Lück, Heiner, Der Sachsenspiegel. Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters. Lambert Schneider, Darmstadt 2017. 176 S., 120 Abb. Besprochen von Reinhard Schartl.
Lück, Heiner, Der Sachsenspiegel. Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters. Lambert Schneider, Darmstadt 2017. 176 S., 120 Abb. 16422.
Der Verlag präsentiert eine bibliophile Darstellung zum „berühmtesten deutschen Rechtsbuch des Mittelalters“, wie der Untertitel mit Recht hervorhebt. Dazu konnte mit Heiner Lück, der an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg lehrt, ein ausgewiesener Sachsenspiegelkenner gewonnen werden. Zu Beginn stellt Lück die Frage, ob die verbreitete Charakterisierung der mittelalterlichen Rechtsbücher als „private“ Aufzeichnungen und als „Lehrbücher“ gerechtfertigt ist. Dies hängt letztlich von der Definition beider Begriffe ab. Mit Recht weist er aber darauf hin, dass Graf Hoyer von Falkenstein die Niederschrift des Sachsenspiegels veranlasst haben könnte und auch das Stendaler Rechtsbuch von einem notarius civitatis geschrieben wurde. Nimmt man hinzu, dass als Verfasser des Kleinen Kaiserrechts nach derzeitiger Meinung der Frankfurter Reichsschultheiß und Friedberger Burggraf Rudolf von Sachsenhausen gilt, wird eine nicht nur private, sondern auch hoheitliche Mitwirkung bei der Abfassung dieser Rechtsliteratur deutlich. Geht es somit um eine Abgrenzung zwischen Rechtsbüchern und Gesetzen, überzeugt das von Lück genannte Kriterium, dass Rechtsbücher Recht aufschrieben, das bereits vorhanden und in Geltung war. Die anschließenden Ausführungen zur Entstehung des Sachsenspiegels weisen darauf hin, dass die Entstehungszeit (zwischen 1220 und 1235) inzwischen geklärt sein dürfte, während für den Entstehungsort keine nähere Festlegung als das östliche Harzvorland möglich erscheint. Eingehend diskutiert Lück die Streitfrage, ob es die von Eike am Ende der Vorrede in Reimpaaren erwähnte lateinische Urfassung (den sogenannten auctor vetus) gab. Die Zweifel rühren nach Lücks zutreffender Darstellung vor allem daher, dass außer dem nur als neuzeitlicher Druck überlieferten lateinischen Lehnrechtstext (auctor vetus de beneficiis) keine lateinische Fassung des Sachsenspiegels bekannt ist. Die vom Verfasser als zusätzliche Zweifelsgründe angeführten weiteren Stellen des Rechtsbuchs, die objektiv mit der Realität nicht übereinstimmten, betreffen aber entweder lange zurückliegende Ereignisse (Herkunft des Sachsenrechts und des Sachsenstammes), die Eike nur in sagenhafter Überlieferung bekannt gewesen sein mögen, oder seine politische (fehlende böhmische Kurfürstenwürde) oder soziale Wertung (siebenter Heerschild). Diese Unrichtigkeiten lassen sich mit der Reimvorrede berichteten Existenz eines lateinischen Urtextes schwerlich vergleichen. Lück favorisiert das Argument, Eike habe möglicherweise seinem deutschen Text ein größeres Ansehen verschaffen wollen, wobei allerdings die Parallele zu einer im Epilog des Nibelungenliedes genannten angeblichen lateinischen Vorlage weniger passt, weil diese von einem dritten Autor stammen und etwa zweihundert Jahre älter gewesen sein soll als das um 1200 verfasste Epos. Eike wird sich von der Bezugnahme auf eine von ihm selbst kurz zuvor geschaffene lateinische Vorlage, die über keine Anerkennung verfügte, kaum Kredit erhofft haben. Für die Richtigkeit der Angabe in der Vorrede sollte indes auch das Argument verwendet werden, dass die Unwahrheit einer Behauptung generell umso unwahrscheinlicher ist, je einfacher sie sich überprüfen und widerlegen lässt. So dürfte zumindest im engeren Umfeld Eikes bekannt gewesen sein, ob er zuvor eine Version in Latein verfasst hatte. Es fragt sich, wie er seinen Grafen Hoyer von Falkenstein in eine derartige Erfindung hätte verwickeln können. In der Folge beschreibt Lück die vier erhaltenen Bilderhandschriften, die zwischen dem Ende des 13. Jahrhunderts und etwa 1360/1370 angefertigt wurden. Bezüglich ihres Zwecks folgt er der vorherrschenden Auffassung, dass sie sich nicht an den Leseunkundigen wandten, sondern dem Leser das Verständnis des Textes erleichtern sollten. Sodann geht der Autor auf den Inhalt des Rechtsbuches ein und beschreibt das Verfassungsrecht (Königswahl, Regalien), die Gerichtsverfassung, das Strafrecht (schwere Strafen, Bußen und Verfahrensrecht) und die daneben stehende Sühne auf vertraglicher Basis sowie das Eherecht und Erbrecht. Dankenswert ist auch die Zusammenfassung des heutzutage kaum noch beachteten Lehnrechts. Unter der Überschrift „Faszination des Details – Rechtsvorstellungen und Lebensbereiche“ stellt Lück einige wichtige, von dem Rechtsbuch und den Bilderhandschriften behandelte Themen vor. Zunächst greift er die Teilung der Gesellschaft in Freie und Unfreie auf, unter Verweis auf die berühmte Stelle, wonach Leibeigenschaft durch unrechte Gewohnheit und Gewalt entstanden sei (Landrecht III 42). Es folgen Ausführungen über Mensch und Natur mit Regeln, die Tiere und Gewässer (Rechte an neu entstandenen Inseln) betrafen, ebenso aber auch die Darstellung der Verwandtschaftsgrade anhand des menschlichen Körpers. Die nächsten Abschnitte sind dem Kirchengebäude und seinen Funktionen als Friedensort und Gerichtsstätte sowie der Burg gewidmet. Nach Bemerkungen zum Zehnt von Feld und Vieh schließt das Kapitel mit dem Badehaus und den Regeln beim Wegtragen fremder, von den Badenden abgelegter Sachen. Breiten Raum widmet Lück der Glossierung des Sachsenspiegels und stellt dazu den gelehrten, bis zum Hauptmann der Mark Brandenburg aufgestiegenen Verfasser der bedeutendsten Bearbeitung, Johann von Buch, in den Mittelpunkt. Das Kapitel „Zwischen Elbe und Dnjepr – Die Verbreitung des Sachsenspiegels“ erläutert am Anfang und auf den ersten Blick nicht recht zur Überschrift passend das vom Sachsenspiegel kaum behandelte Stadtrecht. Schließlich kommt jedoch das vom Sachsenspiegel deutlich beeinflusste Magdeburger Stadtrecht zu Sprache, das wiederum wesentlich das Sachsenrecht nach Osteuropa trug. Inzwischen gibt es einen Hinweis, dass selbst in Katalonien der Sachsenspiegel bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts bekannt war. In den beiden letzten Kapiteln befasst sich Lück zum einen mit der Sachsenspiegelforschung seit dem 19. Jahrhunderts und erinnert dabei unter anderem an den bedeutenden Sachsenspiegelforscher Guido Kisch, den die Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Abstammung aus Deutschland vertrieben. Der Verfasser schildert zudem die letztlich nur teilweise erfolgreichen Bemühungen, die Magdeburger Sprüche in den Archiven der Empfängerstädte zu rekonstruieren und zu publizieren. Insbesondere zeigt er auf, dass die Verbreitung des Magdeburger und sonstigen deutschen (vor allem des lübischen) Rechts als Rechtfertigung für Expansionsbestrebungen nach Osten genutzt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu Neuausgaben der vier Bilderhandschriften. Bemerkenswert ist zum anderen die „Spurensuche im geltenden deutschen Recht“. Über die bekannte Bezugnahme des Reichsgerichts auf die Erforderlichkeit der Erbenzustimmung (Landrecht I 52 § 1) hinaus findet der Autor im modernen Recht „Rechtsgedanken und Regeln, die auf den Sachsenspiegel zurückgehen oder seinen Bestimmungen zumindest ähneln“. Das birgt die Gefahr, dass modernes Recht als Fortgeltung des Sachsenspiegels angesehen wird. Meist dürfte es sich allerdings um Regeln handeln, die naturrechtlichen Charakter besitzen und als seit jeher und überall geltend auch vom Sachsenspiegel aufgegriffen wurden. Dies trifft etwa auf Lücks erstes Beispiel, das Erbrecht der Abkömmlinge zu. Das angeführte Eintrittsrecht der Enkel war bekanntlich schon 938 Gegenstand einer durch Zweikampf entschiedenen Rechtskontroverse und war ebenso dem römischen wie dem fränkischen Recht geläufig. Auch die in Landrecht III 84 § 3 behandelte Erbunwürdigkeit war dem römischen Recht bereits bekannt. Das im Sachsenspiegel ebenso wie im modernen Straßenverkehrsrecht zu findende Prioritätsprinzip zwischen Verkehrsteilnehmern um die Benutzung von Wegen und Parklücken dürfte auf einem unabweisbaren sachlichen Grund beruhen. Jedem Kapitel sind ein oder zwei Porträts mit dem Sachsenspiegel zusammenhängender Personen (Eike von Repgow, Friedrich II. oder Johann von Buch) oder von Sachthemen (Heerschildordnung und die Zweischwerterlehre) angefügt. Der an jeden historisch Interessierten gerichtete Band fasst leicht nachvollziehbar und mit beeindruckender Bebilderung den, wie im Klappentext zutreffend angegeben wird, aktuellen Wissenstand zusammen.
Bad Nauheim Reinhard Schartl