Stelzl-Marx, Barbara, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innenansicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955 (= Kriegsfolgen-Forschung 6). Böhlau, Wien 2012. 867 S. Abb. Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.
Stelzl-Marx, Barbara, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955 (= Kriegsfolgen-Forschung 6). Böhlau, Wien 2012. 865 S., Abb., Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.
Seit 1995 besteht die Reihe Kriegsfolgen-Forschung des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung an den Standorten Graz, Wien und Klagenfurt, deren mittlerweile sechster Band nun erschienen ist. Sämtliche Publikationen beschäftigen sich vorrangig mit den historischen Verflechtungen zwischen Österreich und der sowjetischen Besatzungsmacht während der Jahre des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegsdekade; thematisiert wurden bislang die Kriegsgefangenschaft und die Internierung in der Sowjetunion 1941-1956 (Stefan Karner 1995), das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im Dritten Reich und ihre Repatriierung (Pavel Polian 2001), die Kriegsgefangenenlager in der „Ostmark“ (Hubert Speckner 2003), Gefangennahme, Lagerleben und Rückkehr der Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges (Günter Bischof, Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx 2009), das Los verschleppter und erschossener Österreicher in Moskau 1950-1953 (Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx 2009) sowie nunmehr, ebenfalls von Barbara Stelzl-Marx verfasst und hervorgegangen aus ihrer 2010 an der Universität Graz approbierten Habilitationsschrift, die Innensicht der sowjetischen Besatzung in Österreich 1945-1955.
Zu diesem Zweck hat die Verfasserin eine beeindruckende Zahl an Quellen ausgewertet, die sie im Anhang minutiös auflistet; sie schöpft vor allem aus den umfangreichen schriftlichen Beständen mehrerer Moskauer Archive, aber über Korrespondenzen und Oral-History-Interviews auch aus Zeitzeugenberichten ebenso wie aus Zeitungsartikeln und Filmen. Ihre Arbeit gliedert sich in drei große Blöcke, deren erster auf 270 Seiten die sogenannte „Makroebene“, also die politischen Voraussetzungen für das Besatzungsregime, das Kriegsende in Österreich und Struktur wie Funktion des sowjetischen Besatzungsapparats, darlegt. Letzteres geschieht jeweils für sich auf den Ebenen der Zentrale, der Diplomatie, des Militärs, des Geheimdienstes, der Verwaltung und der Wirtschaft. Es folgen 320 Druckseiten, die sich als zweiter Teil der Studie der „Mikroebene“, also der sowjetischen Lebenswelt in Österreich, widmen. Dabei richtet sich der Blick zunächst auf den hier besonders interessierenden Themenbereich Erziehung/Disziplinierung/Kontrolle der vom „Kulturschock“ der Erfahrung des kapitalistischen Westens gefährdeten Rotarmisten, auf Straftaten und ihre Verfolgung. Die gefürchteten gewaltsamen sexuellen Übergriffe kommen in der Folge ebenso zur Sprache wie die diffizile Problematik freiwilliger Beziehungen zwischen Besatzern und einheimischen Frauen und die Schicksale der sogenannten „Russenkinder“. Dazu gesellen sich Ausführungen zu Alltag, Freizeit und Feierritualen der in Österreich stationierten Sowjetsoldaten. Der dritte Abschnitt der Arbeit, 130 Seiten stark, beschäftigt sich mit der Wahrnehmung der sowjetischen Besatzung in bewegten und unbewegten Bildern, enthält eine Analyse der Armeezeitung der Zentralen Gruppe der Streitkräfte als Besatzungsmedium und geht den institutionalisierten, mündlichen und schriftlichen Zeugnissen der Erinnerung nach. Im Gesamten ergibt sich ein komplexes Panorama der russischen Besatzungsherrschaft in Österreich, wie es in dieser Form, nämlich aus dem Blickwinkel der „Fremden“, Neuland ist.
