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Vor 70 Jahren - Stunde Null für die Justiz? - die Augsburger Justiz und das NS-Unrecht, hg. v. Koch, Arnd/Veh, Herbert (= Augsburger Rechtsstudien 84). Nomos, Baden-Baden 2017. 205 S. Besprochen von Werner Schubert.

Vor 70 Jahren – Stunde Null für die Justiz? – die Augsburger Justiz und das NS-Unrecht, hg. von Arnd Koch/Herbert Veh (Augsburger Rechtsstudien 84). Nomos, Baden-Baden 2017. 205 S.

 

Der von Arnd Koch (Professor an der Universität Augsburg u. a. für Juristische Zeitgeschichte) und Herbert Veh (Präsident des Landgerichts Augsburg) herausgegebene Band vereinigt die sieben Vorträge, die ab Juli 2015 über den Wiederaufbau der Augsburger Justiz in der Nachkriegszeit und ihren Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit an historischen Orten der frühen Augsburger Nachkriegsjustiz gehalten worden sind. Im ersten Beitrag des Bandes befasst sich Christian Safferling (Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg) mit der Aufarbeitung von nationalsozialistischem Unrecht durch die deutsche Nachkriegsjustiz (S. 9-39). Es werden behandelt das Nürnberger Internationale Militärtribunal, die Strafverfolgung in den Besatzungszonen nach KRG Nr. 10, die Nürnberger Nachfolgeprozesse, die Zentrale Rechtsschutzstelle (Rechtsschutz für Deutsche, die im Ausland wegen Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgt wurden) und die Zentrale Stelle in Ludwigsburg. Hingewiesen wird auch auf die Verjährungsproblematik bei Beihilfe zum Mord eines BGH-Urteils vom 20. 5. 1969 (BGHZ 22, 375), das auf einer Gesetzesänderung von 1968 beruhte. Die Wiedereröffnung der Gerichte in Bayern ist Gegenstand des Beitrags von Edith Raim (Historikerin am Institut für Zeitgeschichte), die sich an der Universität Augsburg mit dem Thema: „Wiederaufbau und Ahndung der NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949“ (München 2013) habilitiert hat. Die Eröffnung der Gerichte erfolgte bereits ab Mai/Juni 1945; jedoch waren die materiellen Bedingungen des Wiederaufbaus äußerst bescheiden (S. 53ff. zu Nürnberg). Die zunächst strenge amerikanische Entnazifizierungspolitik ließ sich auf die Dauer nicht durchhalten, so dass bereits im Frühjahr 1949 in Bayern 75% aller wiederbeschäftigten Richter und Staatsanwälte in der NSDAP und ihren Gliederungen gewesen waren (S. 63). Von Bedeutung für die strafrechtliche Nachkriegsjudikatur in Bayern war die Wiedereinführung der Schwurgerichte durch ein Gesetz vom 14. 7. 1948, wie sie vor der Emminger-Reform von 1924 bestanden hatten (S. 48ff.).

 

Es folgt die Abhandlung von Veh über die Eröffnung der Gerichte in Augsburg (S. 67-86) mit Abschnitten über den Personalbestand, den Geschäftsbetrieb und die äußeren Bedingungen – der zerstörte Justizpalast war erst 1954 vollständig wiederhergestellt – und über fünf Richter, die nicht der NSDAP angehört hatten. Andreas Eichmüller, Autor des Werkes: „Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik“ (München 2012) geht anhand der Akten der Staatsanwaltschaft Augsburg und weiterer Akten in dem bayerischen Hauptstaatsarchiv München dem Strafprozess gegen Ilse Koch in Augsburg 1950/1951 nach, der ein bis dahin beispielloses Medienecho fand. Ilse Koch war (bis Ende 1942) die Ehefrau des Lagerkommandanten des Konzentationslagers Buchenwald und bereits in dem  so genannten. „Buchenwald-Hauptprozess“ von 1947 wegen Mord und Misshandlungen an Häftlingen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der Strafprozess gegen sie vor dem Schwurgericht in Augsburg betraf u. a. Anstiftung zum Mord sowie zahlreiche Körperverletzungen an deutschen Staatsbürgern. Verteidiger war der Münchner Strafverteidiger Alfred Seidl, der im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Rudolf Heß und Hans Frank vertreten hatte. Das Urteil gegen Ilse Koch lautete auf lebenslängliches Zuchthaus und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (S. 119). Nach Ablehnung von wiederholten Begnadigungsanträgen nahm sich Ilse Koch am 2. 9. 1967 in der Haftanstalt Aichach das Leben (S. 126).

 

Der sogenannte „Huppenkothen-Prozess“ ist Gegenstand des Vortrags Arnd Kochs (S. 131-157). Walter Huppenkothen hatte als Ankläger im Standgerichtsverfahren gegen Mitglieder des Widerstandskreises um Canaris (u. a. gegen v. Dohnanyi, Bonhoeffer) in Flossenbürg die Todesstrafe gefordert, die jedoch vom Gerichtsherrn nicht bestätigt worden war. Nach einer zweimaligen Aufhebung der freisprechenden Urteile des Landgerichts München hatte der Bundesgerichtshof die erneute Verhandlung an das Landgericht Augsburg verwiesen. Dieses verurteilte Huppenkothen zu sieben Jahren Zuchthaus wegen Beteiligung an einem „bloßen Scheinverfahren“ (S. 148). In der anschließenden Revision blieb die Verurteilung Huppenkothens – nunmehr zu sechs Jahren Zuchthaus – bestehen, da dieser die Exekution der Verurteilten ohne Einholung einer vorherigen Bestätigung des Urteils durch den Gerichtsherrn hatte durchführen lassen.

 

Der abschließende Vortrag des Historikers Hubert Seliger, Autor des grundlegenden Werkes: „Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse“, 2016, beschäftigt sich mit dem konservativen „Augsburger Widerstandskämpfer und Rechtsanwalt Dr. Franz Reisert“ (S. 159-203). Reisert hatte zuletzt Kontakt über den noch wenig bekannten Sperr-Kreis mit dem Kreisauer Kreis und war vom Volksgerichtshof wegen Nichtanzeige einer Verschwörung zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden (S. 173f.). Nach 1945 verteidigte er nicht nur den Augsburger Oberbürgermeister Josef Mayr, sondern 1952 auch General Georg von Küchler, der 1949 im Nürnberger OKW-Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt worden war, und den SS-Sturmbannführer Friedrich Gottschalk in Entnazifizierungsverfahren, die er zu den „verführten Idealisten“ zählte (S. 195). Insgesamt war es nicht „ungewöhnlich“, dass „ehemalige Widerstandskämpfer und Oppositionelle als Verteidiger mutmaßlicher NS-Täter auftraten“ (S. 199).

 

Der Band über die Augsburger Justiz in der Nachkriegszeit ist auch von überregionalem Interesse, da dort zwei wichtige, in der Öffentlichkeit sehr beachtete Kriegsverbrecherprozesse stattfanden und der Augsburger Rechtsanwalt Reisert, obwohl er als Widerstandskämpfer anzusehen ist, die Strafverteidigung eines nationalsozialistischen Täters übernommen hat. Insgesamt wäre eine tabellarische Übersicht über das Landgericht Augsburg in der Zeit von 1945 bis etwa 1955 hilfreich gewesen. Das Autorenverzeichnis hätte noch detaillierter auf die bisherigen Forschungen der Vortragenden eingehen sollen. Dessenungeachtet liegt mit dem Band über die Nachkriegsjustiz in Augsburg ein lesenswertes Werk vor, das zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts noch nicht abgeschlossen ist.

 

Kiel

Werner Schubert