Gafke, Matthias, Heydrichs „Ostmärker“ - Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart Band 27). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015. 329 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Gafke, Matthias, Heydrichs „Ostmärker“ - Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart Band 27). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015. 329 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Um die Erinnerung an den eigenständigen Staat Österreich weitgehend zu tilgen, verschwand dessen Name nach dem sogenannten Anschluss an das Deutsche Reich 1938 weitgehend und wurde generell durch den Begriff der „Ostmark“, auf der Ebene der Länder durch Kompositionen mit dem Namen des Donaustroms (Oberdonau und Niederdonau statt Oberösterreich und Niederösterreich) ersetzt; nach 1942 war dann programmatisch überhaupt nur mehr von den Alpen- und Donau-Reichsgauen die Rede. Wenn der Verfasser des vorliegenden Bandes von „Heydrichs Ostmärkern“ spricht, bedient er sich dieses Begriffs in einer sehr großzügigen Weise. Für ihn fallen darunter nämlich nicht nur Personen, die auf dem Staatsgebiet der Republik Österreich geboren wurden, sondern auch all jene, deren Wiege irgendwo auf dem Territorium der ehemaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn stand. Somit werden beispielsweise bei ihm auch Sudetendeutsche, deren Geburtsort weder auf dem engeren österreichischen Staatsgebiet liegt und die dort auch niemals irgendwie tätig wurden, kurzerhand zu „Ostmärkern“ erklärt, obwohl der sudetendeutsche Raum historisch niemals als „Ostmark“ bezeichnet wurde. Warum Matthias Gafke von keinem seiner hochkarätigen wissenschaftlichen Betreuer (Klaus-Michael Mallmann und Wolfram Pyta) auf diesen Mangel hingewiesen und angehalten wurde, diesen kleinen, aber unpassenden Personenkreis aus seiner Betrachtung auszuschließen, bleibt ein Geheimnis.
Die quellengesättigte, korrekt dokumentierte (Fußnotenapparat, Quellen- und Literaturverzeichnis), aber nicht durch Register erschlossene Schrift fußt auf der Dresdener geschichtlichen Diplomarbeit des Verfassers aus dem Jahr 2009, in der er sich vornehmlich mit der Person Dr. Humbert Achamer-Pifraders auseinandergesetzt hat; weiter ausgebaut, wurde sie 2013 als Dissertation von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart approbiert und nun leicht überarbeitet als Monographie veröffentlicht. Sie führt im Wesentlichen zwei Forschungsstränge weiter und verknüpft diese. Der erste zielt, ausgehend von den Leitstudien Jens Banachs (2002) und Michael Wildts (2003), auf die genaue Erforschung der institutionell im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) verorteten Führungspersönlichkeiten der in die Vernichtungsmaßnahmen des Regimes maßgeblich involvierten Sicherheitsexekutive des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates. Der zweite Ansatz erhellt den spezifisch österreichischen Beitrag zu dieser Herrschaft; hier hat Thomas Grischany (2015) beispielsweise die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehrmacht näher in Augenschein genommen, während der an der Universität Graz lehrende Dozent Martin Moll in mehreren (dem Verfasser offensichtlich nicht bekannten) Aufsätzen vor allem die bedeutenden SS-Karrieren ehemaliger Führer des Steirischen Heimatschutzes untersucht und darin Charakteristika deren spezifisch österreichischer Sozialisation herausgearbeitet hat.
Die geistige Prägung jener 51 (weitgehend) österreichischen Überzeugungstäter „der ersten Garnitur“ aus den Reihen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), denen Matthias Gafke seine Aufmerksamkeit zukommen lässt, erfolgte überwiegend in einem stark deutschvölkisch geprägten Milieu. Aus einer Zusammenstellung mit insgesamt etwa 1400 relevanten Namen waren dies jene „Ostmärker“, die „RSHA-Funktionäre (vom Referatsleiter aufwärts), Stapo- oder Kripo-Chefs (inklusive deren Stellvertreter), IdS [= Inspekteure der Sicherheitspolizei], BdS [= Befehlshaber der Sicherheitspolizei] oder KdS [= Kommandeure der Sicherheitspolizei], Führer von SD-Abschnitten oder mobiler Formationen (wie den EG [= Einsatzgruppen], EK [= Einsatzkommandos], SK [= Sonderkommandos] oder den Fliegenden Kommandos) waren“, wobei im Zuge der Darstellung diese Funktionen am Beispiel exemplarischer Karrieren zum Zweck der Kontextualisierung erläutert werden. Ausschlaggebendes Kriterium für die Berücksichtigung einer Person im Rahmen dieser Gruppe war dabei, wie gesagt, ein Geburtsort in der Donaumonarchie, wodurch höchst bekannte Namen wie Adolf Eichmann und Leopold Spann, obwohl in Österreich aufgewachsen und sozialisiert, außen vor bleiben. Ob das so sachlich wirklich zu rechtfertigen ist, darf angezweifelt werden. In der Arbeit „(sollen) in Form einer Kollektivbiografie die Fragen nach der sozialen Herkunft, der politischen Sozialisation, dem weltanschaulichen Zuschnitt, der individuellen Verstrickung in die Shoah und den Nachkriegskarrieren der Ostmärker beantwortet werden. […] Es entsteht das Bild von Männern mit einer spezifischen Vergangenheit, die ihre Ressentiments auslebten sowie mit Organisations- und Selektionsleistungen zum Massenmord beitrugen. Ideologische Unbedingtheit zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Biografien“ (S. 17).
Einer die wesentlichen Einflüsse der Sozialisation (generationelle Zugehörigkeit, Krieg, Herkunft, Bildung, deutschnationale Prägung, Antisemitismus, Xenophobie, Nationalsozialismus, Ordensdenken der SS) charakterisierenden Typologie der österreichischen Funktionäre und der vorher angesprochenen institutionellen Verortung (mit näherer Einbindung der Karrieren Prof. Dr. Robert Schmieds, Prof. Dr. Wilfried Krallerts, Alois Persterers, Herbert Kienes, Dr. Max Nedweds und Dr. Franz Razesbergers) folgen als Kernstück der Arbeit ausführliche Darlegungen des Werdegangs der folgenden, besonders profilierten „Ostmärker“: Dr. Humbert Achamer-Pifrader, Dr. Rudolf Mildner, Dr. Helmut Glaser, Dr. Herbert Strickner, Dr. Gerhard Bast und Dr. Ernst Kaltenbrunner. Kaltenbrunner, als Nachfolger Heydrichs vom Nürnberger Internationalen Militärtribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet, weist unter den Genannten sicher die weitaus größte Prominenz auf; nur zwei weitere Täter aus dem gesamten Sample, Glaser (in Jugoslawien) und Strickner (in Polen), bezahlten ebenfalls ihre Schuld mit ihrem Leben. Die österreichische Nachkriegsjustiz urteilte hingegen so milde (keiner der Täter musste inklusive der Untersuchungshaft real mehr als zehn Jahre absitzen, zumeist aber sei die Strafe der bereits verbüßten U-Haft gleichgekommen), dass Matthias Gafke empört von „Ungeheuerlichkeiten, die sich an den Volksgerichten abspielten“ (S. 256), spricht. Im Anhang (S. 269ff.) werden noch einmal alle 51 Persönlichkeiten der Untersuchung im Wege archivarisch belegter Kurzbiographien (Umfang jeweils durchschnittlich annähernd eine Druckseite) skizziert. Neben dem zum „Mussolini-Befreier“ und „Hitlers Haudegen“ hochstilisierten Otto Skorzeny haben hier aufgrund ihrer Nachkriegsgeschichte der mit dem Großen Ehrenzeichen des Landes Steiermark bedachte spätere Schulleiter Dr. Wilhelm Höttl und der zum Direktor der Simmering-Graz-Pauker AG (seinerzeit das größte österreichische Industrieunternehmen für Maschinen-, Kessel- und Waggonbau) avancierte Prof. Dr. Robert Schmied einen gewissen lokalen Bekanntheitsgrad.
Was unterscheidet nun diese österreichischen Täter von ihren reichsdeutschen Pendants? Die vorhin erwähnten akademischen Titel legen es nahe: Haben Banach und Wildt bereits einen hohen Anteil an Abiturienten und Akademikern für die reichsdeutsche Führungselite im gegenständlichen Sektor konstatiert, so stellten, „was die Bildungsabschlüsse und die erreichte beruflich-soziale Stellung angeht, die Ostmärker ihre reichsdeutschen Kameraden weit in den Schatten: von den 88 Prozent, die das Abitur besaßen, nahmen alle ein Studium auf, das kein Einziger abbrach. 39 von 45 beendeten ihre Hochschulausbildung mit der Promotion“. Hier wie dort dominierte eindeutig die juristische Ausbildung; Heydrichs Stellvertreter Werner Best wollte übrigens eine solche für eine führende Tätigkeit im RSHA obligatorisch vorschreiben, stand aber mit seinem Anliegen gegen Himmler, der „nichts weniger im Sinn (hatte), als das Recht schützende ‚Bürokraten‘ heranzuziehen“, auf „verlorenem Posten“ (S. 95). Des Weiteren hatten „82 Prozent der Ostmärker vor ihrer Karriere in der SS eine zum oberen Mittelstand zählende beruflich-soziale Stellung erreicht“, über die auch schon 71 Prozent ihrer Väter verfügten. Somit „reproduzierten sich die Gutverdiener trotz der schwierigen Verhältnisse im Nachkriegsösterreich selbst. Hier wurde nicht für Hitler geschwärmt, weil er Arbeit und Brot versprach. Denn all das hatte man schon“ (S. 31ff.). Die Identifikation mit den Zielen des Nationalsozialismus ging primär aus dem Gedankengut hervor, das Österreichs Identität suchende „kornblumenblaue Deutsche“ vor allem in rechtsradikalen, borussophilen Verbänden wie Turnvereinen, Schülerverbindungen und studentischen Korporationen aufgesogen hatten. Daraus erwuchs laut dem Verfasser „ein Fanatismus, der in der Regel den der reichsdeutschen Kameraden übertraf, weil er tiefer verwurzelt war“ (S. 261), und dessen man sich vor allem in der finalen Phase der Vernichtung des europäischen Judentums gerne bediente. Nahezu alle „Ostmärker“ mussten zunächst als (offen bekennende oder verkappte) Nationalsozialisten in ihrer Heimat erhebliche Nachteile gewärtigen: „94 Prozent des Samples waren Illegale, die für ihre politischen Überzeugungen Haftstrafen verbüßten […], Berufsverbote erlitten […] und/oder ins Altreich fliehen mussten […]. Andere wiederum nahmen berufliche Sanktionen in Kauf […]. Über allen Illegalen schwebte das Damoklesschwert der Todesstrafe, die auf Mord, Brandstiftung und boshafter Sachbeschädigung stand“ (S. 265). Dass viele von ihnen im Dienst der österreichischen Polizei standen, offenbart deren hohen Grad an nationalsozialistischer Unterwanderung. Der Band kommt insgesamt zu einer etwas anderen Einschätzung, als sie Martin Moll im Hinblick auf Himmlers Generäle „ostmärkischer“ Herkunft trifft. Dort wird zwar übereinstimmend bestätigt, dass sich unter den Österreichern „kaum Parvenüs oder auf eine Parteikarriere angewiesene, verkrachte Existenzen befanden“, doch heißt es auch, nur wenig deute darauf hin, „dass es sich gerade bei den österreichischen SS-Generälen um ‚Himmlers verlässliche Vasallen‘ gehandelt hat“, diese seien „in Himmlers Orden guter, vielleicht gehobener Durchschnitt mit allerlei landsmannschaftlichen Besonderheiten – nicht mehr, aber auch nicht weniger“ gewesen [Martin Moll, Himmlers Sorgenkinder oder verlässliche Vasallen? Österreichische höhere SS-Führer zwischen ostmärkischen Traditionen und der SS-Moral. In: Licence to detect. Festschrift für Siegfried Beer zum 65. Geburtstag, hg. v. Alfred Ableitinger u. Martin Moll (= Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 19). Graz 2013, S. 308 – 348. Zit. S. 348].
Was sich mit jeder kollektivbiographischen NS-Täterstudie stets aufs Neue bestätigt: Die führenden nationalsozialistischen Vernichter waren in aller Regel Überzeugungstäter, die ihre überwiegend hohe Intelligenz und Bildung freiwillig und bedingungslos in den Dienst der NS-Ideologie stellten. Was sie ausführten (der Band schildert dies anschaulich und konkret aus den Quellen, so die massiven Folterungen im Verantwortungsbereich der von Dr. Max Nedwed geleiteten Stapo-Stelle Innsbruck, wobei „der Jurist mit dem Doktortitel“ sich die Hände selbst „offenbar nicht schmutzig“ machte und die Quälereien seinen Untergebenen überließ, oder die in Auschwitz massenhaft vollzogenen Hinrichtungen des Polizei-Standgerichts unter Vorsitz des an der Universität Innsbruck promovierten Juristen und „Allgewaltige[n] von Oberschlesien, SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Dr. Mildner […], wo es vorkam, dass das Tribunal im Blut seiner Opfer stand“; S. 88ff. u. S. 150f.), war in erster Linie die konsequente Umsetzung dessen, woran sie glaubten. Der wissenschaftlichen Aufhellung jener Gedankenwelten und Milieus, die diesen alle Grundsätze klassischer Humanität außer Acht lassenden Glauben förderten und zementierten und die im alten Österreich offenbar besonders günstige Existenzbedingungen vorfanden, wird daher eine besondere Bedeutung zukommen.
Kapfenberg Werner Augustinovic