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Weber, Thomas, Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von „Mein Kampf“, aus dem Englischen von Schlatterer, Heike/Siber, Karl Heinz. Propyläen Verlag, Berlin 2016. 528 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Weber, Thomas, Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von „Mein Kampf“, aus dem Englischen von Schlatterer, Heike/Siber, Karl Heinz. Propyläen Verlag, Berlin 2016. 528 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die faktische Bindung des deutschen Nationalsozialismus an die Person seines ersten Exponenten Adolf Hitler hat seit jeher die Forschung mit der Frage konfrontiert, aus welchen Quellen sich jene Radikalisierung gespeist hat, die ihn am Ende dazu bewegen sollte, im Namen dieser Ideologie einen weiteren Weltkrieg zu entfachen und einen exterminatorischen Antisemitismus zu realisieren. Die in Hitlers weit verbreiteter politischer Bekenntnisschrift „Mein Kampf“ dazu getätigten Aussagen halten einer kritischen Überprüfung nur bedingt stand, indem mehr und mehr nachgewiesen werden konnte, dass hier das vorrangige Motiv der Selbstinszenierung den Verfasser höchst großzügig mit den tatsächlichen Gegebenheiten umgehen ließ. Allerdings lässt das 1925/1927 erstveröffentlichte Werk unbestritten ein geschlossenes Weltbild und politisches Programm erkennen, wie es später unter geschickter Ausnützung der zur Verfügung stehenden Optionen tatsächlich konsequent ins Werk gesetzt werden sollte. Daraus folgt, dass sich Hitler spätestens zum Zeitpunkt der Abfassung von „Mein Kampf“ darüber im Klaren gewesen sein muss, was er wirklich wollte; die entscheidenden Einflüsse für seine Formung müssen demnach in der Zeit vor diesem Datum gesucht werden. In Konsequenz dieser Erkenntnis haben sich mehrere Forscher (neben Thomas Weber unter anderem Brigitte Hamann, Anton Joachimsthaler und Othmar Plöckinger) mit den frühen Jahren des späteren Diktators intensiv befasst. In der Zusammenschau ihrer Ergebnisse lässt sich nun mit einiger Sicherheit sagen, dass Hitler die ausschlaggebenden Impulse für die Festigung seines politischen Kosmos weder in seiner Wiener Zeit noch – wie ebenso fälschlich angenommen wurde – als Soldat während des Ersten Weltkriegs empfangen hat. In den Fokus gerückt sind stattdessen die Ereignisse seit Hitlers Rückkehr nach München im November 1918.

 

Der 1974 in Hagen geborene, an der University of Aberdeen europäische und internationale Geschichte lehrende Thomas Weber konnte bereits 2011 mit seiner Untersuchung „Hitlers erster Krieg“ wesentliche Klarstellungen zum Wirken des Soldaten Adolf Hitler im Ersten Weltkrieg vornehmen und dafür in der Fachwelt Meriten ernten. Seine aktuelle Publikation stellt den Versuch einer konsistenten Interpretation der Genese des Nationalsozialismus Hitler’scher Prägung dar. Eventuell inspiriert durch Hitlers selbst gewählten Rufnamen „Wolf“, bemüht Thomas Weber für den von ihm ausgemachten, dreistufigen Aufstieg des späteren „Führers“ respektlos die Analogie vom „streunende(n) Hund“ (November 1918 bis Mai 1919), der als „Teil des Rudels“ (Mai 1919 bis Juli 1921) schließlich zum „Anführer des Rudels“ (Juli 1921 bis 1926) avanciert. Seine Entwicklung sei in dieser Form an den Kontext der spezifischen politischen Gegebenheiten in Bayern gebunden gewesen.

 

Mit beeindruckender Detailkenntnis arbeitet der Verfasser die Geschichte des revolutionären Bayern von Kurt Eisner über die Verwerfungen der Räteherrschaft, deren Niederschlagung durch gegenrevolutionäre Truppen, die Auswirkungen des Berliner Kapp-Putsches bis zur Etablierung einer „nationalen Ordnungszelle Bayern“ heraus, wobei auch der Widerstreit zwischen den Protagonisten eines bayerischen Separatismus und jenen der Reichseinheit nicht außer Betracht bleibt. Dabei wird deutlich, wie wenig die gemeinhin verwendeten, groben Raster dem tatsächlichen historischen Geschehen und auch Hitlers Positionierung in diesem gerecht werden. Beispielsweise verlief während der Münchener Räterepublik „die Trennlinie bei den in München stationierten Einheiten […] nicht zwischen der Linken und der Rechten, sondern zwischen der radikalen und der gemäßigten Linken“ (S. 141). Ähnlich pauschal vergröbert würden meist die Freikorps beurteilt, indem vorschnell „die radikalsten Mitglieder der extremistischsten Freikorps als pars pro toto für die gesamte Freikorpsbewegung“ genommen würden, eine Einschätzung, die „letztendlich auf der Darstellung durch Hitler und Göring (basiert)“ und „ignoriert, dass eine erhebliche Anzahl Juden – im Gegensatz zu Hitler – aktiv in paramilitärischen Verbänden kämpfte“ (S. 131f.). Thomas Weber zeigt einen Adolf Hitler, dessen vordringliches persönliches Interesse in Ermangelung ziviler Perspektiven primär opportunistisch seinem Verbleib beim Militär galt, ungeachtet dessen, dass dieses – und damit auch er selbst – zunächst im Dienst der linksrevolutionären Ordnung stand. Seine Verwandlung vom Befehlsempfänger zum Inhaber einer Führungsposition erfolgte erstmalig vor Anfang April 1919, wo er als gewählter Vertrauensmann seiner Kompanie aufscheint, der wenig später auch zum stellvertretenden Bataillonsrat erkoren wird. Hier noch „ein Rädchen im Getriebe des Sozialismus“ (S. 140), habe er sich nach dem Sturz des Räteregimes geschickt als Angehöriger einer Kommission, die gegen Militärangehörige vorging, die sich für die radikale Linke engagiert hatten, dem postrevolutionären Militär angedient und damit seine eigene Entlassung verhindert. Den gleichen Zweck erfüllten seine Ausbildung und sein Einsatz als militärischer Propagandist unter dem Titel eines „Bildungsoffiziers“ – er erhielt hier „zum ersten Mal eine formale politische Bildung“ (S. 149) –, sodass seine Demobilisierung tatsächlich erst im März 1920 erfolgen sollte.

 

Mit dem militärischen Propagandakurs sei vor allem Hitlers „genuine Politisierung und Radikalisierung“ (S. 159) einhergegangen. Dessen wahres „Damaskuserlebnis“ sei, so der Verfasser, der 9. Juli 1919 gewesen, die traumatische Erfahrung der Ratifizierung des Versailler Vertrages, die auch Hitler „zu der verspäteten Erkenntnis kommen (ließ), dass Deutschland den Krieg wirklich verloren hatte“ (S. 163). Fortan und „für den Rest seines Lebens kam er immer wieder auf dieselben zwei Fragen zurück: Wie ließ sich die Niederlage, die Deutschland im November 1918 erlitten hatte, rückgängig machen? Wie konnte man ein Deutschland schaffen, das nie wieder einen November 1918 erleben, sondern gegen dergleichen für alle Zeiten gefeit sein würde?“ (S. 165).

 

Die nicht eingelösten Versprechungen der USA gegen Kriegsende ließen ihn folgern, „dass Macht wichtiger sei als das Recht“ (S. 224). Aus den Vorträgen der Dozenten des Propagandakurses pickte er sich „gezielt die Ideen und Gedankengänge heraus, von denen er glaubte, sie könnten ihm helfen, Antworten auf seine brennenden Fragen […] zu finden“ (S. 173), wie Gottfried Feders Ansichten über den internationalen Kapitalismus und das Finanzsystem oder Karl Alexander von Müllers Überlegungen, Lehren aus der Geschichte als Anleitung für die Staatsführung heranzuziehen und dem Verhältnis Deutschlands zur anglo-amerikanischen Welt eine besondere Bedeutung beizumessen. Sie prägten auch Hitlers zunächst vorwiegend antikapitalistisch akzentuierten, sich von der in München verbreiteten, antibolschewistischen Spielart unterscheidenden Antisemitismus, dessen frühestes Zeugnis (Brief an Adolf Gemlich) wohl nicht zufällig in den September 1919 datiert. Erst unter dem Einfluss der Baltendeutschen Max Erwin von Scheubner-Richter und Alfred Rosenberg soll sich dieser zu einem verschwörungstheoretischen Antisemitismus mit der behaupteten Einheit und Interessenskongruenz von Bolschewismus und Finanzkapitalismus gewandelt haben. Als Hitler später nach dem gescheiterten Putsch vom November 1923 in der Ruhe der Haft „Mein Kampf“ schrieb, verwarf er verschiedene frühere Positionen und ersetzte sie durch neue, noch radikalere und verhängnisvolle Antworten auf seine „Frage, wie ein neues Deutschland geschaffen werden könne, welches nie wieder einen großen Krieg verlieren würde [, nämlich] die Theorie vom ‚Lebensraum‘ und einen Rassismus im Sinne von Hans F. K. Günther“ (S. 420). In der Dokumentation dieser weltanschaulichen Neuorientierung liege die eigentliche Bedeutung dieses im Hinblick auf Hitlers Biographie „weitgehend fiktiv(en)“ Buches (S. 418).

