Lovrić-Pernak, Kristina, Morale internationale und humanité im Völkerrecht des späten 19. Jahrhunderts. Bedeutung und Funktion in Staatenpraxis und Wissenschaft (= Studien zur Geschichte des Völkerrechts 30). Nomos, Baden-Baden 2013. XII, 187 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Lovrić-Pernak, Kristina, Morale internationale und humanité im Völkerrecht des späten 19. Jahrhunderts. Bedeutung und Funktion in Staatenpraxis und Wissenschaft (= Studien zur Geschichte des Völkerrechts 30). Nomos, Baden-Baden 2013. XII, 187 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
In der vorliegenden Arbeit, die von der juristischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main im Jahre 2012 als Dissertation angenommen wurde, untersucht die Verfasserin die zwischenstaatliche Praxis und die völkerrechtliche Lehre der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts daraufhin, welche Bedeutung den Begriffen „morale internationale“ und „humanité“ im Völkerrecht zugekommen ist. Den Ausgangspunkt bildet die von Carl Bergbohm 1876 publizierte These, in der zeitgenössischen Völkerrechtslehre werde ein „Pseudo-Völkerrecht“ dargestellt, weil sich die Autoren nicht auf die Erläuterung der zwischenstaatlichen, völkerrechtlich relevanten Praxis beschränkten, sondern auch moralisch fundierte Prinzipien für völkerrechtlich bedeutsam erklärten, die in der Staatenpraxis nicht angewendet würden und daher im geltenden Völkerrecht nicht enthalten seien.
Die Autorin analysiert in der „Einführung“ die Bedeutungsvarianten und den Kontext der Begriffe „morale internationale“ und „humanité“ in der Völkerrechtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts (S. 5ff.). Sie gelangt zu dem Resultat, dass Moral und Humanität zwar als Rechtsquellen ausgeschlossen waren, ihnen aber die Funktion einer „Grundlage, einer gemeinsamen Basis der Staaten“ zugewiesen wurde (S. 31).
Im Folgenden untersucht die Verfasserin an Hand von Beispielen, ob die Begriffe „morale internationale“ und „humanité“ nicht nur in der völkerrechtlichen Theorie, sondern auch in der Staatenpraxis als völkerrechtlich bedeutsam anerkannt wurden. Die Autorin behandelt zunächst die Kongo-Konferenz (Berlin 1884/1885). Die teilnehmenden, überwiegend europäischen Staaten hatten sich zum Ziel gesetzt, die Ausbeutung der Naturschätze des Kongo (zum Beispiel Kupfer, Kautschuk, Elfenbein) zu regeln, für freien Handel und freie Schifffahrt zu sorgen und einen „Erziehungsauftrag“ gegenüber der einheimischen Bevölkerung im Sinne einer „mission civilisatrice“ wahrzunehmen, und das heißt vor allem: die christliche Mission zu fördern, Erziehungseinrichtungen zu schaffen und den Sklavenhandel zu beseitigen. Die Ergebnisse der Konferenz wurden in einem völkerrechtlichen Vertrag, der „Generalakte“ (26. 2. 1885), formuliert. Bestimmungen, die der Förderung der Einheimischen und dem Schutz vor dem Sklavenhandel dienen sollten, waren in Art. 6 und 9 enthalten. Bald nach Abschluss der Konferenz erklärte sich der belgische König Leopold II., der zuvor in Hunderten von „Verträgen“ Land von den einheimischen Stammesführern (die den Inhalt der Verträge nicht verstanden) hatte kaufen lassen, zum Eigentümer des Kongo. Auf einer weiteren Konferenz (Brüssel 1889/1890) wurden zusätzliche Maßnahmen zur Abschaffung des Sklavenhandels beschlossen.
Für die einheimische Bevölkerung hatten die Berliner Konferenz und das Verhalten des belgischen Königs katastrophale Folgen. Die vom König konzessionierten Wirtschaftsunternehmen führten Zwangsarbeit ein und verhängten schon bei kleinsten Vergehen unmenschliche Strafen. So kam es zu Unruhen und schließlich zu einem Völkermord, dem mehr als zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. Einige Teilnehmerstaaten der Kongo-Konferenz, insbesondere die britische Regierung, erhoben Protest. Betont wurde die Verantwortung der europäischen Mächte. Leopold II. setzte daraufhin eine internationale Untersuchungskommission ein, deren Bericht (1905) einer Anklage des Kongo-Regimes gleichkam. Ein Ergebnis des Skandals um den Kongo war, dass der belgische Staat den Kongo annektierte. So wurde aus einer „Privat-Kolonie“ eine „offizielle Kolonie“ (S. 116). Behandelt werden von der Autorin auch die Diskussionen in der völkerrechtlichen Literatur, in denen vor allem der Begriff der Humanitätsintervention von Bedeutung ist. Darunter wurde nicht, wie heute, eine gewaltsame, von einem einzelnen Staat oder einer Staatengruppe durchgeführte Intervention zum Schutz der Menschenrechte verstanden, sondern jede als humanitär deklarierte, auch nicht gewaltsame Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“ eines Staates.
Schließlich widmet sich die Autorin der völkerrechtlichen Diskussion um den Begriff des bellum iustum. Das ius in bello, also das humanitäre Völkerrecht (um es modern auszudrücken), wird von ihr (um den Stoff zu begrenzen) nicht behandelt. Auch befasst sie sich mit der Einführung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.
Das Fazit der Untersuchung lautet: Die von Bergbohm vertretene These, zwischen Völkerrecht und Moral sei strikt zu trennen, andernfalls werde ein „Pseudo-Völkerrecht“ dargestellt, habe sich nicht bestätigt, im Gegenteil: „Moralität und Humanität haben einen (…) festen Platz in der Normativität des Völkerrechts des späten 19. Jahrhunderts“ (S. 155). Naturrechtliche Inhalte fänden sich „explizit in den Verträgen“ (S. 155); „morale internationale und humanité beschreiben in unterschiedlichen Facetten und Funktionen einen unverzichtbaren wie auch herausfordernden Teil des ‚echten’ Völkerrechts im späten 19. Jahrhundert“ (S. 157). Abgeschlossen wird der Band durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis (S. 159ff.) sowie zwei Anhänge, die Auszüge aus der Generalakte zur Kongo-Konferenz (1885) und der Generalakte zur Brüsseler Anti-Sklaverei-Konferenz (1890) enthalten (S. 179ff.). Ein Abkürzungsverzeichnis fehlt leider.
Was die Hauptthese der Arbeit betrifft, „morale internationale“ und „humanité“ seien in der völkerrechtlich relevanten Staatenpraxis bedeutsam gewesen, so ist Folgendes kritisch zu anzumerken: Die untersuchten Verträge enthalten zwar Bestimmungen, die erklärtermaßen dem Wohl und dem Schutz der indigenen Bevölkerung im Kongo dienten. Nicht sicher ist aber, ob diese Vorschriften humanitär motiviert waren. Es lassen sich wohl Äußerungen von Staatenvertretern nachweisen, die eine solche Motivation zum Ausdruck bringen. Im Zentrum stand jedoch die „zivilisatorische Mission“, womit in erster Linie die ökonomische Erschließung und Ausbeutung des Landes gemeint war, in zweiter Linie der Versuch, die indigene Bevölkerung nach den Bedürfnissen der europäischen Staaten und der Wirtschaftsunternehmen zu formen. Die den Bestimmungen zu Grunde liegende Motivation ist somit nicht eindeutig humanitär. Die Staaten, die gegen die im Kongo begangenen Verbrechen vorgehen wollten, begründeten ihre Intervention ebenfalls nicht humanitär (vgl. allerdings die Äußerung eines britischen Politikers S. 110), sondern mit der Verletzung der Generalakte von 1885, also mit einem Vertragsbruch, und sprachen daher auch nicht von einer „Humanitäts-Intervention“.
Weiter ist zu fragen, ob die Begriffe „morale internationale“ und „humanité“ in den untersuchten, völkerrechtlichen Verträgen explizit enthalten sind. Dies ist nicht der Fall: Lediglich in einem Kommissionsbericht über die Ausarbeitung des Art. 6 des Entwurfs zur Generalakte von 1885 wird von „intérêts moraux“ gesprochen (S. 56). Auch der Terminus „humanité“ ist in keinem Vertrag zu finden. In der Generalakte der Brüsseler Konferenz von 1890 ist nur von einem „but purement humanitaire“ die Rede (Art. III). Die Generalakte von 1885 und die Generalakte von 1890 enthalten vielmehr den Begriff der „civilisation“ (jeweils Absatz 2 der Präambel). Die Autorin stellt dazu fest, die Begriffe der „Humanität und Moralität“ seien „mit der Idee der mission civilisatrice untrennbar verbunden“ gewesen (S. 63). In den Abkommen wird diese Verbindung jedoch nicht explizit hergestellt. In der Generalakte von 1885 heißt es vielmehr: „développement du commerce et de la civilisation“ (Präambel, Absatz 2). Der Handel wird hier nicht nur der Reihenfolge, sondern auch dem Rang nach vor die „zivilisatorische Mission“ gestellt. In der Generalakte von 1890 heißt es: „les bienfaits de la paix et de la civilisation“ (Präambel, Absatz 2). Auch hier fehlt also eine ausdrückliche Verbindung zwischen „Zivilisation“ und „Humanität“. Ein Beispiel dafür, wie in einem völkerrechtlichen Vertrag „Zivilisation“ und „Humanität“ verknüpft wurden, ist die sog. Martens’sche Klausel, die im II. Haager Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, vom 29.7.1899 enthalten ist. Darin ist von „Grundsätzen des Völkerrechts“ die Rede, „wie sie sich aus den unter gesitteten Staaten geltenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens herausgebildet haben“ (Absatz 9 der Präambel). Hier werden die Begriffe der „nations civilisées“ (der „gesitteten Staaten“) und der „Menschlichkeit“ ausdrücklich miteinander verbunden. Die Verfasserin geht auf Martens’sche Klausel allerdings nicht ein, weil sie das humanitäre Völkerrecht nicht behandelt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die von der Autorin vorgelegte Untersuchung ist informativ im Hinblick auf die Kongo-Problematik. Aufschlussreich sind auch ihre detaillierten Darlegungen zur Entwicklung der Völkerrechtslehre. Was die Hauptthese der Arbeit betrifft, ist das Ergebnis jedoch nicht so eindeutig, wie die Verfasserin annimmt.
Heidelberg Hans-Michael Empell