Original Ergebnisseite.

AAAKöbler, Gerhard, Petersburg in Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, 2016

 Suchtext: Petersburg

 exakte Suche

Ausgabe:  Absatz

90 Ergebnis(se) gefunden

 

Abs. 9 [1-4] seit Jahrhunderten daran gewöhnt, daß das geschieht, und geben den Bodensatz ihrer Verstimmung gegen frühere Vorgesetzte an ihre spätern Untergebenen weiter, sobald sie selbst in höhere Stellen gelangt sind. In der Diplomatie kommt dazu, daß diejenigen unter den Aspiranten, welche Vermögen oder die zufällige Kenntniß fremder Sprachen, namentlich der französischen, besitzen, schon darin einen Grund zur Bevorzugung sehn und deshalb der obern Leitung noch anspruchsvoller und zur Kritik geneigter gegenübertreten als Andre. Sprachkenntnisse, wie auch Oberkellner sie besitzen, bildeten bei uns leicht die Unterlage des eignen Glaubens an den Beruf zur Diplomatie, namentlich so lange unsre gesandschaftlichen Berichte, besonders die ad Regem, französisch sein mußten, wie es die nicht immer befolgte, aber bis ich Minister wurde amtlich in Kraft stehende Vorschrift war. Ich habe manche unter unsern ältern Gesandten gekannt, die, ohne Verständniß für Politik, lediglich durch Sicherheit im Französischen in die höchsten Stellen aufrückten; und auch sie sagten in ihren Berichten doch nur das, was sie französisch geläufig zur Verfügung hatten. Ich habe noch 1862 von Petersburg französisch amtlich zu berichten gehabt, und die Gesandten, welche auch ihre Privatbriefe an den Minister französisch schrieben, empfahlen sich dadurch als besonders berufen zur Diplomatie, auch wenn sie politisch als urtheilslos bekannt waren. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 188 Neben Gerlach und vielleicht in höherem Grade war Rauch seit 1848 von Einfluß auf den König. Sehr begabt, der fleischgewordene gesunde Menschenverstand, tapfer und ehrlich, ohne Schulbildung, mit den Tendenzen eines preußischen Generals von der besten Sorte, war er wiederholt als Militärbevollmächtigter in Petersburg in der Diplomatie thätig gewesen. Einmal war Rauch von Berlin in Sanssouci erschienen mit dem mündlichen Auftrage des Ministerpräsidenten Grafen Brandenburg, von dem Könige die Entscheidung über eine Frage von Wichtigkeit zu erbitten. Als der König, dem die Entscheidung schwer wurde, nicht zum Entschluß kommen konnte, zog endlich Rauch die Uhr aus der Tasche und sagte mit einem Blick auf das Zifferblatt: "Jetzt sind noch zwanzig Minuten, bis mein Zug abgeht; da werden Ew. Majestät doch nun befehlen müssen, ob ich dem Grafen Brandenburg Ja sagen soll oder Nee, oder ob ich ihm melden soll, daß Ew. Majestät nich Ja und nich Nee sagen wollen." Diese Aeußerung kam heraus in dem Tone der Gereiztheit, gedämpft durch die militärische Disciplin, als Ausdruck der Verstimmung, die bei dem klaren, entschiedenen und durch die lange fruchtlose Discussion ermüdeten General erklärlich war. Der König sagte: "Na, denn meinetwegen Ja", worauf Rauch sich sofort entfernte, um in beschleunigter Gangart durch die Stadt zum Bahnhof zu fahren. Nachdem der König eine Weile schweigend dagestanden hatte, wie wenn er die Folgen der widerwillig getroffenen Entscheidung noch erwöge, wandte er sich gegen Gerlach und mich und sagte: "Dieser Rauch! Er kann nicht richtig Deutsch sprechen, aber er hat mehr gesunden Menschenverstand als wir Alle," und darauf gegen Gerlach gewandt und das Zimmer verlassend: "Klüger wie Sie ist er immer schon gewesen." Ob der König darin Recht hatte, lasse ich dahingestellt; geistreicher war Gerlach, praktischer Rauch. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 259 Zu jener Zeit, November 1850, war die russische Auffassung der revolutionären Bewegung in Deutschland schon eine viel ruhigere als bei dem ersten Ausbruche im März 1848. Ich war befreundet mit dem russischen Militär-Attaché Grafen Benckendorf und erhielt 1850 im vertrauten Gespräche mit ihm den Eindruck, daß die deutsche einschließlich der polnischen Bewegung im Petersburger Cabinete nicht mehr in demselben Maße wie bei ihrem Ausbruche (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 260 [1-75] in Petersburg beunruhigte und als eine militärische Gefahr im Kriegsfalle aufgefaßt wurde. Im März 1848 erschien den Russen die Entwicklung der Revolution in Deutschland und Polen noch als etwas Unberechenbares und Gefährliches. Der erste russische Diplomat, der in Petersburg durch seine Berichte eine andre Ansicht vertrat, war der damalige Geschäftsträger in Frankfurt am Main, spätre Gesandte in Berlin, Baron von Budberg. Seine Berichte über die Verhandlungen und die Bedeutung der Paulskirche waren von Hause aus satirisch gefärbt, und die Geringschätzung, mit welcher dieser junge Diplomat von den Reden der deutschen Professoren und von der Machtstellung der Nationalversammlung in seinen Berichten sprach, hatte den Kaiser Nicolaus dergestalt befriedigt, daß Budberg's Carrière dadurch gemacht und er sehr schnell zum Gesandten und Botschafter befördert wurde. Er hatte in ihnen vom antideutschen Standpunkte eine analoge politische Schätzung zum Ausdruck gebracht, wie sie in den altpreußischen Kreisen in Berlin, in denen er früher gelebt hatte, in landsmannschaftlicher und besorgter Weise herrschend war, und man kann sagen, daß die Auffassung, als deren erster Erfinder er in Petersburg Carrière machte, dem Berliner "Casino" entsprungen war. Seitdem hatte man in Rußland nicht nur die militärische Stellung an der Weichsel wesentlich verstärkt, sondern auch einen geringern Eindruck von der damaligen militärischen Leistungsfähigkeit der Revolution sowohl wie der deutschen Regirungen gewonnen, und die Sprache, welche ich im November 1850 bei dem mir befreundeten russischen Gesandten Baron Meyendorff und seinen Landsleuten hörte, war eine im russischen Sinne vollkommen zuversichtliche, von einer persönlich wohlwollenden, aber für mich verletzenden Theilnahme für die Zukunft des befreundeten Preußens durchsetzt. Sie machte mir den Eindruck, daß man Oestreich für den stärkern und zuverlässigern Theil und Rußland selbst für stark genug hielt, um die Entscheidung zwischen beiden in die Hand zu nehmen. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 266 Nachdem die preußische Regirung sich entschlossen hatte, den von Oestreich reactivirten Bundestag zu beschicken und dadurch vollzählig zu machen, wurde der General von Rochow, der in Petersburg accreditirt war und blieb, provisorisch zum BundestagsGesandten ernannt. Gleichzeitig wurden zwei Legationsräthe für die Gesandschaft auf den Etat gebracht, ich selbst und Herr von Gruner. Mir wurde durch Se. Majestät und den Minister von Manteuffel vor meiner Ernennung zum Legationsrath die demnächstige Ernennung zum Bundestags-Gesandten in Aussicht gestellt. Rochow sollte mich einführen und anlernen, konnte aber selbst nicht geschäftsmäßig arbeiten und benutzte mich als Redacteur, ohne mich politisch au fait zu halten. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 270 Am 11. Mai 1851 traf ich in Frankfurt ein. Herr von Rochow mit weniger Ehrgeiz als Liebe zum Behagen, des Klimas und des anstrengenden Hoflebens in Petersburg müde, hätte lieber den Frankfurter Posten, in dem er alle seine Wünsche befriedigt fand, dauernd behalten, arbeitete in Berlin dafür, daß ich zum Gesandten in Darmstadt mit gleichzeitiger Accreditirung bei dem Herzog von Nassau und der Stadt Frankfurt ernannt werde, und wäre vielleicht auch nicht abgeneigt gewesen, mir den Petersburger Posten im Tausch zu überlassen. Er liebte das Leben am Rhein und den Verkehr mit den deutschen Höfen. Seine Bemühungen hatten indessen keinen Erfolg. Unter dem 11. Juli schrieb mir Herr von Manteuffel, daß der König meine Ernennung zum Bundestagsgesandten genehmigt habe. "Es versteht sich dabei von selbst," schrieb der Minister, "daß man Herrn von Rochow nicht brusquement wegschicken kann; ich beabsichtige daher, ihm heut noch einige Worte darüber zu schreiben, und glaube Ihres Einverständnisses gewiß zu sein, wenn ich in dieser Sache mit aller Rücksicht auf Herrn von Rochow's Wünsche verfahre, dem ich es in der That nur Dank wissen kann, daß er die schwierige und undankbare Mission angenommen hat im Gegensatz zu manchen andern Leuten, die immer mit der Kritik bei der Hand sind, wenn es aber auf das Handeln ankommt, sich zurückziehn. Daß ich Sie damit nicht meine, brauche ich nicht zu versichern, denn Sie sind ja auch mit uns in die Bresche getreten und werden sie, so denke ich, auch allein vertheidigen." (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 277 [1-82] stießen. Orden zu tragen ist für mich, außer in Petersburg und Paris, niemals ein Bedürfniß gewesen; an beiden Orten muß man auf der Straße irgend ein Band am Rock zeigen, wenn man polizeilich und bürgerlich mit der wünschenswerthen Höflichkeit behandelt werden will. Sonst habe ich in jedem Falle nur die durch die Gelegenheit gebotenen Decorationen angelegt; es ist mir immer als eine Chinoiserie erschienen, wenn ich wahrnahm, wie krankhaft der Sammlertrieb in Bezug auf Orden bei meinen Collegen und Mitarbeitern in der Bürokratie entwickelt war, wie Geheime Räthe, welche schon die ihnen aus der Brust quellende Ordenscascade nicht mehr gut beherrschen konnten, den Abschluß irgend eines kleinen Vertrages anbahnten, weil sie zur Vervollständigung ihrer Sammlung noch des Ordens des mitcontrahirenden Staates bedurften. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 306 [1-94] geltend machten. Ich habe zu seiner Ernennung nach Petersburg, später nach Paris mitgewirkt und Harry von Arnim aus der unwichtigen Stellung, in welcher ich ihn fand, schnell und nicht ohne Widerspruch in dem Cabinete befördert, aber an diesen beiden befähigtsten unter meinen diplomatischen Mitarbeitern dasselbe erlebt, wie Yglano an Anselmo in dem Chamissoschen Gedichte 1). (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 334 [1-101] accompli, und man muß jetzt wie nach einer verlorenen Schlacht die zerstreuten Kräfte sammeln, um dem Gegner sich wieder entgegen stellen zu können, und da ist denn das Nächste, daß in dem Vertrage alles auf gegenseitiges Einverständniß gestellt ist. Aber eben deshalb wird die nächste und auch sehr üble Folge sein, daß wir, sobald wir die uns richtig scheinende Auslegung geltend machen, der Doppelzüngigkeit und Wortbrüchigkeit angeklagt werden. Dagegen müssen wir uns zunächst dickfellig machen, dann aber dergleichen zuvorkommen, indem wir unsre Auslegung des Vertrages sofort aussprechen, sowohl in Wien als in Frankfurt, noch bevor eine Collision eingetreten ist. Denn die Dinge stehen so, daß noch immer einem kräftigen, muthigen auswärtigen Minister die Hände nicht gebunden sind. Wir machen alle Schritte in Petersburg selbstständig, können also in der Consequenz bleiben und können stets noch die Einigung erlangen und bei derselben Reciprocität und Alles, was in dem Vertrage fehlt, geltend machen. Budberg habe ich nach Kräften zu beschwichtigen gesucht; Niebuhr ist sehr thätig und eifrig auf diesem Felde und hat sich wie immer geschickt und vortrefflich benommen. Was hilft aber diese Flickerei, die zuletzt doch eine undankbare Arbeit ist. Es liegt in der Natur des Menschen, also auch unsres Herrn, daß wenn er mit einem Diener einen Bock oder vielmehr eine Ricke geschossen hat, er diesen zunächst hält und die besonnenen und treuen Freunde schlecht behandelt. In der Lage bin ich jetzt, und sie ist wahrlich nicht beneidenswerth 1). ... (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 348 Ich verkenne gewiß nicht gute Intentionen, wenn sie auch meiner Ueberzeugung nach nicht an der (richtigen) Stelle und noch weniger richtig ausgeführt sind, und ebensowenig das Recht von Interessen, wenn sie auch demjenigen, was ich für richtig halten muß, schnurstracks widersprechen. Aber ich verlange Wahrheit und Klarheit, und deren Mangel kann mich zur Desperation bringen. Mangel an Wahrheit nach außen kann ich unsrer Politik nun nicht zum Vorwurf machen: wohl aber Unwahrheit gegen uns selbst. Wir würden ganz anders dastehen, und Vieles unterlassen haben, wenn wir uns die eigentlichen Motive dazu eingestanden hätten, statt uns beständig vorzuspiegeln, daß die einzelnen Acte unsrer Politik Consequenzen der richtigen Grundgedanken derselben seien. Die fortgesetzte Theilnahme an den Wiener Conferenzen nach dem Einlaufen der englisch-französischen Flotte in die Dardanellen und jetzt zuletzt die Unterstützung der westmächtlich-österreichischen Forderungen in Petersburg, haben ihren wahren Grund in der kindischen Furcht, ,aus dem Concert européen hinausgedrängt zu (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 364 [1-107] Princip, denn ich halte mich an die heilige Schrift, daß man nicht Böses thun darf, daß Gutes daraus werde, weil derer, die das thun, Verdammniß ganz recht ist. Mit Bonaparte und dem Liberalismus buhlen ist aber böse, im gegebenen Falle aber außerdem auch meines Erachtens unweise. Sie vergessen (ein Fehler, in den Jeder fällt, der eine Weile von hier fort ist) die Persönlichkeiten, welche doch das Entscheidende sind. Wie können Sie solche indirecten Finasserien mit einem völlig principienlosen, unzuverlässigen Minister, der in den falschen Weg unwillkürlich hineingezogen wird, und mit einem, um nicht mehr zu sagen, unberechenbar eigenthümlichen Herrn machen. Bedenken Sie doch, daß Manteuffel principaliter Bonapartist ist, denken Sie an sein Benehmen bei dem coup d'état, an die von ihm damals patronisirte Quehl'sche Schrift, und wenn Sie etwas Neueres haben wollen, so kann ich Ihnen sagen, daß er jetzt an Werther (damals Gesandter in Petersburg) die thörichte Ansicht geschrieben hat, daß wenn man Rußland nützen wolle, man dem Vertrage vom 2. December beitreten müsse, um bei den Verhandlungen mitzusprechen. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 377 In dieser Situation trieb die Wochenblattspartei, wie sie auch genannt wurde, ein merkwürdiges Doppelspiel. Ich erinnere mich der umfangreichen Denkschriften, welche die Herrn unter sich austauschten und durch deren Mittheilung sie mitunter auch mich für ihre Sache zu gewinnen suchten. Darin war als ein Ziel aufgestellt, nach dem Preußen als Vorkämpfer Europas zu streben hätte, die Zerstückelung Rußlands, der Verlust der Ostseeprovinzen mit Einschluß von Petersburg an Preußen und Schweden, des Gesammtgebiets der Republik Polen in ihrer größten Ausdehnung und die Zersetzung des Ueberrestes durch Theilung zwischen Großund Klein-Russen, abgesehn davon, daß fast die Mehrheit der Klein-Russen schon dem Maximalgebiet der Republik Polen gehört hatte. Zur Rechtfertigung dieses Programms wurde mit Vorliebe die Theorie des Freiherrn von Haxthausen-Abbenburg (Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands) benutzt, daß die drei Zonen mit ihren einander ergänzenden Producten den hundert Millionen Russen, wenn sie vereinigt blieben, das Uebergewicht über Europa sichern müßten. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 381 [1-112] Petersburg behufs Unterweisung des Thronfolgers ausgearbeitet war, die in dem apokryphen, ungefähr um das Jahr 1810 in Paris entstandenen, Testamente Peters des Großen niedergelegten Grundzüge der russischen Politik auf die Gegenwart anwendet und Rußland mit einer gegen alle Staaten gerichteten Minirarbeit zum Zwecke der Weltherrschaft beschäftigt erscheinen läßt. Es ist mir später mitgetheilt worden, daß dieses in die ausländische, namentlich die englische Presse übergegangene Elaborat von Constantin Frantz geliefert war. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 385 In die Pläne der Ausschlachtung Rußlands hatte man den Prinzen von Preußen nicht eingeweiht. Wie es gelungen, ihn für eine Wendung gegen Rußland zu gewinnen, ihn, der vor 1848 seine Bedenken gegen die liberale und nationale Politik des Königs nur in den Schranken brüderlicher Rücksicht und Unterordnung geltend gemacht hatte, zu einer ziemlich activen Opposition gegen die Regirungspolitik zu bewegen, trat in einer Unterredung hervor, die ich mit ihm in einer der Krisen hatte, in welchen mich der König zum Beistande gegen Manteuffel nach Berlin berufen hatte. Ich wurde gleich nach meiner Ankunft zu dem Prinzen befohlen, der mir in einer durch seine Umgebung erzeugten Gemüthserregung den Wunsch aussprach, ich solle dem Könige im westmächtlichen und antirussischen Sinne zureden. Er sagte: "Sie sehn sich hier zwei streitenden Systemen gegenüber, von denen das eine durch Manteuffel, das andre, russenfreundliche, durch Gerlach und den Grafen Münster in Petersburg vertreten ist. Sie kommen frisch hierher, sind von dem Könige gewissermaßen als Schiedsmann berufen. Ihre Meinung wird daher den Ausschlag geben, und ich beschwöre Sie, sprechen Sie sich so aus, wie es nicht nur die europäische Situation, sondern auch ein richtiges Freundesinteresse für Rußland erfordert. Rußland ruft ganz Europa gegen sich auf und wird schließlich unterliegen. Alle diese prächtigen Truppen," - es war dies nach den für die Russen nachtheiligen Schlachten vor Sebastopol - "alle unsre Freunde, die dort geblieben sind," - er nannte mehre - "würden noch leben, wenn wir richtig eingegriffen und Rußland zum Frieden gezwungen hätten." Es würde damit enden, daß Rußland, unser alter Freund und Bundesgenosse, vernichtet oder in gefährlicher Weise geschädigt würde. Unsre, von Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 8 (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 400 [1-118] stellten wir, wenigstens von Hause aus, bei den deutschen Höfen ein Preußisches Programm auf, und keiner von ihnen entschied sich, bevor wir uns nicht mit Oestreich verständigt hatten. Jetzt verständigt sich Baiern mit Wien, und wir fügen uns im Rummel mit Darmstadt und Oldenburg. Damit geben wir das letzte her, was man einstweilen von uns braucht, und hat man den Bundesbeschluß einschließlich des Preußischen Votums erst in der Tasche, so werden wir bald sehn, wie Buol mit achselzuckendem Bedauern von der Unmöglichkeit spricht, den Widerspruch der Westmächte gegen unsre Zulassung zu überwinden. Auf Rußlands Unterstützung können wir dabei, meinem Gefühl nach, nicht rechnen, denn den Russen wird die Verstimmung ganz lieb sein, die bei uns folgen muß, wenn wir den letzten Rest unsrer Politik für ein EntreeBillet zu den Conferenzen hergegeben haben. Außerdem fürchten die Russen sich offenbar mehr vor unsrer "vermittelnden" Unterstützung der gegnerischen Politik, als daß sie irgend einen Beistand von uns auf den Conferenzen erwarteten. Meine Gespräche mit Brunnow und Petersburger Briefe, die ich gesehn, lassen mir darüber, trotz aller diplomatischen Schlauheit des erstern, keinen Zweifel. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 422 [1-124] befreundeten Höfen gehalten, jedes verstimmende Detail nach Hause zu melden; namentlich als ich in Petersburg mit einem Vertrauen beehrt wurde, welches ich fremden Diplomaten in Berlin zu gewähren für bedenklich gehalten haben würde. Jede zur Erregung von Verstimmung zwischen uns und Rußland geeignete Meldung würde bei der damals und in der Regel antirussischen Politik der Königin zur Lockerung unsrer russischen Beziehungen ausgenutzt worden sein, sei es aus Abneigung gegen Rußland und aus vorübergehenden Popularitätsrücksichten, sei es aus Wohlwollen für England und in der Voraussetzung, daß Wohlwollen für England und selbst für Frankreich einen höhern Grad von Civilisation und Bildung anzeige als Wohlwollen für Rußland. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 525 Am auffallendsten war mir der Unterschied in den Anordnungen für die Circulation. Das Versailler Schloß bietet dafür eine viel größere Leichtigkeit, als das Berliner vermöge der größern Zahl und, abgesehn von dem Weißen Saale, der größern Ausdehnung der Räume. Hier war den Soupirenden Nro. 1 für ihren Rückzug derselbe Weg angewiesen, wie den Hungrigen Nro. 2, deren stürmischer Anmarsch schon eine weniger höfische gesellschaftliche Gewöhnung verrieth. Es kamen körperliche Zusammenstöße der gestickten und bebänderten Herrn und reich eleganten Damen vor, die in Handgreiflichkeiten und Verbalinjurien übergingen, wie sie bei uns im Schlosse unmöglich wären. Ich zog mich mit dem befriedigenden Eindruck zurück, daß trotz alles Glanzes des kaiserlichen Hofes der Hofdienst, die Erziehung und die Manieren der Hofgesellschaft bei uns, wie in Petersburg und Wien höher standen als in Paris, und daß die Zeiten hinter uns lagen, da man in Frankreich und am Pariser Hofe eine Schule der Höflichkeit und des guten Benehmens durchmachen konnte. Selbst die, namentlich im Vergleich mit Petersburg, veraltete Etikette kleiner deutscher Höfe war würdevoller als die imperialistische Praxis. Freilich habe ich diesen Eindruck schon unter Louis Philipp gehabt, während dessen Regirung es in Frankreich gradezu Mode wurde, sich in der Richtung übertriebener Ungenirtheit und des Verzichtes auf Höflichkeit besonders gegen Damen hervorzuthun. War es nun auch in dieser Beziehung während des zweiten Kaiserreichs besser geworden, so blieben doch der Ton in der amtlichen und höfischen Gesellschaft und die Haltung des Hofes selbst gegen die drei östlichen großen Höfe zurück. Nur in den der amtlichen Welt fremden legitimistischen Kreisen war es zur Zeit Louis Philipp's sowohl, wie Louis Napoleon's anders, der Ton tadellos, höflich und gastlich, mit gelegentlichen Ausnahmen der jüngern, mehr verpariserten Herrn, die ihre Gewohnheiten nicht der Familie, sondern dem Club entnahmen. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 570 [1-171] keinen langen. Wir haben ja schon einmal Deutschland unter russischfranzösischem Einflusse gesehen 1801-1803, wo die Bisthümer säcularisirt und nach Pariser und Petersburger Vorschriften vertheilt wurden; Preußen, was sich damals gut mit den beiden Staaten und schlecht mit Oesterreich und England stand, erhielt auch etwas ab bei der Theilung, aber nicht viel und sein Einfluß war geringer als je. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 671 Im Januar 1859 machte mir auf einem Balle bei Moustier oder Karolyi der Graf Stillfried scherzhafte Anspielungen, aus denen ich schloß, daß meine schon mehrmals geplante Versetzung von Frankfurt nach Petersburg erfolgen werde, und fügte dazu die wohlwollende Bemerkung: Per aspera ad astra. Die Wissenschaft des Grafen beruhte ohne Zweifel auf seinen intimen Beziehungen zu allen Katholiken im Haushalte der Prinzessin, vom ersten Kammerherrn bis zum Kammerdiener. Meine Beziehungen zu den Jesuiten waren damals noch ungetrübt, und ich besaß noch Stillfrieds Wohlwollen. Ich verstand die durchsichtige Anspielung, begab mich am folgenden Tage (26. Januar) zu dem Regenten und sagte offen, ich hörte, daß ich nach Petersburg versetzt werden sollte, und bat um Erlaubniß, mein Bedauern darüber auszusprechen, in der Hoffnung, daß es noch rückgängig gemacht werden könnte. Die erste Gegenfrage war: "Wer hat Ihnen das gesagt?" Ich erwiderte, ich würde indiscret sein, wenn ich die Person nennen wollte, ich hätte es aus dem Jesuitenlager gehört, mit dem ich alte Fühlung hätte, und ich bedauerte es, weil ich glaubte, in Frankfurt, in diesem Fuchsbau des Bundestages, dessen Ein- und Ausgänge ich bis auf die Nothröhren kennen gelernt hätte, brauchbarere Dienste leisten zu können als irgend einer meiner Nachfolger, der die sehr complicirte Stellung, die auf den Beziehungen zu vielen Höfen und Ministern beruhe, erst wieder kennen lernen müsse, da ich meine achtjährige Erfahrung auf diesem Gebiete, die ich in bewegten Zuständen gemacht, nicht vererben könnte. Mir wäre jeder deutsche Fürst und jeder deutsche Minister und die Höfe der bundesfürstlichen Residenzen persönlich bekannt, und ich erfreute mich, so weit es für Preußen erreichbar sei, eines Einflusses in der Bundesversammlung und an den einzelnen Höfen. Dieses erworbene und erkämpfte Capital der preußischen Diplomatie würde zwecklos zerstört durch (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 675 Darauf der Regent: "Ich begreife nicht, wie Sie die Sache so bitter auffassen können; Petersburg hat doch immer für den obersten Posten der preußischen Diplomatie gegolten, und Sie sollten es als einen Beweis hohen Vertrauens aufnehmen, daß ich Sie dahin schicke." (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 711 Die Beschränktheit der Uebrigen gab mir der Prinz zu. Im Ganzen blieb er bei dem Bestreben, mir meine Mission nach Petersburg im Lichte einer Auszeichnung erscheinen zu lassen, und machte mir den Eindruck, als fühle er eine Erleichterung, daß auf diese Weise die auch für ihn unerfreuliche Frage meiner Versetzung durch meine Initiative der Besprechung erledigt war. Die Audienz endete in gnädiger Form auf Seiten des Regenten und auf meiner Seite mit dem Gefühl ungetrübter Anhänglichkeit an den Herrn und gesteigerter Geringschätzung gegen die Streber, deren von der Prinzessin unterstützten Einflüssen er damals unterlag. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 715 Ich wurde am 29. Januar 1859 zum Gesandten in Petersburg ernannt, verließ Frankfurt aber erst am 6. März und verweilte bis zum 23. desselben Monats in Berlin. Während dieser Zeit hatte ich Gelegenheit, von der Verwendung der östreichischen geheimen Fonds, der ich bis dahin nur in der Presse begegnet war, einen praktischen Eindruck zu gewinnen. Der Bankier Levinstein, welcher seit Jahrzehnten bei meinen Vorgesetzten und in deren vertraulichen Aufträgen in Wien und Paris mit den Leitern der auswärtigen Politik und mit dem Kaiser Napoleon in Person verkehrt hatte, richtete am Morgen des Tages, auf den meine Abreise festgesetzt war, das nachstehende Schreiben an mich: (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 719 In Wien ist man sehr unbehaglich wegen Ihrer Petersburger Mission, weil man Sie für principiellen Gegner hält. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 734 Petersburg. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 738 [1-219] und ausgenutzt hätte, was ja möglich war ohne weitre Repressionen derart, wie Oestreich sie in Prag und Wien durch Windischgrätz und in Ungarn durch russische Hülfe zu bewirken genöthigt war. In der Petersburger Gesellschaft ließen sich zu meiner Zeit drei Generationen unterscheiden. Die vornehmste, die europäisch und classisch gebildeten Grands Seigneurs aus der Regirungszeit Alexanders I., war im Aussterben. Zu ihr konnte man noch rechnen Mentschikow, Woronzow, Bludow, Nesselrode und, was Geist und Bildung betrifft, Gortschakow, dessen Niveau durch seine übertriebene Eitelkeit etwas herabgedrückt war im Vergleich mit den übrigen Genannten, Leuten, die classisch gebildet waren, gut und geläufig nicht nur französisch, sondern auch deutsch sprachen und der crême europäischer Gesittung angehörten. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 740 [1-220] alexandrinischen Zeitalter angehörte und in ihm durch Intelligenz und Tapferkeit sich aus der Stellung eines jungen Offiziers in einem Linienregimente, in dem er die französischen Kriege mitgemacht, zu einem Staatsmanne emporgearbeitet hatte, dessen Wort bei dem Kaiser Nicolaus erheblich in's Gewicht fiel. Die Annehmlichkeit seines gastfreien Hauses in Berlin wie in Petersburg wurde wesentlich erhöht durch seine Gemalin, eine männlich kluge, vornehme, ehrliche und liebenswürdige Frau, die in noch höherm Grade als ihre Schwester, Frau von Vrints in Frankfurt, den Beweis lieferte, daß in der gräflich Buol'schen Familie der erbliche Verstand ein Kunkellehn war. Ihr Bruder, der östreichische Minister Graf Vuol, hatte daran nicht den Antheil geerbt, der zur Leitung der Politik einer großen Monarchie unentbehrlich ist. Die beiden Geschwister standen einander persönlich nicht näher als die russische und die östreichische Politik. Als ich 1852 in besondrer Mission in Wien beglaubigt war, war das Verhältniß zwischen ihnen noch derart, daß Frau von Meyendorff geneigt war, mir das Gelingen meiner für Oestreich freundlichen Mission zu erleichtern, wofür ohne Zweifel die Instructionen ihres Gemals maßgebend waren. Der Kaiser Nicolaus wünschte damals unsre Verständigung mit Oestreich. Als ein oder zwei Jahre später, zur Zeit des Krimkriegs, von meiner Ernennung nach Wien die Rede war, fand das Verhältniß zwischen ihr und ihrem Bruder in den Worten Ausdruck: sie hoffe, daß ich nach Wien kommen und "dem Karl ein Gallenfieber anärgern würde". Frau von Meyendorff war als Frau ihres Gemals patriotische Russin und würde auch ohnedies schon nach ihrem persönlichen Gefühl die feindselige und undankbare Politik nicht gebilligt haben, zu welcher Graf Buol Oestreich bewogen hatte. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 746 Auch in Petersburg würde ich es für zweckmäßig gehalten haben, auf der Straße die Andeutung eines höhern russischen Ordens zu tragen, wenn die großen Entfernungen es nicht mit sich gebracht hätten, daß man sich in den Straßen mehr zu Wagen mit Tressenlivree als zu Fuße zeigte. Schon zu Pferde, wenn in Civil und ohne Reitknecht, lief man Gefahr, von den durch ihr Costüm kenntlichen Kutschern der höhern Würdenträger wörtlich und thätlich angefahren zu werden, wenn man mit ihnen in unvermeidliche Berührung gerieth; und wer hinreichend Herr seines Pferdes war und eine Gerte in der Hand hatte, that wohl, sich bei solchen Conflicten als gleichberechtigt mit dem Insassen des Wagens zu legitimiren. Von den wenigen Reitern in der Umgebung von Petersburg konnte man in der Regel annehmen, daß sie deutsche und englische Kaufleute waren und in dieser ihrer Stellung ärgerliche Berührungen nach Möglichkeit vermieden und lieber ertrugen, als sich bei den Behörden zu beschweren. Offiziere machten nur in ganz geringer Zahl von den guten Reitwegen auf den Inseln und weiter außerhalb der Stadt Gebrauch, und die es thaten, waren in der Regel deutschen Herkommens. Das Bemühn höhern Ortes, den Offizieren mehr Geschmack am Reiten beizubringen, hatte keinen dauernden Erfolg und bewirkte nur, daß nach einer jeden Anregung derart die kaiserlichen Equipagen einige Tage lang mehr Reitern als gewöhnlich begegneten. Eine Merkwürdigkeit war es, daß als die besten Reiter unter den Offizieren die beiden Admiräle anerkannt waren, der Großfürst Constantin und der Fürst Mentschikow. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 748 [1-223]in guten Manieren und gesellschaftlichem Tone die jüngere zeitgenössische Generation zurück stand gegen die vorhergehende des Kaisers Nicolaus und beide wieder in europäischer Bildung und Gesammterziehung gegen die alten Herrn aus der Zeit Alexanders I. Dessenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreise und der "Gesellschaft" der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häusern der Aristokratie, namentlich so weit in diesen die Herrschaft der Damen reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte sich erheblich, wenn man mit jüngern Herrn in Situationen gerieth, welche nicht durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren. Ich will nicht entscheiden, wie weit das Wahrgenommne aus einer socialen Reaction der jüngern Gesellschaftsschicht gegen die früher wirksam gewesenen deutschen Einflüsse oder aus einem Sinken der Erziehung in der jüngern russischen Gesellschaft seit der Epoche des Kaisers Alexander I. zu erklären ist, vielleicht auch aus der Contagion, welche die sociale Entwicklung der Pariser Kreise auf die der höhern russischen Gesellschaft auszuüben pflegt. Gute Manieren und vollkommne Höflichkeit sind in den herrschenden Kreisen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut nicht mehr so verbreitet, wie es früher der Fall war, und wie ich sie in Berührung mit ältern Franzosen und mit französischen und noch gewinnender bei russischen Damen jeden Alters kennen gelernt habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu einem intimen Verkehr mit der jüngsten erwachsenen Generation nöthigte, so habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die angenehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Gesellschaft verdanke. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 753 Wenn ich in Petersburg auf einem der kaiserlichen Schlösser Sarskoe oder Peterhof anwesend war, auch nur, um mit dem daselbst in Sommerquartier lebenden Fürsten Gortschakow zu conferiren, so fand ich in der mir angewiesenen Wohnung im Schlosse für mich und einen Begleiter ein Frühstück von mehren Gängen angerichtet, mit drei oder vier Sorten hervorragend guter Weine; andre sind mir in der kaiserlichen Verpflegung überhaupt niemals vorgekommen. Gewiß wurde in dem Haushalte viel gestohlen, aber die Gäste des Kaisers litten darunter nicht; im Gegentheil, ihre Verpflegung war auf reiche Brosamen für den "Dienst" berechnet. Keller und Küche waren absolut einwandsfrei, auch in Vorkommnissen, wo sie uncontrollirt blieben. Vielleicht hatten die Beamten, denen die nicht getrunknen Weine verblieben, durch lange Erfahrung schon einen zu durchgebildeten Geschmack gewonnen, um Unregelmäßigkeiten zu dulden, unter denen die Qualität der Lieferung gelitten hätte. Die Preise der Lieferungen waren nach allem, was ich erfuhr, allerdings gewaltig hoch. Von der Gastfreiheit des Haushalts bekam ich eine Vorstellung, wenn meine Gönnerin, die Kaiserin-Witwe Charlotte, Schwester unsers Königs, mich einlud. Dann waren für die mit mir eingeladnen Herrn der Gesandschaft zwei, und für mich drei Diners der kaiserlichen Küche entnommen. In meinem Quartier wurden für mich und meine Begleiter Frühstücke und Diners angerichtet und berechnet, wahrscheinlich auch gegessen und getrunken, als ob meine und der Meinigen Einladung zu der Kaiserin gar nicht erfolgt sei. Das Couvert für mich wurde einmal in meinem Quartier mit allem Zubehör auf- und abgetragen, das zweite Mal an der Tafel der Kaiserin in Gemeinschaft mit denen meiner Begleiter aufgelegt, und auch dort kam ich mit ihm nicht in Berührung, da ich vor dem Bette der kranken Kaiserin ohne meine Begleiter in kleiner Gesellschaft zu speisen hatte. Bei solchen Gelegenheiten pflegte die (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 756 Bekannt ist, daß dem Kaiser einmal das ungewöhnliche Quantum von Talg aufgefallen war, welches jedes Mal in den Rechnungen erschien, wenn der Prinz von Preußen zum Besuche dort war, und daß schließlich ermittelt wurde, daß er bei seinem ersten Besuche sich durchgeritten und am Abend das Verlangen nach etwas Talg gestellt hatte. Das verlangte Loth dieses Stoffes hatte sich bei spätern Besuchen in Pud verwandelt. Die Aufklärung erfolgte zwischen den hohen Herrschaften persönlich und hatte eine Heiterkeit zur Folge, welche den betheiligten Sündern zu Gute kam.Von einer andern russischen Eigenthümlichkeit gab es bei meiner ersten Anwesenheit in Petersburg 1859 eine Probe. In (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 757 [1-227] den ersten Tagen des Frühlings machte damals die zum Hofe gehörige Welt ihren Spaziergang in dem Sommergarten zwischen dem Pauls-Palais und der Newa. Dort war es dem Kaiser aufgefallen, daß in der Mitte eines Rasenplatzes ein Posten stand. Da der Soldat auf die Frage, weshalb er da stehe, nur die Auskunft zu geben wußte: es ist befohlen, so ließ sich der Kaiser durch seinen Adjutanten auf der Wache erkundigen, erhielt aber auch keine andre Aufklärung, als daß der Posten Winter und Sommer gegeben werde. Der ursprüngliche Befehl sei nicht mehr zu ermitteln. Die Sache wurde bei Hofe zum Tagesgespräch und gelangte auch zur Kenntniß der Dienerschaft. Aus dieser meldete sich ein alter Pensionär und gab an, daß sein Vater ihm gelegentlich im Sommergarten gesagt habe, während sie an der Schildwache vorbeigegangen: "Da steht er noch immer und bewacht die Blume; die Kaiserin Katharina hat an der Stelle einmal ungewöhnlich früh im Jahre ein Schneeglöckchen wahrgenommen und befohlen, man solle sorgen, daß es nicht abgepflückt werde." Dieser Befehl war durch Aufstellung einer Schildwache zur Ausführung gebracht worden, und seitdem hatte der Posten Jahr aus Jahr ein gestanden. Dergleichen erregt unsre Kritik und Heiterkeit, ist aber ein Ausdruck der elementaren Kraft und Beharrlichkeit, auf denen die Stärke des russischen Wesens dem übrigen Europa gegenüber beruht. Man erinnert sich dabei der Schildwachen, die während der Ueberschwemmung in Petersburg 1825, im Schipka-Passe 1877 nicht abgelöst wurden, und von denen die Einen ertranken, die Andern auf ihren Posten erfroren. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 759 Während des italienischen Krieges glaubte ich noch an die Möglichkeit, in der Stellung eines Gesandten in Petersburg, wie ich es von Frankfurt aus mit wechselndem Erfolge versucht hatte, (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 760 [1-228] auf die Entschließungen in Berlin einwirken zu können, ohne mir klar zu machen, daß die übermäßigen Anstrengungen, die ich mir zu diesem Zwecke in meiner Berichterstattung auferlegte, ganz fruchtlos sein mußten, weil meine Immediatberichte und meine in Form eigenhändiger Briefe gefaßten Mittheilungen entweder garnicht zur Kenntniß des Regenten gelangten oder mit Commentaren, die jeden Eindruck hinderten. Meine Ausarbeitungen hatten außer einer Complicirung der Krankheit, in welche ich durch ärztliche Vergiftung gefallen war, nur die Folge, daß die Genauigkeit meiner Berichte über die Stimmungen des Kaisers verdächtigt wurde, und um mich zu controlliren, der Graf Münster, früher Militärbevollmächtigter in Petersburg, dorthin geschickt wurde. Ich war im Stande, dem mir befreundeten Inspicienten zu beweisen, daß meine Meldungen auf der Einsicht eigenhändiger Bemerkungen des Kaisers am Rande der Berichte russischer Diplomaten beruhten, die Gortschakow mir vorgelegt hatte, und daneben auf mündlichen Mittheilungen persönlicher Freunde, die ich in dem Cabinet und am Hofe besaß. Die eigenhändigen Marginalien des Kaisers waren mir vielleicht mit berechneter Indiscretion vorgelegt worden, damit ihr Inhalt auf diesem weniger verstimmenden Wege nach Berlin gelangen sollte. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 762 [1-229] aus diesem Vorgange die Wahrscheinlichkeit zu entnehmen, daß nur dieser eine unsrer Chiffres sich im russischen Besitze befand. Die Sicherstellung des Chiffres war in Petersburg besonders schwierig, weil jede Gesandschaft russische Diener und Subalterne nothwendig im Innern des Hauses verwenden mußte und die politische Polizei unter diesen sich leicht Agenten verschaffte. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 764 Auch in Wien haben früher ähnliche Einrichtungen bestanden. Vor Erbauung der Eisenbahnen hat es Zeiten gegeben, in denen nach Ueberschreitung der Grenze ein östreichischer Beamter zu dem preußischen Courier in den Wagen stieg, und unter Assistenz des Letztern die Depeschen mit gewerbsmäßigem Geschicke geöffnet, geschlossen und excerpirt wurden, bevor sie an die Gesandschaft in Wien gelangten. Noch nach dem Aufhören dieser Praxis galt es für eine vorsichtige Form amtlicher Mittheilung von Cabinet zu Cabinet nach Wien oder Petersburg, wenn dem dortigen preußischen Gesandten mit einfachem Postbriefe geschrieben wurde. Der Inhalt wurde von beiden Seiten als insinuirt angesehn, und man bediente sich dieser Form der Insinuation gelegentlich dann, wenn die Wirkung einer unangenehmen Mittheilung im Interesse der Tonart des formalen Verkehrs abgeschwächt werden sollte. Wie es in der Post von Thurn und Taxis mit dem Briefgeheimniß bestellt war, (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 787 Neuling in dem Klima von Petersburg, ging ich im Juni 1859 nach anhaltendem Reiten in einer überheizten Reitbahn ohne Pelz nach Hause, hielt mich auch noch unterwegs auf, um exercirenden Rekruten zuzusehn. Am folgenden Tage hatte ich Rheumatismus in allen Gliedern, mit dem ich längere Zeit zu kämpfen hatte. Als die Zeit herankam abzureisen, um meine Frau nach Petersburg zu holen, war ich übrigens wieder hergestellt, nur daß sich in dem linken Beine, das ich auf dem Jagdausflug nach Schweden im Jahre 1857 durch einen Sturz vom Felsen beschädigt hatte 1), und das infolge unvorsichtiger Behandlung der locus minoris resistentiae geworden war, ein geringfügiger Schmerz fühlbar machte. Der durch die frühere Großherzogin von Baden mir bei der Abreise empfohlne Dr. Walz erbot sich, mir ein Mittel dagegen zu verschreiben, und begegnete meiner Erklärung, ich fühle kein Bedürfniß etwas anzuwenden, da der Schmerz gering sei, mit der Versicherung, die Sache könne auf der Reise schlimmer werden und es sei rathsam, vorzubeugen. Das Mittel sei ein ganz leichtes; er werde mir ein Pflaster in die Kniekehle legen, welches in keiner Weise belästige, nach einigen Tagen von selbst abfallen und nur eine Röthe hinterlassen werde. Mit der Vorgeschichte dieses aus Heidelberg stammenden Arztes noch unbekannt, gab ich leider seinem Zureden nach. Vier Stunden, nachdem ich das Pflaster aufgelegt und fest geschlafen hatte, wachte ich über heftige Schmerzen auf, riß das Pflaster ab, ohne seine Bestandtheile von der schon wund gefressenen (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 790 Er war auf Grund einer Empfehlung der verwitweten Großherzogin Sophie von Baden Dirigent sämmtlicher Kinderhospitäler in Petersburg geworden. Meine spätern Ermittelungen ergaben, daß er der Sohn des Universitätsconditors in Heidelberg war, als Student nicht gearbeitet und keine Prüfung bestanden hatte. Seine Salbe hatte eine Vene zerstört, und ich habe viele Jahre lang schwer daran gelitten. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 792 [1-236] eine Stelle hoch darüber. Ich lehnte ab und wurde, nachdem in Berlin verschiedne Behandlungen erfolglos versucht waren, durch die Bäder von Nauheim unter Leitung des Professors Benecke aus Marburg so weit wiederhergestellt, daß ich gehn, auch reiten und im October den Prinzregenten nach Warschau zur Zusammenkunft mit dem Zaren begleiten konnte. Während ich auf der Rückreise nach Petersburg Herrn von Below in Hohendorf im November einen Besuch machte, riß sich nach ärztlicher Meinung der Trombus los, der sich in der zerstörten Vene gebildet und festgesetzt hatte, gerieth in den Blutumlauf und verursachte eine Lungenentzündung, die von den Aerzten für tödtlich gehalten, aber in einem Monate langen Siechthum überwunden wurde. Merkwürdig sind mir heut die Eindrücke, die damals ein sterbender Preuße über Vormundschaft hatte. Mein erstes Bedürfniß nach meiner ärztlichen Verurtheilung war die Niederschrift einer letztwilligen Verfügung, durch welche jede gerichtliche Einmischung in die eingesetzte Vormundschaft ausgeschlossen wurde. Hierüber beruhigt sah ich meinem Ende mit der Bereitwilligkeit entgegen, die unerträgliche Schmerzen gewähren. Zu Anfang des März 1860 war ich so weit, nach Berlin reisen zu können, wo ich, meine Genesung abwartend, an den Sitzungen des Herrenhauses Theil nahm und bis in den Mai verweilte. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 796 Während dieser Wochen regten der Fürst von Hohenzollern und Rudolf von Auerswald bei dem Regenten meine Ernennung zum Minister des Auswärtigen an. Es fand infolge dessen im Palais eine Art von Conseil statt, das aus dem Fürsten, Auerswald, Schleinitz und mir bestand. Der Regent leitete die Besprechung mit der Aufforderung an mich ein, das Programm zu entwickeln, zu welchem ich riethe. Ich legte dasselbe in der Richtung, die ich später als Minister verfolgt habe, in so weit offen dar, daß ich als die schwächste Seite unsrer Politik ihre Schwäche gegen Oestreich bezeichnete, von der sie seit Olmütz und besonders in den letzten Jahren während der italienischen Krisis beherrscht gewesen sei. Könnten wir unsre deutsche Aufgabe im Einverständniß mit Oestreich lösen, um so besser. Die Möglichkeit würde aber erst vorliegen, wenn man in Wien die Ueberzeugung hätte, daß wir im entgegengesetzten Falle auch den Bruch und den Krieg nicht fürchteten. Die zur Durchführung unsrer Politik wünschenswerthe Fühlung mit Rußland zu bewahren, würde gegen Oestreich leichter sein als mit Oestreich. Unmöglich aber schiene mir das auch im letztern Falle nicht, nach meiner in Petersburg gewonnenen Kenntniß des russischen Hofes und der dort leitenden Einflüsse. Wir hätten dort aus dem Krimkriege und den polnischen Verwicklungen (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 829 Nach Ihrem Schreiben darf ich hoffen, daß Sie nicht vor der Krönung nach Petersburg zurückkehren werden. Ich halte es für einen großen politischen Fehler, daß die Kreuzzeitung das KrönungsManifest so schonungslos kritisirt hat *). Ein nicht geringerer würde es sein, wenn die Anhänger des Blatts bei der Ceremonie fehlten. Das sagen Sie Moritz. Man hat durch jenen unglücklichen Artikel viel Terrain verloren; es muß wiedergewonnen werden. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 838 [1-250] wohl auch die Erinnerung an meine Kritik der Befähigung des neuen Cabinets, die ich ihm vor meinem Abgange nach Petersburg gegeben hatte 1). (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 841 Ich kam damals noch nicht in die Lage, seinen Wunsch erfüllen zu können, hatte auch keinen Drang dazu. Schon als ich von Petersburg nach Berlin berufen wurde, hatte ich nach den Windungen unsrer parlamentarischen Politik annehmen können, daß diese Frage an mich herantreten würde. Ich kann nicht sagen, daß mich diese Aussicht angesprochen, thatenfreudig gestimmt hätte, mir fehlte der Glaube an dauernde Festigkeit Sr. Majestät häuslichen Einflüssen gegenüber; ich erinnere mich, daß ich in Eydtkuhnen den Schlagbaum der heimathlichen Grenze nicht mit dem freudigen Gefühl passirte, wie bis dahin bei jedem ähnlichen Vorkommniß. Ich war bedrückt von der Sorge, schwierigen und verantwortlichen Geschäften entgegen zu gehn und auf die angenehme und nicht (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 860 [1-255] mindestens bis zum Winter oder länger hier zu bleiben. Meine Sachen und Wagen sind noch in Petersburg, ich muß sie irgendwo unterbringen; außerdem habe ich die Gewohnheiten eines achtbaren Familienvaters, zu denen gehört, daß man irgendwo einen festen Wohnsitz hat, und der fehlt mir eigentlich seit Juli v. J., wo mir Schleinitz zuerst sagte, daß ich versetzt würde. Sie thun mir Unrecht, wenn Sie glauben, daß ich mich sträube; ich habe im Gegentheil lebhafte Anwandlungen von dem Unternehmungsgeist jenes Thieres, welches auf dem Eise tanzen geht, wenn ihm zu wohl wird. - Ich bin den Adreßdebatten einigermaßen gefolgt und habe den Eindruck, daß sich die Regirung in der Commission, vielleicht auch im Plenum, mehr hergegeben hat, als nützlich war. Was liegt eigentlich an einer schlechten Adresse? Die Leute glauben mit der angenommnen einen Sieg erfochten zu haben. In einer Adresse führt eine Kammer Manöver mit markirtem Feinde und Platzpatronen auf. Nehmen die Leute das Scheingefecht für ernsten Sieg und zerstreuen sich plündernd und marodirend auf Königlichem Rechtsboden, so kommt wohl die Zeit, daß der markirte Feind seine Batterien demaskirt und scharf schießt. Ich vermisse etwas Gemüthlichtkeit in unsrer Auffassung; Ihr Brief athmet ehrlichen Kriegerzorn, geschärft von des Kampfes Staub und Hitze. Sie haben, ohne Schmeichelei, vorzüglich geantwortet, aber es ist eigentlich schade drum, die Leute verstehn kein Deutsch. Unsern freundlichen Nachbar hier habe ich ruhig und behäbig gefunden, sehr wohlwollend für uns, sehr geneigt, die Schwierigleiten der ‚deutschen Frage' zu besprechen; er kann seine Sympathien keiner der bestehenden Dynastien versagen, aber er hofft, daß Preußen die große ihm gestellte Aufgabe mit Erfolg lösen werde, die deutsche nämlich, dann werde die Regirung auch im Innern Vertrauen gewinnen. Lauter schöne Worte. Um zu erklären, daß ich mich bisher nicht recht wohnlich einrichte, sage ich den Fragern, daß ich in Kurzem für einige Monat Urlaub zu nehmen denke, um dann mit meiner Frau wiederzukommen. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 896 Meine Kreuz- und Querzüge in den Pyrenäen haben gemacht, daß ich Ihren Brief vom 31. [August] erst heut hier vorfinde. Ich hatte auch auf einen von Bernstorff gehofft, der mir vor vier Wochen schrieb, daß sich im September die Frage wegen des Personalwechsels jedenfalls entscheiden müsse. Ihre Zeilen lassen mich leider vermuthen, daß die Ungewißheit um Weihnachten noch dieselbe sein wird wie jetzt. Meine Sachen liegen noch in Petersburg und werden dort einfrieren, meine Wagen sind in Stettin, meine Pferde bei Berlin auf dem Lande, meine Familie in Pommern, ich selbst auf der Landstraße. Ich gehe jetzt nach Paris zurück, obschon ich dort weniger wie je zu thun habe, mein Urlaub ist aber um. Mein Plan ist nun, Bernstorff vorzuschlagen, daß ich nach Berlin komme, um das Weitre mündlich zu besprechen 2). Ich habe das Bedürfniß, einige Tage in Reinfeld zu sein, nachdem ich die Meinigen seit (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 933 Das Deficit auf unsrer Seite war einmal durch Verwandschafts-Gefühl, durch die Gewohnheit der Abhängigkeit, in welcher die geringere Energie von der größern stand, sodann durch den Irrthum bedingt, als ob Nicolaus dieselben Gesinnungen wie Alexander I. für uns hege, und dieselben Ansprüche auf Dankbarkeit aus der Zeit der Freiheitskriege habe. In der That aber trat während der Regirung des Kaisers Nicolaus kein im deutschen Gemüth wurzelndes Motiv hervor, unsre Freundschaft mit Rußland auf dem Fuße der Gleichheit zu pflegen und mindestens einen analogen Nutzen daraus zu ziehn, wie Rußland aus unsrer Dienstleistung. Etwas mehr Selbstgefühl und Kraftbewußtsein würde unsern Anspruch auf Gegenseitigkeit in Petersburg zur Anerkennung gebracht haben, um so mehr, als 1830 nach der Juli-Revolution Preußen, trotz der Schwerfälligkeit seines Landwehr-Systems, diesem überraschenden Ereigniß gegenüber reichlich ein Jahr lang ohne Zweifel der stärkste, vielleicht der einzige zum Schlagen befähigte Militärstaat in Europa war. Wie sehr nicht nur in Oestreich, sondern auch in Rußland die militärischen Einrichtungen in 15 Friedensjahren vernachlässigt worden waren, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Garde des Kaisers und der polnischen Armee des Großfürsten Constantin, bewies die Schwäche und Langsamkeit der Rüstung des gewaltigen russischen Reichs gegen den Aufstand des kleinen Warschauer Königreichs. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 935 [1-276]  nach der Juli-Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall seiner Heereseinrichtungen so weit auszubessern, daß es eben nur seine italienischen Interessen zu schützen im Stande war. Die östreichische Politik war unter Metternich geschickt genug, um jede Entschließung der drei östlichen Großmächte so lange zu verschleppen, bis Oestreich sich hinlänglich gerüstet fühlte, um mitzureden. Nur in Preußen functionirte die militärische Maschine, so schwerfällig sie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußische Politik eigne Entschlüsse zu fassen vermocht, so würde sie Kraft genug gefunden haben, die Lage von 1830 in Deutschland und den Niederlanden nach ihrem Ermessen zu präjudiciren. Aber eine selbständige preußische Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger Jahre überhaupt nicht bestanden; unsre Politik wurde abwechselnd in Wien und in Petersburg gemacht. So weit sie in Berlin von 1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 selbständig ihre Wege suchte, wird sie vor der Kritik vom Standpunkte eines strebsamen Preußen kaum Anerkennung finden. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1014 Gegenüber der Bewegung in Polen, die gleichzeitig mit der Umwälzung in Italien, und nicht ohne Zusammenhang mit ihr, durch die Landestrauer, die kirchliche Feier vaterländischer Erinnerungstage und die Agitation der landwirthschaftlichen Vereine begann, war man in Petersburg ziemlich lange schwankend zwischen Polonismus und Absolutismus. Die den Polen freundliche Strömung hing zusammen mit dem in der höhern russischen Gesellschaft laut gewordenen Verlangen nach einer Verfassung. Man empfand es als eine Demüthigung, daß die Russen, die doch auch gebildete Leute wären, Einrichtungen entbehren müßten, die bei allen europäischen Völkern existirten, und daß sie über ihre eignen Angelegenheiten nicht mitzureden hätten. Der Zwiespalt in der Beurtheilung der polnischen Frage erstreckte sich bis in die höchsten militärischen Kreise und führte zwischen dem Statthalter in Warschau, General Graf Lambert, und dem Generalgouverneur General Gerstenzweig, zu einer leidenschaftlichen Erörterung, die mit dem nicht aufgeklärten gewaltsamen Tode des Letztern endete (Jan. 1862). Ich wohnte seiner Beisetzung in einer der evangelischen Kirchen Petersburgs bei. Diejenigen Russen, welche für sich eine Verfassung verlangten, machten zuweilen entschuldigend geltend, daß die Polen durch Russen nicht regirbar wären und als die Civilisirteren erhöhten Anspruch auf Betheiligung an ihrer Regirung hätten. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1016 Der Kampf der Meinungen war in Petersburg recht lebhaft, als ich im April 1862 von dort abging, und blieb so während des ersten Jahres meines Ministeramts. Ich übernahm die Leitung des Auswärtigen Amts unter dem Eindruck, daß es sich bei dem am 1. Januar 1863 ausgebrochenen Aufstande nicht blos um das Interesse unsrer östlichen Provinzen, sondern auch um die weitergreifende Frage handelte, ob im russischen Cabinet eine polenfreundliche oder eine antipolnische Richtung, ein Streben nach panslavistischer antideutscher Verbrüderung zwischen Russen und Polen oder eine gegenseitige Anlehnung der russischen und der preußischen Politik herrschte. In den Verbrüderungsbestrebungen waren die betheiligten Russen die Ehrlicheren; von dem polnischen Adel und der Geistlichkeit wurde schwerlich an einen Erfolg dieser Bestrebungen geglaubt oder ein solcher als das definitive Ziel in's Auge gefaßt. Es gab kaum einen Polen, für den die Verbrüderungspolitik mehr als eine tactische Evolution vorgestellt hätte, zu dem Zwecke, gläubige Russen zu täuschen, so lange es nothwendig oder nützlich sein würde. Die Verbrüderung wird von dem polnischen Adel und seiner Geistlichkeit nicht ganz, aber doch annähernd ebenso unwandelbar perhorrescirt wie die mit den Deutschen, letztre jedenfalls stärker, nicht blos aus Abneigung gegen die Race, sondern auch in der Meinung, daß die Russen in staatlicher Gemeinschaft von den Polen geleitet werden würden, die Deutschen aber nicht. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1020 [1-309] bedauerte und gern in Petersburg bleiben würde, veranlaßte den Kaiser mißverständlich zu der Frage, ob ich geneigt sei, in russische Dienste zu treten. Ich verneinte das höflich unter Betonung des Wunsches, als preußischer Gesandter in der Nähe Sr. Majestät zu bleiben. Es wäre mir damals nicht unlieb gewesen, wenn der Kaiser zu dem Zwecke Schritte gethan hätte, denn der Gedanke, der Politik der neuen Aera, sei es als Minister, sei es als Gesandter in Paris oder London ohne die Aussicht auf Mitwirkung an unsrer Politik, zu dienen, hatte an sich nichts Verführerisches. Wie ich dem Lande und meiner Ueberzeugung in London oder Paris würde nützen können, wußte ich nicht, während mein Einfluß bei dem Kaiser Alexander und den hervorragenden seiner Staatsmänner nicht ohne Bedeutung für unsre Interessen war. Der Gedanke, Minister des Aeußern zu werden, war mir unbehaglich, etwa wie der Eintritt in ein Seebad bei kaltem Wetter; aber alle diese Empfindungen waren nicht stark genug, um mich zu einem Eingriff in die eigne Zukunft oder zu einer Bitte an den Kaiser Alexander zu solchem Zwecke zu veranlassen. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1021 Nachdem ich dennoch Minister geworden war, stand zunächst die innere Politik mehr im Vordergrunde, als die äußere; in dieser aber lagen mir die Beziehungen zu Rußland Dank meiner jüngsten Vergangenheit besonders nahe, und ich war bestrebt, unsrer Politik den Besitz an Einfluß in Petersburg, den wir dort hatten, nach Möglichkeit zu erhalten. Es lag auf der Hand, daß die preußische Politik in deutscher Richtung damals von Oestreich keine Unterstützung zu erwarten hatte. Es war nicht wahrscheinlich, daß das Wohlwollen Frankreichs für unsre Stärkung und die deutsche Einigung auf die Dauer ehrlich sein werde, eine Ueberzeugung, die nicht hindern durfte, vorübergehende, auf irrthümlichen Berechnungen beruhende Unterstützung und Förderung Napoleons utiliter anzunehmen. Mit Rußland waren wir in derselben Lage wie mit England, insoweit als wir mit beiden prinzipielle divergirende Interessen nicht hatten und durch langjährige Freundschaft (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1024 [1-311] mit den Westmächten zu Gunsten der polnischen Bewegung bewies, daß Oestreich die russische Rivalität in einem wieder auferstandenen Polen nicht fürchtete. Hatte es doch dreimal, im April, im Juni und unter dem 12. August mit Frankreich und England gemeinsame Schritte zu Gunsten der Polen in Petersburg gethan. "Wir haben", heißt es in der östreichischen Note vom 18. Juni 1), "nach den Bedingungen geforscht, durch die dem Königreiche Polen Ruhe und Frieden wiedergegeben werden könnten, und sind dahin gelangt, diese Bedingungen in den folgenden sechs Punkten zusammen zu fassen, die wir der Erwägung des Cabinets von Sankt Petersburg empfehlen: 1. Vollständige und allgemeine Amnestie, 2. Nationale Vertretung, welche an der Gesetzgebung des Landes theilnimmt und Mittel einer wirksamen Controlle besitzt, 3. Ernennung von Polen zu den öffentlichen Aemtern in solcher Weise, daß eine besondre nationale und dem Lande Vertrauen einflößende Administration gebildet werde, 4. Volle und gänzliche Gewissensfreiheit und Aufhebung der die Ausübung des katholischen Cultus treffenden Beschränkungen, 5. Ausschließlicher Gebrauch der polnischen Sprache als amtlicher Sprache in der Verwaltung, der Justiz und dem Unterrichtswesen, 6. Einführung eines regelmäßigen und gesetzlichen Rekrutirungssystems." Den Vorschlag Gortschakows, daß Rußland, Oestreich und Preußen sich in's Einvernehmen setzen möchten, um das Loos ihrer betreffenden polnischen Unterthanen festzustellen, wies die östreichische Regirung mit der Erklärung zurück, "daß das zwischen den drei Cabineten von Wien, London und Paris hergestellte Einverständniß ein Band zwischen ihnen bildet, von dem Oestreich sich jetzt nicht loslösen kann, um abgesondert mit Rußland zu unterhandeln". Es war das die Situation, in welcher Kaiser Alexander Sr. Majestät in eigenhändigem Schreiben nach Gastein den Entschluß, den Degen zu ziehn, kundgab und Preußens Bündniß verlangte. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1031 Oestreich hat der polnischen Frage gegenüber nicht die Schwierigkeiten, die für uns in der gegenseitigen Durchsetzung polnischer und deutscher Ansprüche in Polen und Westpreußen und in der Lage Ostpreußens mit der Frage einer Wiederherstellung polnischer Unabhängigkeit unlösbar verbunden sind. Unsre geographische Lage und die Mischung beider Nationalitäten in den Ostprovinzen einschließlich Schlesiens, nöthigen uns, die Eröffnung der polnischen Frage nach Möglichkeit hintanzuhalten, und ließen es auch 1863 rathsam erscheinen, die Eröffnung dieser Frage durch Rußland nicht zu fördern, sondern, so viel wir konnten, zu verhüten. Es hat vor 1863 Zeiten gegeben, da man in Petersburg auf der Basis der Wielopolskischen Theorien den Großfürsten Constantin mit seiner schönen Gemalin als Vicekönig von Polen in Aussicht nahm - die Großfürstin trug damals polnisches Costüm -, (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1033 Die Militärconvention, welche durch den General Gustav von Alvensleben im Februar 1863 in Petersburg abgeschlossen wurde, hatte für die preußische Politik mehr einen diplomatischen als einen militärischen Zweck 1). Sie repräsentirte einen im Cabinet des russischen Kaisers erfochtenen Sieg der preußischen Politik über die polnische, die vertreten war durch Gortschakow, Großfürst Constantin, Wielopolski und andre einflußreiche Personen. Das Ergebniß beruhte auf directer Kaiserlicher Entschließung im Gegensatz zu ministeriellen Bestrebungen. Ein Abkommen politisch-militärischer Natur, welches Rußland mit dem germanischen Gegner des Panslavismus gegen den polnischen "Bruderstamm" schloß, war ein entscheidender Schlag auf die Aussichten der polonisirenden Partei am russischen Hofe; und in diesem Sinne hat das militärisch ziemlich anodyne Abkommen seinen Zweck reichlich erfüllt. Ein militärisches Bedürfniß war dafür an Ort und Stelle nicht vorhanden; die russischen Truppen waren stark genug, und die Erfolge der Insurgenten existirten zum großen Theil nur in den von Paris bestellten, in Myslowitz fabrizirten, bald von der Grenze, bald vom Kriegsschauplatze, bald aus Warschau datirten, zuweilen recht märchenhaften Berichten, die zuerst in einem Berliner Blatte erschienen und dann ihre Runde durch die europäische Presse machten. Die Convention war ein gelungener Schachzug, der die Partie entschied, die innerhalb des russischen Cabinets der antipolnische monarchische und der polonisirende panslavistische Einfluß gegen einander spielten. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1319 Ich habe Ihr Schreiben vom 19. dieses Monats zu erhalten das Vergnügen gehabt und spreche Ihnen, mein lieber Fürst, für Ihre Mittheilungen, sowie für die damit verbundene Zusendung des Aktenstückes aus St. Petersburg meinen wärmsten Dank aus. Von Beidem habe ich mit jenem lebhaften Interesse Kenntniß genommen, welches ich Allem, was mir von Ihnen zukommt, entgegenbringe. Das Erfreulichste aber, das mir Ihre Zeilen brachten, war mir die Nachricht von dem Fortschritte Ihrer Genesung, welcher, wie ich von Herzen wünsche, zur völligen Wiederherstellung Ihrer Gesundheit führen möge. Die begründete Hoffnung, daß Sie sich neu gestärkt und erfrischt auch ferner der hohen Aufgabe Ihres staatsmännischen Berufes vollauf werden widmen können, läßt mich der weiteren Entwicklung der politischen Lage mit um so größerer Ruhe entgegensehen. Was insbesondere das Verhältniß Deutschlands zu Rußland betrifft, so entnehme ich dem Berichte des Generals von Schweinitz mit Genugthuung, daß wenigstens an der aufrichtigen Friedensliebe des Kaisers von Rußland und des dortigen leitenden Ministers nicht gezweifelt werden kann. Diese immerhin beruhigende Thatsache im Vereine mit dem so glücklicher Weise herrschenden Einvernehmen zwischen Deutschland und Oesterreich, welches mir durch Ihre Mittheilungen zu meiner Freude aufs Neue als ein vollständig gesichertes bestätigt wird, erscheint wohl geeignet, die Hoffnungen auf fernere Erhaltung des Friedens zu stärken. (AAABismarckgedanken1korr-20160203.doc)

 

Abs. 1 [2-1] Neunzehntes Kapitel. Schleswig-Holstein. I. Zu meinem Nachfolger in Paris war Graf Robert von der Goltz ernannt worden, der seit 1855 Gesandter in Athen, Constantinopel und Petersburg gewesen war. Meine Erwartung, daß das Amt ihn disciplinirt, der Uebergang von der schriftstellerischen zu einer geschäftlichen Thätigkeit ihn praktischer, nüchterner gemacht und die Berufung auf den derzeit wichtigsten Posten der preußischen Diplomatie seinen Ehrgeiz befriedigt haben würde, sollte sich nicht sogleich und nicht völlig erfüllen. Am Ende des Jahres 1863 sah ich mich zu einer schriftlichen Erörterung mit ihm genöthigt, die leider nicht vollständig in meinem Besitz ist; von seinem Briefe vom 22. December, welcher den unmittelbaren Anlaß dazu gab, ist nur ein Bruchstück vorhanden 1), und in der Abschrift meiner Antwort fehlt der Eingang. Aber auch so hat diese ihren Werth als Schilderung der damaligen Situation und als Beleuchtung der daraus hervorgegangenen Entwicklung. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 7 [2-4] Stimme hat in London und Petersburg das Gewicht, was ihr seit 20 Jahren verloren war; und das acht Monate, nachdem Sie mir die gefährlichste Isolirung wegen unsrer polnischen Politik prophezeiten. Wenn wir jetzt den Großmächten den Rücken drehn, um uns der in dem Netze der Vereinsdemokratie gefangenen Politik der Kleinstaaten in die Arme zu werfen, so wäre das die elendeste Lage, in die man die Monarchie nach Innen und Außen bringen könnte. Wir würden geschoben statt zu schieben; wir würden uns auf Elemente stützen, die wir nicht beherrschen und die uns nothwendig feindlich sind, denen wir uns aber auf Gnade oder Ungnade zu ergeben hätten. Sie glauben, daß in der ‚deutschen öffentlichen Meinung‘, Kammern, Zeitungen ꝛc. irgend etwas steckt, was uns in einer Unions- oder Hegemonie-Politik stützen und helfen könnte. Ich halte das für einen radicalen Irrthum, für ein Phantasiegebilde. Unsre Stärkung kann nicht aus Kammern- und Preßpolitik, sondern nur aus waffenmäßiger Großmachtspolitik hervorgehn, und wir haben nicht nachhaltiger Kraft genug, um sie in falscher Front und für Phrasen und Augustenburg zu verpuffen. Sie überschätzen die ganze dänische Frage und lassen sich dadurch blenden, daß dieselbe das allgemeine Feldgeschrei der Demokratie geworden ist, die über das Sprachrohr von Presse und Vereinen disponirt und diese an sich mittelmäßige Frage zum Moussiren bringt. Vor zwölf Monaten hieß es zweijährige Dienstzeit, vor acht Monaten Polen, jetzt Schleswig-Holstein. Wie sahn Sie selbst die europäische Lage im Sommer an? Sie fürchteten Gefahren jeder Art für uns und haben in Kissingen kein Hehl gemacht über die Unfähigkeit unsrer Politik; sind denn nun diese Gefahren durch den Tod des Königs von Dänemark plötzlich geschwunden und sollen wir jetzt an der Seite von Pfordten, Coburg und Augustenburg, gestützt auf alle Schwätzer und Schwindler der Bewegungspartei, plötzlich stark genug sein, alle vier Großmächte zu brüskiren, und sind letztre plötzlich so gutmüthig oder so machtlos geworden, daß wir uns dreist in jede Verlegenheit (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 169 Von Rußland war einer solchen Coalition gegenüber activer Beistand schwerlich zu erwarten. Mir selbst hatte der russenfreundliche Einfluß, den ich in der Zeit des Krimkrieges auf die Entschließungen Friedrich Wilhelms IV. auszuüben vermochte, das Wohlwollen des Kaisers Alexander erworben, und sein Vertrauen zu mir war in der Zeit meiner Gesandschaft in Petersburg gewachsen. Inzwischen aber hatte in dem dortigen Cabinet unter Gortschakows Leitung der Zweifel an der Nützlichkeit einer so bedeutenden Kräftigung Preußens für Rußland die Wirkung der kaiserlichen Freundschaft für den König Wilhelm und der Dankbarkeit für unsre Politik in der polnischen Frage von 1863 aufzuwiegen angefangen. Wenn die Mittheilung richtig ist, die Drouyn de Lhuys dem Grafen Vitzthum von Eckstädt *) gemacht hat, so hat Gortschakow im Juli 1866 den Kaiser Napoleon zu einem gemeinsamen Proteste gegen die Beseitigung des Deutschen Bundes aufgefordert und eine Ablehnung erfahren. Der Kaiser Alexander hatte in der ersten Ueberraschung und nach der Sendung Manteuffels nach Petersburg dem Ergebniß der Nikolsburger Präliminarien generell und obiter zugestimmt; der Haß gegen Oestreich, der seit dem Krimkriege die öffentliche Meinung der russischen „Gesellschaft“ beherrschte, hatte zunächst seine Befriedigung gefunden in den Niederlagen Oestreichs; dieser Stimmung standen aber russische Interessen gegenüber, die sich an den zarischen Einfluß in Deutschland und an dessen Bedrohung durch Frankreich knüpften. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 285 Graf Beust hat selbst es sich angelegen sein lassen, nachzuweisen, wie „redlich, wenn auch erfolglos“ er sich bemüht habe, eine „collective Mediation der Neutralen“ zu Stande zu bringen *). Er erinnert daran, daß er schon unter dem 28. September nach London und unter dem 12. October nach Petersburg an die östreichischen Botschafter die Weisung gegeben hat, die Auffassung zu vertreten, ein collectiver Schritt allein werde Aussicht auf Erfolg haben; daß er zwei Monate später dem Fürsten Gortschakow sagen ließ: „Le moment d'intervenir est peut-être venu.“ Er reproducirt eine am 13. October, in der für uns kritischen Zeit 14 Tage vor der Capitulation von Metz, von ihm an den Grafen Wimpffen in Berlin gerichtete und von diesem dort verlesene Depesche **). (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 289 „Dies vorausgeschickt,“ fährt er fort, „kann ich den Ausdruck meiner Besorgniß nicht unterdrücken, daß dereinst vor dem Urtheil der Geschichte ein Theil dieser Verantwortlichkeit auf die Neutralen fallen würde, wenn sie sich die Gefahr unerhörten Unheils in stummer Gleichgültigkeit vor Augen stellen ließen. Ich muß daher Eure Excellenz auffordern, wenn der Gegenstand gegen Sie berührt wird, offen unser Bedauern darüber auszusprechen, daß in einer Lage, in welcher die königlich preußische Regierung Katastrophen, wie die in jenem Memorandum angedeutete, vorhersieht, dennoch das entschiedenste Bestreben sich kundgibt, jede persönliche Einwirkung dritter Mächte fernzuhalten. ... Rücksichten auf eigne Interessen sind es nicht, welche die Regierung Oesterreich-Ungarns beklagen lassen, daß auf dem Punkte, zu welchem die Dinge gediehen sind, jede friedliche Einflußnahme der neutralen Mächte fehlt. Aber es ist ihr unmöglich, in der Weise, wie es neuerlich von Seiten des St. Petersburger Cabinets geschieht, die absolute Enthaltung des unbetheiligten Europas zu billigen und zu empfehlen. Sie hält es vielmehr für Pflicht, auszusprechen, daß sie noch an allgemein europäische Interessen glaubt, und daß sie einen durch unparteiische Einwirkung der Neutralen herbeigeführten Frieden der Vernichtung weiterer Hunderttausende vorziehen würde.“ (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 300 Fürst Gortschakow ist auf die Initiative, mit der ich ihn in dieser Richtung sondirte, nur widerstrebend eingegangen. Sein persönliches Uebelwollen war stärker als sein russisches Pflichtgefühl. Er wollte keine Gefälligkeit von uns, sondern Entfremdung gegen Deutschland und Dank bei Frankreich. Um unser Anerbieten in Petersburg wirksam zu machen, habe ich der durchaus ehrlichen und stets wohlwollenden Mitwirkung des damaligen russischen Militärbevollmächtigten Grafen Kutusoff bedurft. Ich werde dem Fürsten Gortschakow kaum Unrecht thun, wenn ich nach meinen mehre Jahrzehnte dauernden Beziehungen zu ihm annehme, daß die persönliche Rivalität mit mir bei ihm schwerer wog, als die Interessen Rußlands: seine Eitelkeit, seine Eifersucht gegen mich waren größer als sein Patriotismus.Bezeichnend für die krankhafte Eitelkeit Gortschakows waren einige gelegentliche Aeußerungen mir gegenüber, gelegentlich seiner Berliner Anwesenheit im Mai 1876. Er sprach von seiner Ermüdung und seiner Neigung, abzuscheiden, und sagte dabei: „Je ne puis cependant me présenter devant Saint-Pierre au ciel sans avoir présidé la moindre chose en Europe.“ Ich bat ihn in Folge dessen, das Präsidium in der damaligen Diplomatenconferenz, die aber nur eine officiöse war, zu übernehmen, was er that. In der Muße des Zuhörens bei seiner längeren Präsidialrede schrieb ich mit Bleistift: pompons, pompo, pomp, pom, po. Mein Nachbar, Lord Odo Russell, entriß mir das Blatt und behielt es. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 309 Graf Kutusoff war ein ehrlicher Soldat ohne persönliche Eitelkeit. Er war ursprünglich nach der Bedeutung seines Namens in hervorragender Stellung in Petersburg als Offizier der Garde- Kavallerie, hatte aber nicht das Wohlwollen des Kaisers Nicolaus; und als dieser, wie mir in Petersburg erzählt worden ist, vor der Front ihm zurief: „Kutusoff, du kannst nicht reiten, ich (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 311 Neben der Gewissenhaftigkeit der Meldungen dieses alten Soldaten bot die regelmäßige eigenhändige Correspondenz des Großherzogs von Sachsen mit dem Kaiser Alexander einen Weg, unverfälschte Mittheilungen direct an diesen gelangen zu lassen. Der Großherzog, der stets wohlwollend für mich war und geblieben ist, war in Petersburg ein Anwalt der guten Beziehungen zwischen beiden Cabineten. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 385 *) Andrer Ansicht über die Annahme einer mit Brillanten gefüllten Dose war Fürst Gortschakow. Bei unserm Besuch in Petersburg (1872) fragte mich Seine Majestät: „Was kann ich nur dem Fürsten Gortschakow geben? er hat schon alles, auch Portrait; vielleicht eine Büste oder eine Dose mit Brillanten?“ Ich erhob gegen eine theure Dose Einwendungen, die ich aus der Stellung und dem Reichthum des Fürsten Gortschakow herleitete, und der Kaiser gab mir Recht. Ich sondirte darauf den Fürsten vertraulich und erhielt sofort die Antwort: „Laß Er mir (Russicismus) eine tüchtige Dose geben mit guten Steinen (avec de grosses bonnes pierres).“ Ich meldete dies Sr. Majestät etwas beschämt über meine Menschenkenntniß; wir lachten beide, und Gortschakow bekam seine Dose. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 489 Gontauts Thätigkeit im Dienste Frankreichs beschränkte sich nicht auf das Berliner Terrain. Er reiste 1875 nach Petersburg, um dort mit dem Fürsten Gortschakow den Theatercoup einzuleiten, welcher bei dem bevorstehenden Besuche des Kaisers Alexander in Berlin die Welt glauben machen sollte, daß er allein das wehrlose Frankreich vor einem deutschen Ueberfall bewahrt habe, indem er uns mit einem Quos ego! in den Arm gegriffen und zu dem Zweck den Kaiser nach Berlin begleitet habe. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 490 [2-173] Von wem der Gedanke ausgegangen ist, weiß ich nicht; wenn von Gontaut, so wird er bei Gortschakow einen empfänglichen Boden gefunden haben bei dessen eitler Natur, seiner Eifersucht auf mich und dem Widerstande, den ich seinen Ansprüchen auf Präpotenz zu leisten gehabt hatte. Ich hatte ihm in vertraulichem Gespräch sagen müssen: „Sie behandeln uns nicht wie eine befreundete Macht, sondern comme un domestique, qui ne monte pas assez vite, quand on a sonné.“ Gortschakow beutete es aus, daß er dem Gesandten Grafen Redern und den auf ihn folgenden Geschäftsträgern an Autorität überlegen war, und benutzte mit Vorliebe zu Verhandlungen den Weg der Mittheilung seinerseits an unsre Vertretung in Petersburg unter Vermeidung der Instruirung des russischen Botschafters in Berlin behufs Besprechung mit mir. Ich halte es für Verleumdung, was Russen mir gesagt haben, das Motiv dieses Verfahrens sei gewesen, daß in dem Etat des auswärtigen Ministers ein Pauschquantum für Telegramme ausgeworfen sei und Gortschakow deshalb seine Mittheilungen lieber auf deutsche Kosten durch unsern Geschäftsträger als auf russische besorgt habe. Ich suche, obschon er sicher geizig war, das Motiv auf politischem Gebiete. Gortschakow war ein geistreicher und glänzender Redner und liebte es, sich als solchen namentlich den fremden, in Petersburg beglaubigten Diplomaten gegenüber zu zeigen. Er sprach französisch und deutsch mit gleicher Beredsamkeit, und ich habe seinen docirenden Vorträgen oft stundenlang gern zugehört als Gesandter und später als College. Mit Vorliebe hatte er als Zuhörer fremde Diplomaten und namentlich jüngere Geschäftsträger von Intelligenz, denen gegenüber die vornehme Stellung des auswärtigen Ministers, bei dem sie beglaubigt waren, dem oratorischen Eindrucke zu Hülfe kam. Auf diesem Wege gingen mir die Gortschakowschen Willensmeinungen in Formen zu, die an das Roma locuta est erinnerten. Ich beschwerte mich in Privatbriefen bei ihm direct über diese Form des Geschäftsbetriebes und über die Tonart seiner Eröffnungen und bat ihn, in mir nicht mehr den diplomatischen (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 491 [2-174] Schüler zu sehn, der ich in Petersburg ihm gegenüber bereitwillig gewesen wäre, sondern jetzt mit der Thatsache zu rechnen, daß ich ein für die Politik meines Kaisers und eines großen Reiches verantwortlicher College sei. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 492 Als 1875 während der Vacanz des Botschafterpostens ein Legationssekretär als Geschäftsträger fungirte, wurde Herr von Radowitz, damals Gesandter in Athen, en mission extraordinaire nach Petersburg geschickt, um die Geschäftsführung auch äußerlich auf den Fuß der Gleichheit zu bringen. Er hatte dadurch Gelegenheit, sich durch entschlossene Emancipation von Gortschakows präpotenter Beeinflussung dessen Abneigung in einem so hohen Grade zuzuziehn, daß die Abneigung des russischen Cabinets gegen ihn ungeachtet seiner russischen Heirath vielleicht noch heut nicht erloschen ist. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 607 Im Herbst 1876 erhielt ich in Varzin ein chiffrirtes Telegramm unsres Militärbevollmächtigten, des Generals von Werder aus Livadia, durch welches er im Auftrage des Kaisers Alexander eine Aeußerung darüber verlangte, ob wir neutral bleiben würden, wenn Rußland mit Oestreich in Krieg geriethe. Bei der Beantwortung desselben hatte ich zu erwägen, daß Werders Chiffre innerhalb des Kaiserlichen Palais nicht unzugänglich sein werde, hatte ich doch die Erfahrung gemacht, daß selbst in unserm Gesandschaftshause in Petersburg durch keinen künstlichen Verschluß, sondern nur durch häufigen Wechsel der Chiffre das Geheimniß derselben zu bewahren war 1). Ich konnte meiner Ueberzeugung nach nichts nach Livadia telegraphiren, was nicht auch zur Kenntniß des Kaisers kommen würde. Daß eine solche Frage überhaupt auf solchem Wege gestellt werden konnte, hatte schon eine Verschiebung der geschäftlichen Traditionen zur Voraussetzung. Wenn ein Cabinet Fragen der Art an ein andres stellen will, so ist der correcte Weg eine vertrauliche mündliche Sondirung durch den eignen Botschafter oder von Souverän zu Souverän bei persönlicher Begegnung. Daß (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 609 [2-212] die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu sondirenden Macht seine Bedenken hat, hatte die russische Diplomatie durch die Vorgänge zwischen dem Kaiser Nicolaus und Seymour erfahren. Die Neigung Gortschakows, telegraphische Anfragen bei uns nicht durch den russischen Vertreter in Berlin, sondern durch den deutschen in Petersburg zu bewirken 1), hat mich genöthigt, unsre Missionen in Petersburg häufiger als an andern Höfen darauf aufmerksam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht in der Vertretung der Anliegen des russischen Cabinets bei uns, sondern unsrer Wünsche an Rußland liege. Die Versuchung für einen Diplomaten, seine dienstliche und gesellschaftliche Stellung durch Gefälligkeiten für die Regirung, bei der er beglaubigt ist, zu pflegen, ist groß und wird noch gefährlicher, wenn der fremde Minister unsern Agenten für seine Wünsche bearbeiten und gewinnen kann, ehe dieser alle die Gründe kennt, aus denen für seine Regirung die Erfüllung und selbst die Zumuthung inopportun ist. Außerhalb aller aber, selbst der russischen, Gewohnheiten lag es, wenn der deutsche Militärbevollmächtigte am russischen Hofe uns, und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des russischen Kaisers eine politische Frage von großer Tragweite in dem kategorischen Stile eines Telegramms vorlegte. Ich hatte, so unbequem sie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit erlangen können, daß unsre Militärbevollmächtigten in Petersburg nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, sondern direct in eigenhändigen Briefen an Se. Majestät berichteten, — einer Gewohnheit, die sich davon herschrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem ersten Militärattaché in Petersburg, dem frühern Commandanten von Kolberg, Lucadou, eine besonders intime Stellung zu dem Kaiser gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattaché in solchen Briefen Alles, was der russische Kaiser über Politik in dem gewohnheitsmäßigen (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 611 [2-213] vertraulichen Verkehre am Hofe mit ihm gesprochen hatte, und das war nicht selten viel mehr, als Gortschakow mit dem Botschafter sprach; der „Pruski Fligeladjudant“, wie er am Hofe hieß, sah den Kaiser fast täglich, jedenfalls viel öfter als Gortschakow, der Kaiser sprach mit ihm nicht bloß über Militärisches, und die Aufträge zu Bestellungen an unsern Herrn beschränkten sich nicht auf Familienangelegenheiten. Die diplomatischen Verhandlungen zwischen beiden Cabineten haben ihren Schwerpunkt, wie zur Zeit Rauchs und Münsters, oft und lange mehr in den Berichten des Militärbevollmächtigten als in denen der amtlich accreditirten Gesandten gefunden. Da indessen Kaiser Wilhelm niemals versäumte, mir seine Correspondenz mit dem Militärbevollmächtigten in Petersburg nachträglich, wenn auch oft zu spät, mitzutheilen, und politische Entschlüsse nie ohne Erwägung an amtlicher Stelle faßte, so beschränkten sich die Nachtheile dieses directen Verkehrs auf Verspätung von Informationen und Anzeigen, die in solchen Immediatberichten enthalten waren. Es lag also außerhalb dieser Gewohnheit im Geschäftsverkehr, daß Kaiser Alexander, ohne Zweifel auf Anregung des Fürsten Gortschakow, Herrn von Werder als Organ benutzte, um uns jene Doctorfrage vorzulegen. Gortschakow war damals bemüht, seinem Kaiser zu beweisen, daß meine Ergebenheit für ihn und meine Sympathie für Rußland unaufrichtig oder doch nur „platonisch“ sei, und sein Vertrauen zu mir zu erschüttern, was ihm denn auch später gelungen ist. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 613 [2-214] werde, ohne sich dessen erwehren zu können, telegraphisch an das kaiserliche Hoflager zu berufen und ihm die Uebernahme von politischen Aufträgen zu untersagen, als eine Leistung, die dem russischen, aber nicht dem deutschen Dienste angehöre. Der Kaiser ging auf meinen Wunsch nicht ein, und da Kaiser Alexander endlich auf Grund unsrer persönlichen Beziehungen die Aussprache meiner eignen Meinung unter Betheiligung der russischen Botschaft in Berlin von mir verlangte, so war es mir nicht länger möglich, der Beantwortung der indiscreten Frage auszuweichen. Ich ersuchte den Botschafter von Schweinitz, der am Ende seines Urlaubs stand, mich vor der Rückkehr nach St. Petersburg in Varzin zu besuchen, um meine Instruction entgegenzunehmen. Vom 11. bis 13. October war Schweinitz mein Gast. Ich beauftragte ihn, sich sobald als möglich über Petersburg an das Hoflager des Kaisers Alexander nach Livadia zu begeben. Der Sinn meiner Instruction für Herrn von Schweinitz war, unser erstes Bedürfniß sei, die Freundschaft zwischen den großen Monarchien zu erhalten, welche der Revolution gegenüber mehr zu verlieren, als im Kampfe unter einander zu gewinnen hätten. Wenn dies zu unserm Schmerze zwischen Rußland und Oestreich nicht möglich sei, so könnten wir zwar ertragen, daß unsre Freunde gegen einander Schlachten verlören oder gewönnen, aber nicht, daß einer von beiden so schwer verwundet und geschädigt werde, daß seine Stellung als unabhängige und in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde. Diese unsre Erklärung, welche von uns in zweifelsfreier Deutlichkeit zu erzwingen Gortschakow seinen Herrn bewogen hatte, um ihm den platonischen Charakter unsrer Liebe zu beweisen, hatte zur Folge, daß das russische Gewitter von Ostgalizien sich nach dem Balkan hin verzog, — und daß Rußland anstatt der mit uns abgebrochnen Verhandlungen dergleichen mit Oestreich, so viel ich mich erinnere, zunächst in Pest, im Sinne der Abmachungen von Reichstadt, wo die Kaiser Alexander und Franz Joseph am 8. Juli 1876 zusammengetroffen waren, einleitete unter dem Verlangen, sie vor (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 616 Daß das russische Cabinet in den Abmachungen von Reichstadt den Oestreichern für ihre Neutralität die Erwerbung Bosniens zugestanden hat, läßt annehmen, daß Herr von Oubril uns nicht die Wahrheit sagte, indem er versicherte, es werde sich in dem Balkankriege nur um eine promenade militaire, um Beschäftigung des trop plein des Heeres und um Roßschweife und Georgenkreuze handeln; dafür wäre Bosnien ein zu hoher Preis gewesen. Wahrscheinlich hatte man in Petersburg darauf gerechnet, daß Bulgarien, wenn von der Türkei losgelöst, dauernd in Abhängigkeit von Rußland bleiben werde. Diese Berechnung würde wahrscheinlich auch dann nicht zugetroffen sein, wenn der Friede von San Stefano ungeschmälert zur Ausführung gekommen wäre. Um nicht vor dem eignen Volke für diesen Irrthum verantwortlich zu sein, hat man sich mit Erfolg bemüht, der deutschen Politik, der „Untreue“ des deutschen Freundes die Schuld für den unbefriedigenden Ausgang des Krieges aufzubürden. Es war das eine unehrliche Fiction; wir hatten niemals etwas Andres in Aussicht gestellt als wohlwollende Neutralität, und wie ehrlich wir es damit gemeint haben, ergibt sich schon daraus, daß wir uns durch die von Rußland verlangte Geheimhaltung der Reichstadter Abmachungen vor uns in unserm Vertrauen und Wohlwollen für Rußland nicht irre machen ließen, sondern bereitwillig dem Wunsche, den der Graf Peter Schuwalow mir nach Friedrichsruh überbrachte, entgegen kamen, einen Congreß nach Berlin zu berufen. Der Wunsch (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 619 Diese vielleicht actenmäßig nur aus den russischen Archiven und vielleicht auch aus diesen nicht nachweisbare, aber nach meiner Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer Regirung mit so einheitlicher und absoluter Spitze, wie der russischen, die Einheit der politischen Action nicht gesichert ist. Sie ist es vielleicht in höherm Grade in England, wo der leitende Minister und die Berichte, die er empfängt, der öffentlichen Kritik unterliegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiser in der Lage ist, je nach seiner Menschenkenntniß und Befähigung zu beurtheilen, welcher von seinen berichtenden und vortragenden Dienern irrt oder ihn belügt, und von welchem er die Wahrheit erfährt. Ich will damit nicht sagen, daß der laufende Dienst des auswärtigen Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die englische Regirung geräth seltener als die russische in die Nothwendigkeit, (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 622 Bei den diplomatischen Verhandlungen über Ausführung der Bestimmungen des Berliner Congresses wurde in Petersburg erwartet, daß wir jede russische Auffassung der östreichisch-englischen gegenüber ohne weitres und namentlich ohne vorgängige Verständigung zwischen Berlin und Petersburg unterstützen und durchsetzen würden. Meine angedeutete, endlich ausgesprochene Forderung, die russischen Wünsche uns vertraulich, aber deutlich auszusprechen und darüber zu verhandeln, wurde eludirt, und ich erhielt den Eindruck, daß Fürst Gortschakow von mir, wie eine Dame von ihrem Verehrer, erwartete, daß ich die russischen Wünsche errathen und vertreten würde, ohne daß Rußland selbst sie auszusprechen und dadurch eine Verantwortlichkeit zu übernehmen brauchte. Selbst in Fällen, wo wir annehmen durften, der russischen Interessen und Absichten völlig gewiß zu sein, und glaubten, der russischen Politik einen Beweis unsrer Freundschaft freiwillig geben zu können, ohne (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 624 Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte strafen sich nicht sofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber unschädlich sind sie nie. Die geschichtliche Logik ist noch genauer in ihren Revisionen als unsre Oberrechenkammer. Bei Ausführung der Congreßbeschlüsse erwartete und verlangte Rußland, daß die deutschen Commissarien bei localen Verhandlungen darüber im Orient, bei Divergenzen zwischen russischen und andern Auffassungen, generell der russischen zustimmen sollten 1). Uns konnte in manchen Fragen allerdings die objective Entscheidung ziemlich gleichgültig sein, es kam für uns nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und unsre Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch parteiisches Verhalten zu stören in Localfragen, die ein deutsches (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 659 [2-225] einschränkte und allen übrigen Staaten den russischen Wünschen entsprechend absagte, Rußland gegenüber in eine ungleiche Stellung gerathen könne, weil die geographische Lage und die autokratische Verfassung Rußlands diesem für das Aufgeben des Bündnisses stets mehr Leichtigkeit gewähre, als wir haben würden, und weil das Festhalten an der alten Tradition des preußisch-russischen Bundes doch immer nur auf zwei Augen stehe, d. h. von dem Gemüthsleben des jedesmaligen Kaisers von Rußland abhänge. Unsre Beziehungen zu Rußland beruhten wesentlich auf dem persönlichen Verhältniß beider Monarchen zu einander und auf dessen richtiger Pflege durch höfische und diplomatische Geschicklichkeit, respective Gesinnung der beiderseitigen Vertreter. Wir hätten das Beispiel gehabt, daß bei ziemlich hülflosen preußischen Gesandten in Petersburg durch die Geschicklichkeit von Militärbevollmächtigten, wie der Generale von Rauch und Graf Münster, die gegenseitigen Beziehungen intim geblieben wären, trotz mancher berechtigten Empfindlichkeit auf beiden Seiten. Wir hätten ebenso erlebt, daß jähzornige oder reizbare Vertreter Rußlands, wie Budberg und Oubril, durch ihre Haltung in Berlin und durch ihre Berichterstattung, wenn sie persönlich verstimmt waren, Eindrücke erzeugten, welche auf die gegenseitigen Gesammtbeziehungen zweier Völker von einundeinhalb Hundert Millionen gefährlich zurückwirken konnten. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 660 Ich erinnere mich, daß Fürst Gortschakow mir, als ich in Petersburg Gesandter war und seines unbegrenzten Vertrauens mich erfreute, mitunter, wenn er mich warten ließ, noch unerbrochne Berliner Berichte zu lesen gab, bevor er selbst sie durchgesehn hatte. Ich war zuweilen erstaunt, daraus zu entnehmen, mit welchem Uebelwollen mein früherer Freund Budberg seiner Empfindlichkeit über irgend ein Erlebniß in der Gesellschaft oder auch nur dem Bedürfniß, einen witzigen Sarkasmus über Berliner Verhältnisse am Hofe und in dem Ministerium anzubringen, die Aufgabe der Erhaltung der gegenwärtigen Beziehungen (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 661 [2-226] unterordnete. Seine Berichte wurden natürlich dem Kaiser vorgelegt und zwar ohne Commentar und ohne Vortrag, und die kaiserlichen Randbemerkungen, von denen Gortschakow mir in der weitern geschäftlichen Correspondenz mitunter Einsicht gestattete, lieferten mir den zweifellosen Beweis, wie der uns wohlgesinnte Kaiser Alexander II. für die verstimmten Berichte von Budberg und Oubril empfänglich war und daraus nicht auf die falsche Darstellung seiner Vertreter, sondern auf den in Berlin herrschenden Mangel an einsichtiger und wohlwollender Politik schloß. Wenn der Fürst Gortschakow mir derartige Dinge unerbrochen zu lesen gab, um mit seinem Vertrauen zu coquettiren, so pflegte er zu sagen: „Vous oublierez ce que vous ne deviez pas lire,“ was ich natürlich, nachdem ich im Nebenzimmer die Depeschen durchgesehn hatte, zusagte und, so lange ich in Petersburg war, auch gehalten habe, da es nicht meine Aufgabe war, die Beziehungen beider Höfe durch Anklagen gegen den Vertreter des russischen in Berlin zu verschlechtern, und da ich ungeschickte Verwerthung meiner Meldungen zu höfischen Intrigen und Verhetzungen befürchtete. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 662 Es wäre überhaupt zu wünschen, daß wir an jedem befreundeten Hofe durch Diplomaten vertreten wären, die ohne der Gesammtpolitik des eignen Vaterlandes vorzugreifen, doch nach Möglichkeit die Beziehungen beider betheiligten Staaten dadurch pflegten, daß sie Verstimmungen und Klatsch nach Möglichkeit verschwiegen, ihr Bedürfniß, witzig zu sein, zügelten und eher die förderliche Seite der Sache hervorhöben. Ich habe die Berichte unsrer Vertreter an deutschen Höfen höhern Orts oft nicht vorgelegt, weil sie mehr die Tendenz hatten, pikant zu sein oder verstimmende Aeußerungen oder Erscheinungen mit Vorliebe zu melden und zu würdigen, als die Beziehungen zwischen beiden Höfen zu bessern und zu pflegen, so lange letztres, wie in Deutschland stets der Fall ist, die Aufgabe unsrer Politik war. Ich habe mich für berechtigt gehalten, aus Petersburg und Paris Dinge, die zu Hause nur zwecklos verstimmen konnten oder sich lediglich zu satirischen (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 665 [2-228] Gortschakow, die mich mitunter an asiatische Auffassungen erinnerte. Er habe oft jeden politischen Einwand einfach mit dem Argumente niedergeschlagen: „l' empereur est fort irrité“, worauf ich ironisch zu antworten pflegte: „Eh, le mien donc!“ Schuwalow bemerkte dazu: „Gortschakoff est un animal“, was in dem Petersburger Jargon nicht so grob gemeint ist, wie es klingt, „il n'a aucune influence“; er verdanke es überhaupt nur der Achtung des Kaisers vor dem Alter und dem frühern Verdienste, daß er formell noch die Geschäfte führe. Worüber könnten Rußland und Preußen ernsthaft jemals in Streit gerathen? Es gebe gar keine Frage zwischen ihnen, die wichtig genug dazu wäre. Das letztre gab ich zu, erinnerte aber an Olmütz und den siebenjährigen Krieg, man gerathe auch aus unwichtigen Ursachen in Händel, sogar aus Formfragen; es würde manchen Russen auch ohne Gortschakow schwer, einen Freund als gleichberechtigt zu betrachten und zu behandeln, ich wäre in dem Punkte der Form persönlich nicht empfindlich — aber das jetzige Rußland habe bis auf Weitres nicht blos die Formen, sondern auch die Ansprüche Gortschakows. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 669 Der Dreibund, den ich ursprünglich nach dem Frankfurter Frieden zu erreichen suchte und über den ich schon im September 1870 von Meaux aus in Wien und Petersburg sondirt hatte, war ein Bund der drei Kaiser mit dem Hintergedanken des Beitritts des monarchischen Italiens und gerichtet auf den, wie ich befürchtete, in irgend einer Form bevorstehenden Kampf zwischen den beiden europäischen Richtungen, die Napoleon die republikanische und die kosakische genannt hat und die ich nach heutigen Begriffen bezeichnen möchte einerseits als das System der Ordnung auf monarchischer Grundlage, andrerseits als die sociale Republik, auf deren Niveau die antimonarchische Entwicklung langsam oder sprungweise hinabzusinken pflegt, bis die Unerträglichkeit der dadurch geschaffenen Zustände die enttäuschte Bevölkerung für gewaltsame Rückkehr zu monarchischen Institutionen in cäsarischer Form empfänglich macht. Diesem circulus vitiosus zu entgehn, oder das Eintreten in ihn der gegenwärtigen Generation oder ihren Kindern womöglich zu ersparen, halte ich für eine Aufgabe, die den noch lebenskräftigen Monarchien näher liegen sollte als die Rivalilät um den Einfluß auf die nationalen Fragmente, welche die Balkanhalbinsel bevölkern. Wenn die monarchischen Regirungen (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 670 [2-230] für das Bedürfniß des Zusammenhaltens im Interesse staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung kein Verständniß haben, sondern sich chauvinistischen Regungen ihrer Unterthanen dienstbar machen, so befürchte ich, daß die internationalen revolutionären und socialen Kämpfe, die auszufechten sein werden, um so gefährlicher und für den Sieg der monarchischen Ordnung schwieriger sich gestalten werden. Ich habe die nächstliegende Assecuranz gegen diese Kämpfe seit 1871 in dem Dreikaiserbunde und in dem Bestreben gesucht, dem monarchischen Prinzipe in Italien eine feste Anlehnung an diesen Bund zu gewähren. Ich war nicht ohne Hoffnung auf einen dauernden Erfolg, als im September 1872 die Zusammenkunft der drei Kaiser in Berlin, demnächst die Besuche meines Kaisers in Petersburg im Mai, des Königs von Italien in Berlin im September, des deutschen Kaisers in Wien im October des folgenden Jahres stattfanden. Die erste Trübung dieser Hoffnung wurde 1875 verursacht durch die Hetzereien des Fürsten Gortschakow 1), der die Lüge verbreitete, daß wir Frankreich, bevor es sich von seinen Wunden erholt hätte, zu überfallen beabsichtigten. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 673 [2-231] auch für Rußland, um aus der Politik der persönlichen Freundschaft der beiden Kaiser einen Uebergang zu der des kühlen russischen Staatsinteresses zu finden, das 1814 und 1815 bei Absteckung des französischen Gebiets maßgebend gewesen war. Daß es für die russische Politik eine Grenze giebt, über die hinaus das Gewicht Frankreichs in Europa nicht vermindert werden darf, ist erklärlich. Dieselbe war, wie ich glaube, mit dem Frankfurter Frieden erreicht, und diese Thatsache war vielleicht 1870 und 1871 in Petersburg noch nicht in dem Maße zum Bewußtsein gekommen, wie fünf Jahre später. Ich glaube kaum, daß das russische Cabinet während unsres Krieges deutlich vorausgesehn hat, daß es nach demselben ein so starkes und consolidirtes Deutschland zum Nachbar haben würde. Im Jahre 1875 nahm ich an, daß an der Newa schon einige Zweifel darüber herrschten, ob es richtig gewesen sei, die Dinge so weit kommen zu lassen, ohne in die Entwicklung einzugreifen. Die aufrichtige Freundschaft und Verehrung Alexanders II. für seinen Oheim deckten das Unbehagen, das die amtlichen Kreise bereits empfanden. Hätten wir damals den Krieg erneuern wollen, nur um das kranke Frankreich nicht genesen zu lassen, so würde unzweifelhaft nach einigen mißlungenen Conferenzen zur Verhütung des Krieges unsre Kriegführung sich in Frankreich in der Lage befunden haben, die ich in Versailles bei der Verschleppung der Belagerung befürchtet hatte. Die Beendigung des Krieges würde nicht durch einen Friedensschluß unter vier Augen, sondern in einem Congresse zu Stande gekommen sein, wie 1814 unter Zuziehung des besiegten Frankreich und vielleicht bei der Mißgunst, der wir ausgesetzt waren, ebenso wie damals unter Leitung eines neuen Talleyrand. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 737 Der Kaiser hielt es in seinem ritterlichen Sinne für erforderlich, den Kaiser von Rußland vertraulich darüber zu verständigen, daß er, wenn er eine der beiden Nachbarmächte angriffe, beide gegen sich haben werde, damit Kaiser Alexander nicht etwa irrthümlich annehme, Oestreich allein angreifen zu können. Mir schien diese Besorgniß ungegründet, da das Petersburger Cabinet schon aus unsrer Beantwortung der aus Livadia an uns gerichteten Frage wissen mußte, daß wir Oestreich nicht würden fallen lassen, durch unsern Vertrag mit Oestreich also eine neue Situation nicht geschaffen, nur die vorhandene legalisirt wurde. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 746 [2-251] Petersburg frei bleibt. Unsre Aufgabe ist, unsre beiden kaiserlichen Nachbarn in Frieden zu erhalten. Die Zukunft der vierten großen Dynastie in Italien werden wir in demselben Maße sicher zu stellen im Stande sein, in dem es uns gelingt, die drei Kaiserreiche einig zu erhalten und den Ehrgeiz unsrer beiden östlichen Nachbarn entweder zu zügeln oder in beiderseitiger Verständigung zu befriedigen. Jeder von beiden ist für uns nicht nur in der europäischen Gleichgewichtsfrage unentbehrlich, — wir könnten keinen von beiden missen, ohne selbst gefährdet zu werden — sondern die Erhaltung eines Elementes monarchischer Ordnung in Wien und Petersburg, und auf der Basis beider in Rom, ist für uns in Deutschland eine Aufgabe, die mit der Erhaltung der staatlichen Ordnung bei uns selbst zusammenfällt. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 749 [2-252] einen künstlichen Haß gegen alles Deutsche geschaffen und genährt hat, mit dem die Dynastie rechnen muß, auch wenn der Kaiser die deutsche Freundschaft pflegen will. Doch dürfte die Feindschaft der russischen Massen gegen das Deutschthum kaum schärfer zugespitzt sein, wie die der Czechen in Böhmen und Mähren, der Slowenen in dem frühern deutschen Bundesgebiete und der Polen in Galizien. Kurz, wenn ich in der Wahl zwischen dem russischen und dem östreichischen Bündniß das letztre vorgezogen habe, so bin ich keineswegs blind gewesen gegen die Zweifel, welche die Wahl erschwerten. Ich habe die Pflege nachbarlicher Beziehungen zu Rußland neben unserm defensiven Bunde mit Oestreich nach wie vor für geboten angesehn, denn eine sichre Assecuranz gegen einen Schiffbruch der gewählten Combination ist für Deutschland nicht vorhanden, wohl aber die Möglichkeit, antideutsche Belleitäten in Oestreich-Ungarn in Schach zu halten, so lange die deutsche Politik sich die Brücke, die nach Petersburg führt, nicht abbricht und keinen Riß zwischen Rußland und uns herstellt, der sich nicht überbrücken ließe. So lange ein solcher unheilbarer Riß nicht vorhanden ist, wird es für Wien möglich bleiben, die dem deutschen Bündnisse feindlichen oder fremden Elemente im Zaume zu halten. Wenn aber der Bruch zwischen uns und Rußland, schon die Entfremdung, unheilbar erschiene, würden auch in Wien die Ansprüche wachsen, die man an die Dienste des deutschen Bundesgenossen glauben würde stellen zu können, erstens in Erweiterung des casus foederis, der sich bisher nach dem veröffentlichten Texte doch nur auf die Abwehr eines russischen Angriffes auf Oestreich erstreckt, und zweitens in dem Verlangen, dem bezeichneten casus foederis die Vertretung östreichischer Interessen im Balkan und im Orient zu substituiren, was selbst in unsrer Presse schon mit Erfolg versucht worden ist. Es ist natürlich, daß die Bewohner des Donaubeckens Bedürfnisse und Pläne haben, die sich über die heutigen Grenzen der östreichischungarischen Monarchie hinaus erstrecken; und die deutsche Reichsverfassung zeigt den Weg an, auf dem Oestreich eine Versöhnung (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 770 Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig ist, ohne Weitres Oestreich angreifen würde, und bin noch heut der Meinung, daß die Truppenaufstellung im russischen Westen auf keine direct aggressive Tendenz gegen Deutschland berechnet ist, sondern nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen die Türkei die westlichen Mächte zur Repression bestimmen sollte. Wenn Rußland sich für ausreichend gerüstet halten wird, wozu eine angemessene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört, so wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie es in dem Vertrage von Hunkiar-Iskelessi 1833 verfahren, dem Sultan anbieten, ihm seine Stellung in Konstantinopel und den ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den Schlüssel zum russischen Hause, d. h. zum Schwarzen Meere, in der Gestalt eines russischen Verschlusses des Bosporus gewährt. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 787 [2-269] populär gemachten Ypsilanti'schen Aufstandes, des durch die Fanarioten vermittelten Ausläufers gräcisirender Orientpolitik, noch die einheitliche Zustimmung der verschiedenen russischen Strömungen hatten, die von Araktschejew bis zu den Decabristen durch einander liefen, ist gleichgültig, jedenfalls aber waren die Erstlinge der russischen Befreiungspolitik, die Griechen, eine, freilich noch nicht durchschlagende, Enttäuschung für Rußland. Die griechische Befreiungspolitik hört mit und seit Navarin auch in den Augen der Russen auf, eine russische Specialität zu sein. Es hat lange gedauert, ehe das russische Cabinet aus diesem kritischen Ergebniß die Consequenzen zog. Die rudis indigestaque moles Rußland wiegt zu schwer, um für jede Wahrnehmung des politischen Instincts leicht lenksam zu sein. Man fuhr fort zu befreien und machte mit den Rumänen, Serben, Bulgaren dieselbe Erfahrung wie mit den Griechen. Alle diese Stämme haben Rußlands Hülfe zur Befreiung von den Türken bereitwillig angenommen, aber, nachdem sie frei geworden, keine Neigung gezeigt, den Zaren zum Nachfolger des Sultans anzunehmen. Ich weiß nicht, ob man in Petersburg die Ueberzeugung theilt, daß auch der „einzige Freund“ des Zaren, der Fürst von Montenegro, was bei seiner entfernten und isolirten Situation auch einigermaßen entschuldbar ist, nur so lange die russische Flagge hissen wird, als er Aequivalente an Geld oder Macht dafür erwartet; aber es kann in Petersburg nicht unbekannt sein, daß der Vladika bereit war, und vielleicht noch bereit ist, als großherrlich türkischer Connetable an die Spitze der Balkanvölker zu treten, wenn dieser Gedanke bei der Pforte eine hinreichend günstige Aufnahme und Unterstützung fände, um für Montenegro nützlich werden zu können. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 788 Wenn man in Petersburg aus den bisherigen Mißgriffen die Folgerungen ziehn und praktisch machen will, so wäre es natürlich, sich auf die weniger phantastischen Fortschritte zu beschränken, die durch das Gewicht der Regimenter und Kanonen zu erreichen sind. Der geschichtlich poetischen Seite, die der Kaiserin Katharina (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)

 

Abs. 790 So mag die Berechnung des Petersburger Cabinets sich gestalten, wenn sie als Zielpunkt zunächst den Verschluß des Schwarzen Meeres und die Gewinnung des Sultans für diesen Zweck durch Liebe, durch Geld, durch Gewalt in Aussicht nimmt. Wenn die Pforte sich der freundschaftlichen Annäherung Rußlands erwehrt und gegen die angedrohte Gewalt das Schwert zieht, so wird Rußland wahrscheinlich von andrer Seite angegriffen werden, und auf diesen Fall sind m. E. die Truppenanhäufungen an der Westgrenze berechnet. Gelingt es, den Verschluß des Bosporus in Güte zu erreichen, so werden vielleicht die Mächte, die sich dadurch beeinträchtigt finden, einstweilen stille sitzen, weil eine jede auf die Initiative der andern und auf die Entschließung Frankreichs warten würde. Unsre Interessen sind mehr als die der andern Mächte mit dem Gravitiren der russischen Macht nach Süden verträglich; man kann sogar sagen, daß sie dadurch gefördert werden. Wir können die Lösung eines neuen von Rußland geschürzten Knotens länger als die andern abwarten. (AAABismarckgedanken2korr-20160203.doc)