende Traditionen historischen Denkens und Schreibens existierten“. Sich ausdrücklich gegen jene postmoderne Fundamentalkritik abgrenzend, die „die Möglichkeit objektiver geschichtlicher Forschung bestreitet, weil die Vergangenheit keine Basis in der objektiven Realität habe, sondern ein Konstrukt einer nichtreferentiellen Sprache sei“, interpretieren sie auch die Geschichte der Historiografie als „permanenten Dialog, der nicht nur eine einzelne Story erzählt, sondern unterschiedliche, nicht selten in sich widersprüchliche Interpretationen anbietet“, die „unser Bild von der Vergangenheit (bereichern), aber zugleich Gegenstand kritischer Überprüfung hinsichtlich ihrer Faktizität und logischen Konsistenz nach den Standards, auf die sich die Wissenschaftsgemeinde geeinigt hat, (sind)“ (S. 30f.). Strukturiert wird die Untersuchung durch die Konzepte der Globalisierung und der Modernisierung.

 

Die aus dem Zeitalter der Entdeckungen hervorgehende „spezifische Form der westlich dominierten Globalisierung“ (S. 19) unterteilen die Verfasser dabei in drei Phasen, die sich jeweils durch Veränderungen auch im historischen Denken auszeichnen: In der Zeit der frühen überseeischen Entdeckungen zeigten sich in der Geschichtsschreibung noch „mehr Beispiele für eine globale Weltsicht“, während man sich im zweiten Abschnitt, der Phase der imperialen Expansion nach 1800, der nichtwestlichen Welt bereits „unter den Vorzeichen europäischer Dominanz“ näherte und das historische Blickfeld erheblich verengte. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei „die Vorstellung von der Überlegenheit der westlichen Kultur zwar aufgegeben und die Gleichrangigkeit anderer Kulturen anerkannt worden, gleichzeitig verstärkte sich aber die ökonomische Vorherrschaft des Westens und zunehmend auch der kapitalistischen Volkswirtschaften Ostasiens, wodurch die ehemaligen Kolonien erneut in Abhängigkeit gerieten“ (S. 22f.).

 

Die Modernisierung als Bruch mit überkommenen religiösen, ökonomischen und politischen Denkmustern könne trotz aller mittlerweile am Begriff haftenden Kritik ebenfalls „ein nützliches Hilfsmittel bei der Erforschung der Geschichte der Geschichtsschreibung in der westlichen und nichtwestlichen Welt sein“ (S. 25). So trat die beispielsweise die „westliche Idee vom Primat des Nationalstaats in der ostasiatischen und muslimischen Geschichtsschreibung an die Stelle der Dynastien als diejenige Institution, die nun ihren historischen Narrativen Struktur verlieh“, und die radikale Kritik an wissenschaftlicher Rationalität und der Progression in der Geschichte könne man „in bestimmten Elementen sowohl mit der Postmoderne im Westen als auch mit dem Postkolonialismus in Indien und Lateinamerika in Verbindung bringen“ (S. 27f.).

 

Wie ausladend der Ansatz der Verfasser ausfällt, deutet sich bereits im Umfang des Inhaltsverzeichnisses an, das immerhin sechs Seiten benötigt, um die in acht Kapitel unterteilte, annähernd 350 Druckseiten starke Darstellung (hinzu tritt ein Endnotenapparat von weiteren 40 Seiten) differenziert aufzuschließen. Am Anfang steht ein Blick auf die historiografischen Traditionen der Welt und ihre Spezifika im 18. Jahrhundert (Westen, Vorderer Orient, Indien, Ost- und Südostasien), gefolgt von den Veränderungen mit dem Eintritt in die vom Durchbruch des Nationalismus und der Etablierung der Historie als professionelle wissenschaftliche Disziplin geprägte Moderne. Aufstieg und Blüte der Historiografie Rankes und des deutschen Historismus, ihr Einfluss in West und Ost, ihre Krise in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowie die Neuausrichtung des historischen Denkens im Westen und die einigende Attraktivität nationalistischer Geschichtsschreibung im Osten sind Gegenstand der weiteren Kapitel, bevor mit Sozialgeschichte, Postmoderne, Postkolonialismus, Marxismus und Islamismus Strömungen der Nachkriegszeit und des späten 20. Jahrhunderts global in den Blickpunkt des Interesses rücken. Ein kritischer Rückblick auf die Jahre seit dem Ende des Kalten Krieges beschließt den Band.

 

Die weitreichende Diskussion um die Globalisierung als „neue Meistererzählung“ verlange „nach einer Historiografie, die mit den Bedingungen, unter denen wir heute leben und die sich in vieler Hinsicht von denen in der Zeit vor 1989 unterscheiden, umgehen kann“ (S. 338). In diesem Zusammenhang erachten die Verfasser die folgenden fünf Tendenzen für maßgeblich: „(1) das Fortdauern jener kulturellen und linguistischen Wende, die die ‚Neue Kulturgeschichte‘ hervorbrachte; (2) die fortschreitende Ausbreitung einer feministischen beziehungsweise Gender-orientierten Geschichtsforschung; (3) die neue Allianz zwischen historischer Forschung und Sozialwissenschaften im Lichte der postmodernen Kritik; (4) die Herausforderung, die die Erforschung des Postkolonialismus für die nationale Historiografie […] darstellt; (5) der Aufstieg einer Weltgeschichte beziehungsweise einer globalen Geschichte, und, unterschieden von dieser, einer Geschichte der Globalisierung“ (S. 29f.). Was den Marxismus angehe, sei nach 1990 zwar vom „endgültigen Niedergang des Marxismus-Leninismus als historischer Doktrin“ auszugehen, doch leiste er nach Eric J. Hobsbawm „immer noch einen wichtigen Beitrag zur kritischen Analyse des problematischen Charakters des heutigen Kapitalismus“ (S. 353f.).

 

So eröffnet dieses lehrreiche, intellektuell fordernde Werk Zugänge zur jeweiligen Eigenart der historiografischen Entwicklungen in zahlreichen Regionen der Erde, darunter auch Lateinamerika, Subsahara-Afrika und Vietnam. Je nach Art und Ausmaß des Austausches mit westlichen Einflüssen entstanden in Auseinandersetzung mit lokalen Traditionsmustern jeweils eigenständige Interpretationsmodelle des historischen Prozesses, die ihrerseits wieder auf die allgemeine Entwicklung der Geschichtstheorie zurückwirkten. Das bedeutet natürlich nicht, dass der auf langfristige politische, wirtschaftliche und kulturelle Einflussnahmen zurückzuführende, weltweite Einfluss des „westlichen“ Denkens, das nicht zuletzt die „Spielregeln“ der historischen Disziplin prägt, ausgeblendet würde, haben doch jene indigenen Wissenschaftler, die sich um alternative, an regionale Traditionen anknüpfende Konzepte bemüht haben, ihrerseits nicht selten ihre akademische Ausbildung in Westeuropa oder den Vereinigten Staaten absolviert und damit auch die Denkkategorien rezipiert. Korrigiert wird jedenfalls das Bild einer von West nach Ost verlaufenden Einbahnstraße, das der Komplexität der individuell gestalteten Entwicklungsvorgänge keineswegs gerecht würde. Auch der fortschreitende Globalisierungsprozess generiere mitnichten, wie häufig angenommen, eine undifferenzierte globale Homogenisierung, sondern gegenläufige Dynamiken, die auch für die Geschichtsschreibung nicht ohne Folgen bleiben und deren Interdependenzen die historische Forschung vor neue Herausforderungen stellen werden. Die dem Band angeschlossenen Lektüreempfehlungen verzeichnen in einer Auswahl in europäischen Sprachen verfasste Werke zur Theorie der Historiografie, Globalgeschichten der Historiografie, Geschichten der westlichen Historiografie, Arbeiten zu Historikern und zur Historiografie in Europa und Amerika sowie im Nichtwesten (islamische Welt, China, Japan, Korea, Vietnam, Indien, Lateinamerika, Afrika).

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic