Volk, Rainer, Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanjuk-Prozess (= Zeitgeschichte im Gespräch 14). Oldenbourg, München 2012. 140 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Volk, Rainer, Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanjuk-Prozess (= Zeitgeschichte im Gespräch 14). Oldenbourg, München 2012. 140 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Sachkundigen Schätzungen zufolge waren es mindestens 150.000, vielleicht auch bedeutend mehr mit Masse jüdische Menschen, die im Zeitraum von Frühjahr 1942 bis Herbst 1943 der Mordmaschinerie des in Polen gelegenen Vernichtungslagers Sobibór zum Opfer fielen. Die deutschen Betreiber bedienten sich in der Ausführung dieser Verbrechen der Hilfsdienste sogenannter „Wachmänner“ vielfach ukrainischer Nationalität, die, unter bis heute im Einzelfall nicht restlos geklärten Umständen (Freiwilligkeit bis Zwangsverpflichtung) rekrutiert, im SS-Ausbildungslager Trawniki auf ihren Dienst vorbereitet und nach ihrer Indienststellung als „Hilfswillige“ (Hiwi) oder eben „Trawniki“ entsprechend zum Einsatz gebracht wurden. Ihnen soll auch John (Iwan) Demjanjuk, Jahrgang 1920, angehört haben, dem aufgrund dieser Annahme vom 30. November 2009 bis zum 12. Mai 2011 vor der 1. Strafkammer des Landgerichts München II unter dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen der Prozess gemacht wurde; das Verfahren endete nach 93 Verhandlungstagen mit der Verurteilung des Angeklagten zu fünf Jahren Freiheitsentzug, doch verstarb dieser bereits am 17. März 2012, noch bevor es zu einer Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) mit einem rechtskräftigen Urteil kommen konnte.
Rainer Volk hat als Hörfunkredakteur des Bayerischen Rundfunks (BR) den Prozess während der gesamten Verhandlungsdauer begleitet und seinen Verlauf in Form eines sogenannten Logbuchs protokolliert. Diese Notizen bilden, neben Angelika Benz‘ ausführlicherem, ebenfalls auf Mitschriften gründendem Prozessbericht „Der Henkersknecht“ (2011) und der Rezeption in verschiedenen gehobenen Printmedien, vornehmlich der „Süddeutschen Zeitung“, Der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und des „Spiegel“, die Materialgrundlage seiner Darstellung. Diese beschränkt sich nicht darauf, wie der Untertitel etwa nahelegt, ausschließlich das Verhalten des Medienapparates zu beleuchten, sondern präsentiert persönliche Impressionen ebenso wie kritische Anmerkungen zu Ablauf und Inhalt dieses ungewöhnlichen Verfahrens.
Denn ungewöhnlich war bereits die gesamte Vorgeschichte des Prozesses, mit einem erstinstanzlichen Todesurteil in Israel und dann einem Freispruch, nachdem sich später erweisen sollte, dass Demjanjuk nicht jener sadistische „Iwan, der Schreckliche“ in Majdanek war, für den man ihn fälschlicher Weise gehalten hatte; der Umstand, dass die deutsche Justiz die Auslieferung des nach seiner Ausbürgerung aus den USA staatenlosen Greises wegen seiner mutmaßlichen Anwesenheit in Sobibór begehrte und erstmalig gegen einen Tatbeteiligten des Holocaust, der nicht deutscher Staatsbürger war, Anklage erhob; schließlich eine dem Ludwigsburger Ermittlungsrichter Thomas Walther zugeschriebene, neuartige juristische Interpretation, die entgegen bisherigem Usus den Einzeltatnachweis als Voraussetzung für den Tatbestand der „Beihilfe zum Mord“ verwarf und am ausschließlich der massenhaften Tötung von Juden gewidmeten Zweck des Vernichtungslagers ansetzte, wodurch sich eine Mittäterschaft bereits durch den kleinsten Beitrag zu dessen Funktionieren, also auch schon durch die bloße Anwesenheit vor Ort als Angehöriger der Trawniki-Einheit, ergebe.
