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Deter, Gerhard, Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 1 Rechtsgeschichte des selbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810-1869), Band 2 Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810-1869) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 230, 1, 2). Steiner, Stuttgart 2015. 393, 482 S. Besprochen von Werner Schubert.

Deter, Gerhard, Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 1 Rechtsgeschichte des selbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810-1869), Band 2 Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810-1869) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 230, 1, 2). Steiner, Stuttgart 2015. 393, 482 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Ziel der Untersuchungen von Gerhard Deters, der bereits drei Monographien zum westfälischen Handwerksrecht (1987, 1990 und 2005) veröffentlicht hat, ist es „mit den von der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Fragestellungen und Methoden die enge Wechselbeziehung zwischen den sozio-ökonomischen Bedingungen der handwerklichen Tätigkeit und den Spezifika einer Rechtsordnung, der das Kleingewerbe unterworfen war, aufzuklären“ (S. 23). In der lesenswerten Einleitung weist Deter darauf hin, dass die Wirtschafts- und Sozialhistoriker die „rechtlichen Einflüsse auf das Wirtschaftsgeschehen“ lange weitgehend ausgeblendet hätten (S. 18). Die Darstellung des „rechtlichen und institutionellen Rahmens wirtschaftlichen Handelns“ sei „genuine Aufgabe des Juristen“, so dass der Rechtswissenschaft „wesentliche Bedeutung für die wirtschaftsgeschichtliche Erkenntnis“ zuwachse (S. 21). Dabei gehe es um das „Zusammenwirken rechts- und wirtschaftshistorischer Methoden“. Mit Recht beschränkt sich Deter auf ein geografisch und politisch abgegrenztes Untersuchungsgebiet, wozu sich die preußische Provinz Westfalen anbot, da hier „einander früh industrialisierte Räume und solche mit beinahe archaischer Wirtschaftsstruktur, ländlich-wohlhabende und zurückgeblieben-ärmliche Regionen benachbart waren“ (S. 32). Der zeitliche Rahmen der Untersuchungen wird markiert durch die Einführung der Gewerbefreiheit in den Gebieten der späteren preußischen Provinz Westfalen (Königreich Westphalen, Großherzogtum Berg, Hanseatische Departements des Empire) und als Endpunkt durch den Erlass der norddeutschen Gewerbeordnung von 1869. Zum Einen ging es um die sozio-ökonomischen Ursachen für die Rechtssetzung in dem untersuchten Segment der Rechtsordnung. Dies konnte allerdings „nicht umfassend oder gar lückenlos“ geschehen, da der sonst durch die Arbeit gezogene Rahmen gesprengt worden wäre (S. 26). Zum Anderen war – und dies in erster Linie – die Wirkungsgeschichte des gesamten staatlichen Rechts in der Provinz Westfalen darzustellen (S. 26f.). Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die mit dem Handwerksrecht „verbundenen Rechtstatsachen am Beispiel eines überschaubaren Raumes in die Darstellung einzubeziehen und die Wirkungen, welche die sich wandelnden Vorschriften im wirtschaftlichen und sozialen Leben Westfalens zeitigten, transparent zu machen“ (S. 27, vgl. auch S. 29).

 

Band 1, der 2011 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommen wurde, befasst sich mit dem selbständigen, Band 2 mit dem unselbständigen Handwerk. Band 1 umfasst zunächst das „handwerkliche Ordnungsgefüge im Zusammenschluss selbständiger Handwerker“ (S. 37-172). Der Abschnitt beginnt ziemlich unvermittelt mit den Zünften in den Grafschaften Wittgenstein, die zwischen 1806 und 1815 zu Hessen-Darmstadt gehörten und 1815 zu Preußen kamen und in denen die Zünfte erst 1845 aufgehoben wurden. In den Gebieten, in denen das westphälische, bergische oder französische Recht die Zünfte aufgelöst hatten, scheiterten die Versuche des preußischen Gesetzgebers (Gewerbeordnung von 1845 und Novellen von 1849 und 1854), Innungen zu etablieren mit Ausnahme von Teilen des Regierungsbezirks Arnsberg und des Regierungsbezirks Minden (S. 86ff.). Die genannten Versuche blieben weitgehend ohne Erfolg, da den Innungen Autonomie und Zwangscharakter versagt wurden. Ebenfalls scheiterte das Organisationsmodell der durch eine Verordnung von Anfang 1849 ermöglichten Gewerberäte (S. 135ff.), in denen die Handwerker nur unzureichend repräsentiert waren und der Obstruktion der Kaufleute und Fabrikanten unterlagen (S. 161ff.). Die seit der französischen Zeit bestehende, von den Handwerkern bekämpfte Niederlassungsfreiheit wurde erst durch Gesetze von 1842, 1845 und 1849 eingeschränkt, insbesondere durch die Möglichkeit der Gemeinden, Einzugsgelder zu erheben.

 

Im Bereich der Preistaxen zeichneten sich „Rechtssatz und Rechtswirklichkeit“ durch eine bemerkenswerte Inkonsistenz aus (S. 205ff.). Genossenschaftliche Organisationsformen setzten sich erst seit 1870 in Form von Spar- und Darlehenskassen nach dem Modell Raiffeisens durch (S. 234ff.). Für das Arbeitsrecht (S. 236ff.) hatte der Code Napoléon den weitgehend freien Arbeitsvertrag gebracht. Eine Wiederherstellung des wieder oder neu eingeführten Allgemeinen Landrechts führte zu Unklarheiten in der Rechtsanwendung, da das Handwerksrecht mit der Abschaffung der Zünfte weitgehend obsolet geworden war. Neuregelungen erfolgten durch die Gewerbeordnung von 1845 (Abschaffung der Wanderpflicht, Strafbarkeit des Arbeitsvertragsbruchs, Verbot der Sonntagsarbeit, Koalitionsverbot, welches durch die Gewerbeordnung von 1869 beseitigt wurde). Der umfassende Zugriff Deters auf das Handwerksrecht zeigt sich insbesondere im Abschnitt über das „städtische und staatliche Finanzwesen und seine Bedeutung für das Kleingewerbe“ (S. 285ff.). Nach Aufhebung der französisch-rechtlichen Patentsteuer war das Handwerk in den Städten durch neue Steuern im Vergleich zu ländlichen Handwerksbetrieben benachteiligt. Im Abschnitt über das Handwerk in der „politischen und sozialen Umwelt“ geht es zunächst um die unzureichende Repräsentation des Handwerks aufgrund der erheblichen Beschränkung des aktiven und insbesondere des passiven Wahlrechts (S. 308ff.). Nach dem Ende der korporativen Versorgung der Meister und ihrer Familien (S. 308ff.) kam ein neues umfassendes Fürsorgesystem nicht zustande. Von der durch Verordnungen von 1849 und 1854 eröffneten Möglichkeit, Zwangsmitgliedschaften in den Kassen für alle selbständigen Gewerbetreibenden zu etablieren, wurde – außer für Sterbekassen – „wenig Gebrauch gemacht“ (S. 324ff.).

 