 

Bereits vor seinem Ausscheiden aus dem Militär habe sich Hitler von jenen, die ihn zu instrumentalisieren gedachten, emanzipieren können, hatte er doch längst in der Deutschen Arbeiterpartei (DAP, später NSDAP) eine „Ersatzfamilie“ gefunden, in der er nun „fast über Nacht […] zum Berufspolitiker“ geworden war (S. 264) und sich gegen parteiinterne Konkurrenten wie Karl Harrer und Anton Drexler durchsetzte. Aber erst mit dem Hitlerprozess wurde „aus dem Helfer Ludendorffs und dem regionalen Tribun Hitler eine Persönlichkeit mit einem nationalen Profil“ (S. 417). Die Formulierung allgemein gehaltener Ziele, das Talent, auch auf der Grundlage unvollständiger Informationen rasch zu entscheiden, und der Instinkt für den richtigen Zeitpunkt seien wesentliche Voraussetzungen ihres politischen Erfolgs gewesen. Da Hitler letztendlich „die völlige Umgestaltung Deutschlands […] für eine existentielle Frage hielt“, waren für ihn alle „Kompromisse nur von taktischer und vorübergehender Natur“ und „stets nur Mittel zum Zweck“ (S. 391). Als „(die) vielleicht tatsächlich einzige politische Konstante, die es von Hitlers Jugend bis zu seinem Todestag gab“, identifiziert der Verfasser die „Ablehnung eines Separatismus jedweden deutschsprachigen Gebiets und de(n) Wunsch nach einem geeinten Deutschland“ (S. 215).

 

Thomas Webers Studie macht einmal mehr bewusst, wie wenig historische Prozesse determiniert sind und dass sich scheinbar unvermeidbare Entwicklungen bei genauer Betrachtung immer als einzigartige Produkte der Wechselwirkung einer Reihe ganz spezifischer Faktoren erweisen. So waren beispielsweise „die Aussichten für eine Demokratisierung Bayerns im Januar 1919 […] weiterhin vielversprechend, und zwar nicht obwohl, sondern weil man eben nicht mit der Vergangenheit gebrochen hatte. Die politischen Vorstellungen und Vorlieben waren durch den Krieg überraschend wenig beeinflusst worden; die gleichen Wahlergebnisse, die vor dem Krieg politische Reformen vorangetrieben hatten, stützten nun auch ein neues liberales parlamentarisches System in Deutschland“, und man sah auch „nicht einfach tatenlos zu, wie sich der im Gefolge der Revolution aufkommende virulente Antisemitismus ungehindert ausbreitete“ (S. 53). Erst „der Hunger und das […] Gefühl, man sei von den Siegermächten verraten worden, befeuerten die politische Radikalisierung“ (S. 59). Zur gleichen Zeit noch „galt (Hitler) […] als Mehrheitssozialist und gab sich auch als solcher aus, wie so viele, war aber nie politisch und gewerkschaftlich organisiert“ (S. 81f.), während wenige Jahre später mit der Fertigstellung von „Mein Kampf“ seine „Entwicklung […] von einem Niemand mit einer noch offenen politischen Zukunft zum nationalsozialistischen Führer abgeschlossen (ist)“ (S. 422). Diese persönliche weltanschauliche Festlegung war zwar dispositive Voraussetzung dessen, was der Nationalsozialismus über Deutschland und die Welt bringen sollte, doch bedeutet sie nicht, dass von da an der nachfolgende Gang der Geschichte von vornherein absehbar oder gar ohne Alternative gewesen wäre.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic