Schweikert, Rudi, „Durch eegenes Ingeniums zusammengesetzt“. Studien zur Arbeitsweise Karl Mays aus fünfundzwanzig Jahren. Hansa Verlag, Husum 2017. 299 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Schweikert, Rudi, „Durch eegenes Ingeniums zusammengesetzt“. Studien zur Arbeitsweise Karl Mays aus fünfundzwanzig Jahren. Hansa Verlag, Husum 2017. 299 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
„Ich aber setze mir die rhetorisch lexikalische Weltgeschichte durch eegenes Ingenium zusammen“. Mit diesem Dialog-Teil stattete der Schriftsteller Karl May eine seiner Figuren in „Der Geist der Llano estakata“. aus Der Ausspruch charakterisiert nicht allein die Figur, sondern – weil sie auch ein humoristisch gefärbtes alter ego des Autors darstellt - durchaus auch seine Methoden, Macharten und sein historisches Weltbild. Der gelehrte Mannheimer Germanist und Schriftsteller Rudi Schweikert legt mit dem Sammelband unveröffentlichte Studien zur Arbeitsweise Karl Mays vor. Reinhold Wolff, nach Claus Roxin Vorsitzender der literarisch-wissenschaftlichen Karl-May-Gesellschaft, hat Schweikert zurecht einen „Polyhistor“ genannt und beschrieben, „welche Faszination vom geheimen Zusammenhang der Dinge, Menschen, Bilder und Wörter für ihn ausgeht“. Asketische Unersättlichkeit spreche aus des Autors „Bücherbiberburg“. In ihr findet Schweikert seine methodisch intertextuellen Juwelen, die mit den Namen Arno Schmidt, Cooper, Rilke, Sir Galahad , Walter Benjamin, Kurt Laßwitz und Karl May nur sehr auswahlweise mit Namen genannt werden können. Dem Rohstoff für das literarische Geschmeide schürft er mit einem „organisierten Skeptizismus“ nach. Auf diese Weise dringt er zu den wertvollen glitzernden Kernen der Phantasiewelten vor, zu ihren charakteristischen Formen und Färbungen als Naturperlen oder Zuchtperlen, und auch zu ihren - Karl May ist ein deutliches Beispiel – Beschränkungen und Grenzen in den Wundergehäusen von Literatur und Wissenschaft.
Viele der köstlichen Kleinode aus der Feder des Autors und im mehrfachen Sinne des Wortes Lektors sind hier zu lesen. Schweikert zeigt in den bislang unveröffentlicht gebliebenen, aber damit keineswegs veralteten Arbeiten wiederum seinen untrüglichen Sinn und seine Fähigkeit, auch in den kleineren Formen der Wissenschaft, in der essayistischen Vor-Studie, in der exemplarischen Miniatur ganz unangestrengt wirkend und eindringlich belegt wie unterhaltsam dargeboten, die präzisen Fragestellungen mit Witz und Eleganz und dennoch en detail zu beantworten. Ein anderer, ein englischer Autor und Geschichts-Forscher hat mir in einem Interview auf die etwas zudringliche Frage, was ihn denn antreibe, lakonisch erklärt: „To answer my own questions!“ So liegt der Fall auch hier. Schweikerts diskret daherkommende, seine ureigenste Fragen gelten artistischen Prinzipien, Motiven, Quellen, lexikalischen Realien zumal, intertextuellen Zusammenhängen, Bildfindungen und anderen Spuren oder Spurenelementen im Werk bis hin zu dreisten Übernahmen von anderen Vorläufern. Der Manichäer May teilt die Welt, realiter, vor allem jedoch in Fiktion, in Geschichte, Rechtsgeschichte, Literatur mit allerlei rechtlichen Ingredienzien bis hin zu den eigenen rund 100 Gerichts-Prozessen, deren Rechtsgeschichte wir Jürgen Seul verdanken, in klare holzschnittartige Fächer von Gut und Böse (womöglich noch: ganz und gar Gute gegen ganz und gar Böse) ein.
Der erste Satz, der Beginn des Erzählers, ist eines der glücklich gewählten Themen der Abhandlungen. Bei Karl May ist die variable „Wissensprobe“ ein Topos. Er fällt oder zielt gerne mit der Tür ins Haus, mit der Schmetterhand ins Geschehen, mit dem Henrystutzen gegen Rotgesichter und Bleichgesichter. Flugs geht das Kamel durchs Nadelöhr. Wer in den Himmel kommt, ist aber nicht sogleich ausgemacht. Mit den Auftakt-Varianten wird nicht nur fiktives oder reales Wissen scheinbar abgefragt, sondern auch unmittelbar in die Handlung eingestiegen.
Es gehört zur hier filigran geübten Wissenschaft, dass sie auch Fragen offen lässt, neue noch nicht beantwortbare Fragen stellt und in die nähere oder fernere Zukunft verschiebt – als sei, wie Schweikert selbstironisch anmerkt, der prekäre Satz Luc Bessons „Zeit spielt keine Rolle“ ihm auf den Leib geschrieben. Die subtile Meisterschaft, mit der hier vorgestellt wird, wie sich „im Schreibprozess Eigenes aus fremdem Nährboden entwickelt“, gehört zum Schweikert’schen findigen „Ingenium“. Wie kein anderer kennt er die lexikalischen Realien, wie den „Zierer“, den „Brockhaus“ oder andere entlegenere, unbekanntere oder geheimnisvolle Fundstellen, die sich zuweilen aus einer einzigen Zeile oder Anregung in dramatische Dialoge, in aberhunderte Seiten von Erlebnisräumen, aus historischen Kompendien in lebhafte, spannende und imaginäre Reisen, Kampfesorte und landschaftlich genau beschriebene Fiktionen verwandeln – die eines lange Jahre finanziell darbenden Ex-Sträflings, Redakteurs und erst allmählich zum „freien“ Autor sich mutierenden Vielschreibers.