Diese und weitere Umstände erregten tatsächlich bereits vor Beginn der Hauptverhandlung das Interesse der Medien: „Bis zum Frühjahr 2009 […] (war) die Leserschaft großer deutscher Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine relativ gut informiert“ über Demjanjuks „Lebensgeschichte […] von seiner Kindheit bis einschließlich der Prozesse in Israel und der Rückkehr in die USA“, über den „Standpunkt seiner Verteidigung“ und auch darüber, „dass das Münchner Verfahren keineswegs nur als Fortsetzung früherer NSG-Verfahren zu sehen war, sondern dass seine historischen und juristischen Besonderheiten auch nicht absehbare Konsequenzen für die mündliche Verhandlung haben konnten“; die - zunächst verzögerte - Ankunft des Beschuldigten in München im Mai 2009 sollte dann ein „erste(s) Highlight der Berichterstattung“ (S. 38f.) bilden. Als Binsenweisheit mag gelten, dass es, wie der Verfasser bilanziert, „immer dann viele Berichte (gab), wenn etwas passierte“; so sind ein zweiter Höhepunkt Mitte Oktober bis Dezember 2009, in den Wochen vor und nach Beginn der Hauptverhandlung (hier fand das eigentliche „mediale Event“ statt, „ähnlich umfangreich und logistisch aufwändig wie sonst nur Großereignisse der internationalen Politik oder Sportwettbewerbe von weltweitem Interesse“), und ein dritter in der letzten Prozessphase von Ende März bis Mai 2011 zu konstatieren. 16 Monate hingegen, paradoxer Weise gerade im essentiellen Stadium der Beweisaufnahme, verdrängten andere konkurrierende Themen das Verfahren weitgehend aus der medialen Wahrnehmung, vornehmlich, „weil das Geschehen eines Dokumentenprozesses für die Öffentlichkeit wenig Spannung hatte und schwierig zu schildern war“ (S. 121f.).
So macht diese Studie wieder einmal deutlich, dass die Arbeit der Medien kaum von einem soliden objektiven Erkenntnisinteresse, aber ganz entscheidend von den Gesetzen des Marktes geleitet wird. Selbst das Personal für die Prozessberichterstattung wurde, Rainer Volk zufolge, „weniger nach dem Kriterium der historischen oder juristischen Kompetenz ausgewählt, sondern vielmehr nach seiner Formattauglichkeit“, es musste „gegen den Zeitdruck, den das jeweilige Medium ausübt, resistent sein und bei den elektronischen Medien live-sicher arbeiten können“ (S. 123). Die Plädoyers der Verteidiger fanden in der Berichterstattung nur unzureichende Beachtung, weil Journalisten „weite Teile der Hauptverhandlung nicht verfolgt hatten“ und daher „die Feinheiten des Falles nicht genügend (kannten), um Anspielungen und Bemerkungen […] in den richtigen Kontext setzen zu können“. Der streitbare Wahlverteidiger Demjanjuks, Ulrich Busch, erschwerte den Reportern durch seine „Anti-Medienstrategie“ die Arbeit zusätzlich, „indem er niemandem auch nur Teile seines Vortrags zur Verfügung stellte“ (S. 109). Dass der Prozess selbst das Entertainment-Genre erreichte, „als die ARD in der spätabendlichen Show mit Harald Schmidt die ‚Dancing Demjanjuks‘ präsentierte“ (S. 123), ist zum einen grotesk, auf der anderen Seite aber auch ein Indikator für die allgemeine Bekanntheit der Thematik.
Diese illustrativen Ausführungen, betreffend die Funktionsweise des Systemkomplexes Medien, sind als Hauptertrag der vorliegenden Publikation zum Münchener Demjanjuk-Prozess „zwischen Zeitgeschichte, Journalismus und Rechtsprechung“ zu verbuchen. Das bedeutet nicht, dass der Verfasser, der seine vielfältigen Überlegungen im abschließenden Kapitel in Form von sechs Thesen (S. 121ff.) zusammenzufassen und zu präzisieren bemüht ist, die wesentlichen Merkmale des Verfahrens an sich ausblendet; so streicht er am Beispiel der für die juristische Entscheidungsfindung unbefriedigenden, weil Unsicherheiten einräumenden Darlegungen des historischen Gutachters, Dieter Pohl, im Kapitel „Juristen fragen, Historiker antworten nicht“ heraus, dass „die Justiz […] auf die Geschichtswissenschaft angewiesen (war), um Jahrzehnte zurückliegendes Strafgeschehen aufzuklären“, aber „keine klaren Antworten (erhielt), weil der Kenntnisstand aufgrund der Aktenlage nicht den Erwartungen entsprechen konnte“ (S. 81), betont das Problem der Kammer, „anders als früher nicht mehr über belastbare Zeugen zum Sachverhalt zu verfügen“, weshalb sie bemüht sein musste, „immer intensiver den Gehalt schriftlicher Zeugnisse auszuloten und weitere Dokumente als Beweismittel zuzulassen“ (S. 84) und ortet in den Plädoyers der Nebenkläger „selbst unter qualifizierten Juristen populäre – fast archaische – Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit“ (S. 103). Der Buchtitel „Das letzte Urteil“ hat programmatischen Hintergrund, vermutet doch Rainer Volk aus guten - vor allem biologischen - Gründen das Demjanjuk-Verfahren „an der Schwelle zwischen justizieller Aufarbeitung und Historisierung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen“ […]: „Zeigte der Prozess die zeitlichen Grenzen des ersten Ansatzes, so zeichnet sich die Perspektive der Historiker und der interessierten Öffentlichkeit dadurch aus, dass sie zeitlich offen ist“ (S. 138). Details zum Ablauf des Verfahrens insgesamt werden in Angelika Benz‘ erwähntem „Henkersknecht“ ausführlicher behandelt.
Kapfenberg Werner Augustinovic