NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, hg. v. Halbrainer, Heimo/Lamprecht, Gerald/Mindler, Ursula. Böhlau, Wien 2012. 541 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, hg. v. Halbrainer, Heimo/Lamprecht, Gerald/Mindler, Ursula. Böhlau, Wien 2012. 541 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die wenigen auswärtigen Beiträger (allen voran Wolfgang Benz, „Papst“ der deutschen Antisemitismus-Forschung, und die beiden Wiener Zeithistoriker Wolfgang Neugebauer und Kurt Bauer) mögen es verzeihen, wenn hier von einem Grazer „Hausprojekt“ die Rede sein soll: Denn 22 der 25 Autorinnen und Autoren des zu besprechenden Sammelbandes wirken in Graz oder haben dort gewirkt, die meisten an verschiedenen Instituten der Karl-Franzens-Universität oder am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. 18 Verfasser gehören der engeren historischen Disziplin an und demonstrieren klar den Primat dieses Faches; darüber hinaus haben Vertreter der Rechts- und Kunstgeschichte, der Soziologie, der Theologie sowie der Kultur- und Literaturwissenschaft ihr Wissen eingebracht.
Obwohl – wie die drei Herausgeber eingangs bekennen – „eine systematische Erforschung der NS-Zeit in der Steiermark noch aussteht“, mag sich der vorliegende Band als „Zwischenergebnis“ auf dem Weg dorthin verstanden wissen und „einen Ist-Zustand der Forschung zur NS-Zeit in der Steiermark“ dokumentieren (S. 13f.). Und in der Tat hat das Buch einiges zu bieten, was über die mittlerweile in die Jahre gekommene Habilitationsschrift Stefan Karners („Die Steiermark im Dritten Reich 1938-1945“) aus 1985 hinausweist. Noch keinen konkreten Bezug zur Steiermark nimmt Wolfgang Benz in seinem Impulsartikel, der die allgemeine Entwicklung der Forschung zur NS-Zeit skizzenhaft darlegt und dem Problem der „Täterkinder“ besondere Aufmerksamkeit widmet. Sodann folgen, gegliedert in Vorgeschichte, NS-Herrschaft, Gesellschaft/Kultur/Wissenschaft, NS-Terror und „Nachzeit“, die eigentlichen Regionalstudien.
Vorauszuschicken ist, dass der geographische Raum, der hier in Betrachtung genommen wird, sich nicht genau mit den Grenzen des heutigen österreichischen Bundeslandes Steiermark deckt, sondern darüber hinausreicht: Zunächst verfügte Hitler mit Wirkung vom 22. Mai 1938 die Aufteilung des ehemaligen Landes Österreich in sieben Gaue; das Burgenland verschwand damit als selbständige Einheit, sein südlicher Teil (die Verwaltungsbezirke Güssing, Jennersdorf und Oberwart) wurde dem Gau Steiermark zugeschlagen. Ursula Mindler hält dazu in ihrem Beitrag mit Blick auf zwei prominente Opfergruppen fest: „Als das Südburgenland im Herbst 1938 dem Gau Steiermark eingegliedert wurde, betraf dies die - physisch nicht mehr präsente [weil durch gezielte Maßnahmen des illegalen burgenländischen Gauleiters Portschy schon mit Masse vertriebene, W. A.] – jüdische Bevölkerung ‚nur‘ mehr durch die Abwicklung von ‚Arisierungen‘. Die Verfolgung der ‚Zigeuner‘ radikalisierte sich hingegen und reichte von der Verpflichtung zur Zwangsarbeit über die Internierung in steirischen Lagern bis hin zu ihrer Deportation und Vernichtung“ (S. 139). Mit dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Jugoslawien wurde im April 1941 die 1918 von Österreich getrennte historische (heute slowenische) Untersteiermark, erweitert um die Save-Gebiete und sechs oberkrainische Gemeinden und verringert um die Region Prekmurje, dem Gauleiter der Steiermark als Chef der eingesetzten deutschen Zivilverwaltung unterstellt, und damit zwar niemals staatsrechtlich, aber de facto herrschaftstechnisch dem steirischen Gau kooptiert.
Auf die Frage, wer im Reichsgau Steiermark und in der Untersteiermark das Sagen hatte, findet der Band eine eindeutige Antwort: Mit dem gebürtigen Salzburger und promovierten Juristen Si(e)gfried Uiberreither (1908-1984) stand, wie Martin Moll zeigen kann, ein ungeachtet seiner Jugend selbstbewusster Mann in den im Gauleiter vereinten Funktionen des Reichsstatthalters und des Chefs der Gauselbstverwaltung an der Spitze, der „einen autoritären Stil“ an den Tag legte und neben dem „andere Machtträger“, wie Gauleiter-Stellvertreter Tobias Portschy (promovierter Jurist), Gauhauptmann Armin Dadieu (habilitierter Naturwissenschaftler) oder Regierungspräsident Otto Müller-Haccius (promovierter Jurist), „ keine Chance (hatten), eigenständiges Profil zu entwickeln“ (S. 97). Unter seiner Führung war „die im Reichsgau Steiermark amtierende NS-Elite von einem selbst im Vergleich außergewöhnlichen, ideologisch gespeisten Radikalismus geprägt“, sodass „das sieben Jahre lang von diesen Männern regierte Land erst im Mai 1945, buchstäblich am letzten Tag der NS-Herrschaft, aus deren Griff befreit wurde“ (S. 115). Selbst gegenüber den oft als allmächtig wahrgenommenen Dienststellen der SS ließ der SA-Mann Uiberreither, den mit Heinrich Himmler ein wertschätzendes Verhältnis verband und der von diesem im Frühjahr 1941 sogar zu dessen Vertreter als „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ für die Untersteiermark ernannt wurde, nie Zweifel an seiner Federführung aufkommen. Monika Stromberger beschäftigt sich mit dem Rechtssystem vor Ort, das von Uiberreither als Chef der Zivilverwaltung durch schrittweise Einführung von Rechtsvorschriften im Verordnungsweg unter Beteiligung von „Juristen aus Graz wie Gerhard Amlacher, Walter Swoboda oder Walter Schweiger“ (S. 154) definiert wurde. Im Bereich der Strafgerichtsbarkeit war der Beauftragte des Chefs der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD) beim Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark, SS-Standartenführer Otto Lurker, „ein bedeutender Akteur in Hinblick auf die durchgeführten Deportationen, den Umgang mit der Bevölkerung und mit dem Rechtssystem, das zwischen der Übernahme von Regelungen des Deutschen Reiches, speziellen Einrichtungen im angegliederten Gebiet, der Aktion und Reaktion gegen/auf den Widerstand und grundsätzlich zwischen Reichssicherheit und Zivilverwaltung viele gravierende Unklarheiten schuf“, die „einen bedeutenden Handlungsspielraum“ offen ließen, „den Lurker auch nützte“ (S. 158).
Wenig spezifisch Steirisches geht aus dem ersten Beitrag hervor, der sich um die Ausleuchtung der Vorgeschichte der NS-Herrschaft in der Steiermark bemüht: Helmut Konrad umreißt gemeinhin bekannte gesamtstaatliche Rahmenbedingungen, widmet sich vornehmlich den Februarkämpfen 1934 zwischen Austrofaschismus und Sozialdemokratie und mahnt wiederholt die Rehabilitierung der sozialdemokratischen Justizopfer „der rechtswidrigen Terrorurteile eines grausamen Unrechtsregimes“ (S. 41) an. Deutlich näher am Thema ist Kurt Bauer mit seiner Schilderung der „Causa Franz Ebner“, eines wegen eines im Zuge des nationalsozialistischen Juliputsches von 1934 im obersteirischen St. Gallen begangenen Gendarmenmordes verurteilten und hingerichteten NS-Aktivisten, dessen Fall nach dem „Anschluss“ propagandistisch weidlich ausgeschlachtet werden und eine Legende schaffen sollte, die das lokale historische Gedächtnis bis heute prägt. Heidrun Zettelbauer setzt sich, angelehnt an Johanna Gehmachers Milieubegriff, mit Antisemitismus und Deutschnationalismus am Beispiel deutschnationaler Frauenvereine und der frauenspezifischen Organisationen innerhalb gemischtgeschlechtlicher Vereine auseinander und stellt fest, „dass es zentrale Proponentinnen deutschnationaler Politik in Graz und in der Steiermark gab, die spätestens seit den 1930er-Jahren eine Affinität zum Nationalsozialismus entwickelt hatten. […] Juden/Jüdinnen nahmen in den diskursiven Konstruktionen vor allem die Funktion des ‚Anderen‘ der konstruierten ‚deutschen Volksgemeinschaft‘ ein und verkörperten […] eine innere Differenzkategorie nationaler Einschluss- und Ausschlusspraktiken“ (S. 84f.).