Allein durch ihre große Zahl stellten „die sowjetischen Besatzungssoldaten in Ostösterreich ‚die Fremden‘ schlechthin“ (S. 12) dar: 400.000 Rotarmisten sollen im Zuge des Kriegsendes nach Österreich gekommen sein, zehn Jahre später war immerhin noch ein Zehntel dieser Summe – etwaige Angehörige von Offizieren nicht mitgerechnet – hier stationiert. Nur in seltenen Fällen waren diese Besatzer von der verängstigten einheimischen Bevölkerung innerlich als „Befreier“ begrüßt worden, die nach differenzierten politischen Vorgaben „erbarmungslos mit den deutschen Unterjochern abrechne(n)“, hingegen das „friedliche österreichische Volk […] verschonen“ sollten, denn „zwischen Theorie und Praxis (bestand) […] nicht selten eine erhebliche Diskrepanz“ (S. 90). Der Kreml war sich dessen wohl bewusst und sah deshalb „Straftaten sowjetischer Armeeangehöriger im Ausland zu Recht in einem politischen Kontext“, stand doch „nicht nur das Ansehen der Armee, sondern die Autorität der Sowjetunion“ insgesamt „auf dem Spiel“ (S. 353). Wegen ihrer institutionellen, normengeschichtlichen und prozessualen Dimensionen sei in der Folge die gegen Einheimische wie Armeeangehörige gerichtete Strafverfolgung aus der Vielzahl der Aspekte des Besatzungsalltags exemplarisch herausgehoben.
Das „Hauptinstrument der sowjetischen Strafpolitik in der Ostzone Österreichs“ bildeten die zunächst dem Volkskommissariat für Verteidigung (NKO), ab Mai 1946 dem Ministerium für Staatssicherheit (MGB) zugeordneten Organe der militärischen Spionageabwehr „Smerš“; die „Verwaltung für Spionageabwehr der CGV [Zentrale Gruppe der Streitkräfte] nahm […] Verhaftungen vor, führte die Voruntersuchungen bis zur Erstellung der Anklageschrift durch und übergab dann die abgeschlossenen Verfahren dem Militärtribunal der CGV in Baden. Dieses lief intern unter der Bezeichnung ‚Militärtribunal des Truppenteils 28990‘“ (S. 353f.). Als Rechtsgrundlagen dienten das Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RFSFR) und mehrere Ukaze des Obersten Sowjets der UdSSR. Die Verfasserin konstatiert, dass das Badener Tribunal ab 1950 „etwa zehnmal so viele Österreicher und Ausländer zum Tod durch Erschießen (verurteilte) wie sowjetische Bürger“; war es bei Ersteren vornehmlich der Vorwurf der „antisowjetischen Spionage“, bildeten bei Letzteren diverse Auslegungen von „Vaterlandsverrat“ den Urteilsgrund. Die im Mai 1947 vom Präsidium des Obersten Sowjets abgeschaffte Todesstrafe (25 Jahre Haft galten forthin als Höchststrafe) war von diesem im Jänner 1950 per Dekret erneut eingeführt worden; die für kleinere Straftaten zuständigen Militärtribunale erster Instanz beim Stab der jeweiligen Armee waren allerdings nicht berechtigt, diese zu verhängen.
Zu den Formen registrierter und zu bekämpfender „amoralischer Erscheinungen“ in der Armee zählten Diebstahl, Übergriffe auf die Bevölkerung, Suizid (man warf den Betroffenen persönlichen Kleinmut und moralische Labilität vor) und – in der überwiegenden Masse der Fälle – Trunksucht, die, wenn überhaupt, mit „mehreren Tagen Arrest“ (S. 397) geahndet wurde. Obwohl Diebstahl wegen seiner übergeordneten politischen Bedeutung als Staatsverbrechen klassifiziert war, trat das „Beutefieber“ auch „auf höchster Ebene in großem Maßstab auf“ (S. 379); je nach Sachlage sind Sanktionen von einfacher Disziplinarstrafe bis zu zehn Jahren Internierungslager belegt. Das Strafausmaß für Vergewaltigung – „während des Krieges selten geahndet“ - war „nicht höher als bei Desertion“; die Militärtribunale verhängten gewöhnlich fünf Jahre Internierungslager, sofern man den Tätern „nicht gänzlich verzieh“, aktenkundige Vergewaltigungsversuche zogen „meist nur eine Disziplinarstrafe nach sich“ (S. 426). Die quantitative Dimension dieses Verbrechens lässt sich nur ungefähr erahnen; es sollen insgesamt um die 270.000 Übergriffe in Ostösterreich gewesen sein (S. 411). Während Stalin, auf das Problem aufmerksam gemacht, mit zynisch-verharmlosender Bagatellisierung reagierte, von Soldaten sprach, die „glauben, dass sie Helden sind, denen alles erlaubt ist“, die „auch etwas eigene Initiative“ haben dürften und bei denen man verstehen müsse, dass sie „an einer Frau […] Freude“ hätten oder „eine Kleinigkeit mitgehen“ ließen, versucht man in Russland bis heute „sich öffentlich dem Thema zu entziehen und es dadurch gleichsam ungeschehen zu machen, wie im naiven Spiel von Kindern, die, wenn sie sich selbst die Augen zuhalten, meinen, sie wären nicht nur unsichtbar, sondern gar nicht da“ (S. 429). Bei der sich ab Sommer 1945 wieder häufenden Fahnenflucht, einem Delikt, an das sich Folgeverbrechen bis hin zum Mord reihen konnten, wurde in gravierenden Fällen sogar die Todesstrafe verhängt, während unerlaubtes Entfernen von der Truppe und sogenanntes Bummeln in aller Regel wesentlich mildere Maßnahmen nach sich zogen. Meist aus Langeweile „verübten die Delinquenten während des unerlaubten Fernbleibens […] weitere Vergehen, besonders das vorhin erwähnte ‚amoralische Verhalten‘ der Trunksucht. Manche betranken sich bis zur Bewusstlosigkeit, was mit zehn Tagen strengem Arrest bestraft wurde. Wenn hingegen in dieser Zeit ein Kino besucht wurde, betrug die Strafe fünf Tage strengen Arrests“ (S. 435). Barbara Stelzl-Marx zitiert zu allen angeführten Delikten einzelne, den Berichten unterschiedlicher Kommandeure der Truppen des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKVD) entnommene Fallbeispiele, wobei „der NKVD – Hüter von Ordnung und Disziplin – selbst kein leuchtendes Vorbild“ (S. 435) war, traten die erwähnten Disziplinlosigkeiten und Straftaten, was bei Berücksichtigung allgemeinpsychologischer Konstanten wenig überrascht, nicht selten in den eigenen Reihen auf. Man kann auf dieser Basis mit gutem Gewissen festhalten, dass der „Trias aus Kontrolle – Schulung – Bestrafung“ (S. 772), auf die man von Seiten der politischen Führung setzte, im Großen und Ganzen keine durchschlagende Wirkung bei der Bekämpfung der Missstände beschieden war.
128 kleinformatige Schwarzweiß-Abbildungen und acht Tabellen steigern zusätzlich die hohe Anschaulichkeit des erfrischend lebendig geschriebenen, durch Quellen- und Lebensnähe abseits theorielastiger Spekulationen überzeugenden Bandes, dessen vorbildliche Aufschließung (unter anderem über ein ausführliches Abkürzungsverzeichnis und über getrennte Register für Personen, Orte und Sachen) kaum einen Wunsch offen lassen sollte. Ohne die Sprachkenntnisse der Verfasserin, die mit dieser Schrift ihre Eignung für die höhere akademische Lehre zweifelsfrei dartun kann, wäre die breite Einbeziehung russischsprachiger Unterlagen in jedweder Form - und damit auch die differenzierte, unser Verständnis der Nachkriegszeit bis zur vollen staatlichen Souveränität Österreichs 1955 wesentlich bereichernde Rekonstruktion des Besatzungsalltags aus (weitgehend bekannter) österreichischer und neu erforschter sowjetrussischer Perspektive - jedenfalls nicht möglich gewesen. Mit der Studie hat sie überdies eine Referenzfolie für eine anzuregende komparatistische Betrachtung der Verhältnisse in Österreich und in den deutschen Ostgebieten geschaffen, wie sie gelegentlich (so S. 410f.) bereits kurz anklingt - eine reizvolle Aufgabe für die Zukunft.
Kapfenberg Werner Augustinovic