In Band 2 befasst sich Deter mit dem unselbständigen Handwerk zwischen 1810 und 1869 unter dem Gesichtspunkt der gewerblichen Ausbildung. Eine Strukturierung der Lehrzeit durch Lehrvertrag, förmliche Aufnahme in das Lehrverhältnis und eine fakultative Gesellenprüfung (S. 24-49) erfolgte erst durch die Gewerbeordnung von 1845 und deren Novelle von 1849. Trotz partieller und temporärer Erfolge scheiterte insbesondere das Prüfungswesen an fehlenden Prüfern, an hohen Prüfungsgebühren und allgemein am Desinteresse der Beteiligten, bis schließlich die Gewerbeordnung von 1869 den Prüfungszwang ganz beseitigte (S. 133-174). Detailliert geht Deter auf die Prüfungen der Bauhandwerker ein (S. 96ff.), die 1821 eingeführt wurden, jedoch zunächst weitgehend unterblieben. Versuche, eine Prüfungsordnung aufzubauen, scheiterten zunächst, da es an geprüften Bauhandwerkern noch fehlte. Auch das nach 1848 geförderte gewerbliche Schulwesen verfiel in den 1860er Jahren. Ausführlich untersucht Deter das Wandern der Gesellen (S. 175-358), das auch nach Aufhebung der Wanderpflicht (1831/1833; § 143 der Gewerbeordnung von 1845) noch lange eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Im Einzelnen bespricht Deter die Untersagung des Wanderns ins Ausland (insbesondere in die Schweiz, nach Frankreich und Belgien) und die Kontrolle der Wandernden durch Legitimationspapiere und Pässe. Kontrolliert wurde auch das Einwandern von Gesellen in der Zeit der Demagogenverfolgung. In weiteren Abschnitten behandelt Deter die Probleme der Arbeitsvermittlung, des Zehrgeldes (Viaticum), des Bettelns der Gesellen sowie die aus dem „Ausland“ einreisenden jüdischen Gesellen, die gegenüber preußischen jüdischen Gesellen benachteiligt waren (S. 350ff.). Der Ausbau einer sozialen Sicherung der Gesellen erfolgte erst im Gefolge der Gewerbeordnung von 1845 in den Reformnovellen von 1849 und 1854 durch Gesellenkassen (S. 374ff.). Auch nach Erweiterung der Möglichkeiten, eine Beitrittspflicht zu den Unterstützungskassen anzuordnen, waren „weit weniger als die Hälfte der westfälischen Gesellen versichert“ (S. 447). Hinzu kam noch die geringe Leistungsfähigkeit der Kassen (S. 415). Seit 1869 gerieten die Zwangskassen „‚großen Theils in Auflösung und Verfall‘“ (S. 433 zit. nach H. B. Oppenheim, Die Hilfs- und Versicherungskassen der arbeitenden Klassen, Berlin 1876). Die „bleibende Bedeutung der Sozialgesetzgebung der Jahre 1845/1849“ ist nach Deter in dem Umstand zu sehen, dass sie „zum Wegbereiter der modernen Sozialversicherung“ wurde (S. 448).

 

Beide Bände schließen mit einem zusammenfassenden Rückblick, in dem Deter klarstellt, dass man „von eigentlicher Wirksamkeit oder gar dauerhaftem Erfolg der preußischen Handwerksgesetzgebung im Untersuchungszeitraum“ kaum sprechen könne (Bd. 1, S. 352). Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen ist ferner, dass es der Ministerialbürokratie nicht gelang, ihre Ordnungsvorstellungen in Westfalen voll durchzusetzen, wozu die nicht sehr entschiedene Handwerksgesetzgebung beitrug: Das westfälische Beispiel lehre, so Deter, dass „auch der preußische Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts es noch keineswegs vermochte, der als fremd empfundenen Provinz mit ihren spezifischen, durch jahrhundertelang fortexistierende Territorien beförderten wirtschaftlichen Besonderheiten, ihren kulturellen Traditionen, aber auch vielfältigen Gemeinsamkeiten den eigenen Stempel aufzudrücken oder sie gar gänzlich umzuformen“ (Bd. 2, S. 452). Darüber hinaus bestanden auch innerhalb der Provinz Westfalen erhebliche Unterschiede in der Etablierung des Handwerksrechts der Gesetze von 1845, 1849 und 1854.

 

Die Lesemühe des 800 Seiten umfassenden, immer interessant geschriebenen Werks von Deter ist überaus lohnend. Sie vermittelt einen tiefen Einblick nicht nur in die Rechtsgeschichte der Provinz Westfalen auf dem wichtigen Gebiet des Handwerks- und Gewerberechts, sondern auch in die Tätigkeit des Berliner Handelsministeriums. Wünschenswert wäre es allerdings gewesen, wenn Deter gleich zu Beginn der Untersuchungen die Rechtsgrundlage der in der napoleonischen Zeit erfolgten Aufhebung der Zünfte und der Etablierung der Gewerbefreiheit beschrieben hätte, ohne dass es notwendig gewesen wäre, auf die Details einzugehen. Dies geschieht nur partiell für einige Sachbereiche wie das Arbeitsrecht und Steuerrecht (Bd. 1, 240ff., 286ff.). Auch zu der seit Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts sehr liberalen Wirtschaftspolitik und Gesetzgebung Preußens hätte man gerne eine detailliertere Darstellung gelesen. Ein kurzer Ausblick auf die der Gewerbeordnung folgende Handwerksgesetzgebung Preußens und des Reichs wäre hilfreich gewesen. Es ist zu wünschen, dass die noch weitgehend unerschlossene Rechtsgeschichte des Handwerks auch für weitere Regionen Preußens ähnlich breit wie die für Westfalen erschlossen wird (vgl. S. 452).

 

Kiel

Werner Schubert