Mit dem Schicksal der jüdischen Menschen im Gau Steiermark befassen sich, neben dem bereits erwähnten Beitrag Ursula Mindlers, Gerald Lamprecht, der ihre Verfolgung zwischen 1938 und 1940 untersucht (in diesem kurzen Zeitraum reduzierte sich ihre Zahl von ursprünglich rund 2040 Personen auf null), und Eleonore Lappin-Eppel, die die im Angesicht der vorrückenden Roten Armee im Frühjahr 1945 angeordneten, gemeinhin als Todesmärsche bekannten Evakuierungsbewegungen ungarisch-jüdischer Schanzarbeiter zu Fuß aus Westungarn ins Konzentrationslager Mauthausen nachzeichnet, die im durch den britischen „Eisenerz-Prozess“ gut dokumentierten Massaker am Präbichl nur einen traurigen Höhepunkt fanden. Für die Opfergruppe der „Zigeuner“ – ebenfalls Thema bei Mindler – können Michael Teichmann und Roman Urbaner anhand ihrer Untersuchungen zum Arbeitslager Kobenz und zum Sammellager Dietersdorf zeigen, dass „die Phasen der Verfolgung […] nicht zur Gänze einer fortschreitenden Eskalierungslogik (folgten), sondern […] immer wieder geprägt (waren) von Übergangslösungen, Verzögerungen und nicht realisierten Plänen“. Angaben bei Stefan Karner, bei Fürstenfeld sei es zu Massenerschießungen gekommen, hätten sich im Übrigen „nicht bestätigt“, und in Kobenz ergab sich sogar der „überraschende Befund vergleichsweise erträglicher Lagerbedingungen“, was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass bei insgesamt um die 9500 ermordeten österreichischen Roma „die Wahrscheinlichkeit, die NS-Herrschaft zu überleben, […] bei nur rund zehn Prozent (lag)“ (S. 382f.). Die einzelnen Glieder des in der Steiermark installierten Terrorregimes - individuelle Willkür, der instrumentalisierte Justizapparat, die Geheime Staatspolizei (Gestapo), der Sicherheitsdienst (SD) der SS und das System der Konzentrationslager – stellt Heimo Halbrainer vor, den Einsatz der über 102000 zivilen Zwangsarbeiter, die sowohl die Eisen- und Stahlindustrie der Mur-Mürz-Furche als auch die für die Ernährung der steirischen Bevölkerung essentielle Landwirtschaft aufrechterhielten, Peter Ruggenthaler. Dass diese, ebenso wie die Kriegsgefangenen, aber auch „ein erhebliches Widerstandspotential darstellten“, betont Wolfgang Neugebauer, der, unter anderem gestützt auf verschiedene Diagramme und Tabellen, zum interessanten Schluss kommt, dass „die hier skizzierten Widerstandsgruppen und -handlungen […] ein beachtliches Ausmaß (hatten) und […] die Steiermark - neben Wien – als die Hochburg des österreichischen Widerstandes aus(weisen)“ (S. 316), ein Befund, der einige Fragen aufwirft und „gewiss noch detaillierterer Arbeiten und tieferer Analysen (bedarf)“ (S. 315f.).
Eine größere Zahl von Beiträgen beschäftigt sich darüber hinaus mit den mit der NS-Herrschaft einhergehenden gesellschaftlichen und institutionellen Transformationsprozessen im steirischen Raum und mit der Erinnerungskultur. Auf dem Prüfstand stehen die Hochschulen, deren geschichtliche Entwicklung Alois Kernbauer darlegt, während der Soziologe Christian Fleck kritisch die Peinlichkeit anmerkt, dass „die Asymmetrie zwischen der Gültigkeit von Zertifikaten aus dunkler Zeit und der Benachteiligung jener, die von diesem System an der Fertigstellung ihrer vor dem März 1938 begonnenen Studien gehindert wurden, […] andernorts zu symbolischen Wiedergutmachungen geführt (hat), von den steirischen Hochschulen kann derartiges nicht berichtet werden“ (S. 497). Mehr noch: Man falle „ab einer gewissen Statushöhe […] in Österreich wegen der eigenen Vergangenheit nicht mehr aus dem System hinaus, sondern im schlimmsten Fall anderswo hin“ (S. 500). Für den Literaturbetrieb beklagen Uwe Baur und Karin Gradwohl-Schlacher, dass nach 1945 „die Politik in der Steiermark die Etablierung einer katholisch-nationalen Kultur mit dem Ziel (verfolgte), eine regionale, d. h. bewusst ‚steirische‘ Identität zu schaffen, die das national(sozialistische) Element im Sinne von ‚heimattreu‘ uminterpretierte“, während bemühte Initiativen es „bis heute nicht geschafft“ hätten, „die Existenz jener ‚anderen‘ Steiermark [gemeint sind regimekritische Stimmen aus dem Widerstand, W. A.] im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern“ (S. 216f.). Die uneinheitliche Haltung des katholischen Klerus zwischen Kollaboration und Widerstand referiert Michaela Sohn-Kronthaler.
Mit dem Kriegsende und dem Ende der NS-Herrschaft in der Steiermark ergab sich wie überall auch hier die Notwendigkeit zur Aufarbeitung der hinterlassenen Wüstungen: Entnazifizierung und die Aburteilung von Kriegsverbrechern (Martin F. Polaschek), Opferfürsorge (Andrea Strutz) und die Restitution unrechtmäßig enteigneter Kulturgüter (Karin Leitner-Ruhe) waren ins Werk zu setzende Aufgaben, denen man sich mit wechselnder Ambition und differenziertem Ertrag stellte. Obwohl in den ersten Nachkriegsjahren „die Volksgerichte eine im internationalen Vergleich durchaus beachtliche Leistung (erbrachten), insbesondere bei der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechern“, sei insgesamt „die Entnazifizierung in Österreich […] als nur teilweise bis nicht gelungen zu beurteilen“ (S. 427). Oder, wie es Dieter A. Binder in seinem pointierten Beitrag zur „Epoche der Epochenverschlepper“ ausdrückt: „Die in der revisionistischen Literatur gerne beschworene ‚Umerziehung‘ hatte eben nicht stattgefunden“ (S. 490). Auch die regionale Vollzugspraxis der Opferfürsorge in der Steiermark im Untersuchungszeitraum von 1945 bis 1964 entsprach „viel zu wenig den Grundsätzen einer sozialen Rechtsanwendung“ (S. 454). Positiv akzentuiert erscheint die Rückgabe der Kunstschätze, wurden doch „unmittelbar in der Nachkriegszeit ca. 95% der Objekte vom Landesmuseum Joanneum restituiert“ (S. 470). Mit zwei dem Erinnern gewidmeten Studien kommt der Band zum Abschluss: dem unterschiedlichen Erinnern der Geschlechter, das Karin M. Schmidlechner unter anderem „auf ihr unterschiedlich strukturiertes Wahrnehmungsvermögen“ zurückführt, falle doch auf, „dass es eher die Frauen waren, die Schwierigkeiten damit hatten, die einzelnen Phasen ihres Lebens in einen konsistenten Zusammenhang zu stellen, während Männer die Diskontinuitäten in ihrem Lebenslauf akzeptierten, indem sie sich diese mithilfe kollektiver Verarbeitungsmuster versteh- und erklärbar machten“ (S. 533), sowie der Gedächtniskultur im öffentlichen Raum, expliziert von Heidemarie Uhl an den Gedenkstätten der steirischen Landeshauptstadt Graz.
Resümiert man diesen an Fehlern erfreulich armen Sammelband, so wird man festhalten dürfen, dass er zum einen ein wenn auch nicht vollständiges (der Bereich der Wirtschaft wird als eigenständiges Thema ausgespart, und vielleicht hätte man über die Grazer „Nabelschau“ hinausgehen und externe Wissenschaftler verstärkt einbinden sollen), so doch grundsolides, längst fälliges aktuelles Forschungspanorama der NS-Herrschaft im steirischen Raum präsentiert, zum anderen - und das erscheint bemerkenswerter - tatsächlich eine Konturierung vorzunehmen vermag, die es erlaubt, diesen ehemaligen Reichsgau signifikant gegen andere gleichartige Einheiten abzugrenzen, beispielsweise im Hinblick auf seine konträren Qualitäten als nationalsozialistischer „Mustergau“ und zugleich als „Hochburg“ des Widerstandes. Man wird daher weiterführenden vergleichenden Studien ebenso mit Spannung entgegensehen dürfen wie der Aufarbeitung der zahlreichen angemahnten Forschungsdesiderata.
Kapfenberg Werner Augustinovic