Das „schnelle Verfertigen eines Gedankens beim Schreiben“ ist ökonomischer und intellektueller Not geschuldet und bildet eine Basis für das, was sich zuweilen als „naiv-dreiste Pfuscherei“ manifestiert (S. 151), wie sie schon Arno Schmidt für die Erzählungen als sein apodiktisches Urteil parat hatte. die letzten vier oder fünf Bücher ausgenommen, zwei Silberlöwen, Ardistan & Dschinnistan.
Wie aber der kundige Germanist und Forscher an winzigen Textstellen und Mikro-Spuren die Genese eines Gedankens zur Charakterisierung einer Figur (gefährlicher Präriejäger entdeckt eine Goldader) entwickelt, zeichnet eben auch den Spürsinn aus, mit dem zusammen mit allerlei Assoziationen aus Mays Kolportage – Ära eine heute allbekannte „Büchse mit goldenem Kolben“ entwachsen ist. Der Leser denkt dabei unwillkürlich gleich an die Briefe und Karten Karl Mays, mit denen er - lange Zeit später 1899 – während seiner Orientreise regredierend von seiner Entdeckung eines Goldfeldes schwadroniert, die ihn, inzwischen reicher Bestseller-Autor, nicht interessiert, von der er sogar doch angeblich gar nichts wissen oder ausgrabend sich aneignen wolle.
Die gelungene Komposition der Sammlung spiegelt einiges von der Chronologie der Werke Mays wider. Die Erzählungen aus dem fernen Westen mit ihren Quellen, die monstergleichen Kolportageromane, die schauerromantischen Elemente aus dem Fundus von Fouqué oder Alexander Dumas d. Ä., die kombinierten, die orientalischen und okzidentalen Quellenwerke bis hin zu Goedsche, Karl Immermann und Jules Verne, die Nutzung von Reiseberichten stehen auf dem Prüfstand. Ein größerer Abschnitt widmet sich „Vernunft und Aberglaube“ in einem Werk, in welchem sich Mixturen zwischen Aufklärung und niederen Mythen finden lassen. May wird sichtbar als Leserlenkungsstratege. So erklärt sich, dass sein (historisches oder sonstiges) Geschichtsbild und Weltbild sich so unterschiedlich, nicht einheitlich, ja oft gegensätzlich oder ambivalent zeigt, Spaltungen des Menschen im Personal der Romane oder auch zugleich zwecks besserer Akzeptanz durch die Leser, deren differierende Lesererwartungen so rational oder irrational „bedient“ werden. Wie sich unterschwellig Sagen, Schauergeschichten und andere irrationale Elemente in Abenteuergeschichten mischen, wird eindrücklich analysiert. Es bleibt manchmal offen, muss offen bleiben, wie bewusst May seinem literarischen Spieltrieb frönte. Der literarische Psychologe Schweikert will sich hier anscheinend nicht festlegen lassen.
Auch die germanistische Wissenschaft zeigt aber explizit oder implizit, dass der genialische Verwandler und Anverwandler von Ideen, Texten, Lexikafragmenten, plots und gängigen Urteilen oder Vor-Urteilen mit einer oft durchaus raffinierten, konzeptionell durchdachten, mehrschichtigen und bis hin zur gerissenen Schläue reichenden Manier verfuhr, wie sie einem hochbegabten Autodidakten, die einem dem Lehrstande entlaufenen, vom Paria zum Parvenu aufgestiegenen Selfmademan, Westman, Abenteurer und Reiseschriftsteller und Sprachgenie von eigenen Gnaden zu eigen war. So großzügig bis großspurig, wie er mit seinem Material und seiner Fantasie verfuhr, so konnte er auch mit den zeitgenössischen Grundlagen, mit den historischen Fakten und Abläufen, mit geografischen oder ethnologischen Erkenntnissen umgehen, wenn es sich um eine gut lesbare, gut verkäufliche und womöglich noch in späteren Produkten verwertbare Geschichte handelte. Diesen des Öfteren recht lockeren, fantasievollen und ein wenig außerhalb der Legalität angesiedelten Umgang legte May auch im Verkehr mit Lesern, Verlegern und in seinen Vorträgen oder Berichten lauschenden Publikum an den Tag. Das kennzeichnet u. a. ihn auch als einen durchaus mit modernen Mitteln und Fähigkeiten operierenden Medien-Star.
Wer über diesen Band hinaus sich in Weiteres von Schweikert vertiefen möchte, dem seien die Publikationen ans Herz gelegt, welche zu Karl May – 236 an der Zahl – zwischen 1982 und 2017 entstanden sind. Sie bilden den Anhang. Der Verfasser hat bekanntlich auch als genauer Kenner der Werke Arno Schmidts, dieser ein früher Leser und Analytiker Mays, ihn weiterführend auf dem „Weg nach Sitara“ , also auf einem verminten Gelände, die Welt des Transgenders bei Karl May in innovativen überzeugenden Studien erforscht. Der geistreiche Band ist mit zahlreichen älteren, gut eingepassten Abbildungen, Stichen zumal, schön illustriert. Viele Beiträge sind auch deswegen mit Belegen versehen, damit sich der Leser von Quellen, vom Quellen- und Ideenreichtum, von Bearbeitungen und Verarbeitungen bis hin zu eiligeren plagiatorisch imprägnierten Übernahmen des geschwinden und zwangsläufig höchst fleißigen Erzählers ein vielfarbiges und nicht nur illustratives Bild zu verschaffen vermag.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen