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Hammon, Kathrin, Karl Binding/Alfred E. Hoche, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“. Überlegungen zur zeitgenössischen Einordnung und historischen Bewertung (= Internationale Göttinger Reihe Rechtswissenschaft 30). Cuvillier, Göttingen 2011. VII, 197 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Hammon, Kathrin, Karl Binding/Alfred E. Hoche, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“. Überlegungen zur zeitgenössischen Einordnung und historischen Bewertung (= Internationale Göttinger Reihe Rechtswissenschaft 30). Cuvillier, Göttingen 2011. VII, 197 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Sich mit seinem Ableben überschneidend, erschien 1920 in Leipzig die nur 62 Seiten starke, sogenannte „Freigabeschrift“ des im Besonderen durch seine Rechtsgutlehre und die Normentheorie ausgewiesenen, namhaften Rechtslehrers Karl Binding (1841-1920) in Zusammenarbeit mit Alfred Erich Hoche (1865-1943), Professor für Psychiatrie in Freiburg. In ihrer 2010 der Juridischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereichten, von Günter Jerouschek betreuten Dissertation bemüht sich Kathrin Hammon um eine Kontextualisierung dieser Abhandlung  „vor dem Hintergrund der Fragestellung, ob und in welchem Maße die Binding/Hoche-Schrift Zäsur oder Kontinuität in der im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert mit Breitenwirkung geführten Sterbehilfe- und Euthanasiedebatte darstellt“, und reflektiert damit auch, „ob durch die von Binding und Hoche proklamierte ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ eine direkte Verbindungslinie zu den Unmenschlichkeiten des Dritten Reiches führte“ (S. 4). Ihre eigene Arbeit gliedert sie zu diesem Zweck in vier – oder eigentlich: drei Kapitel, denn der als viertes Kapitel bezeichneten Schlussbetrachtung steht mit einem Umfang von nur drei Druckseiten wohl kaum ein solcher Rang zu.

 

Im ersten Abschnitt der Studie werden die Euthanasiedebatten der Jahre 1895 bis 1920 erörtert. Einem in der Antike ansetzenden, historischen Überblick zur Entwicklung des Euthanasiebegriffs folgen kurze Skizzen zur Deszendenzlehre Charles Darwins und zu Ernst Haeckels Monismus, die geistigen Grundlagen für eine in der Literatur ab 1895 verstärkt nachweisbare Enttabuisierung der Tötung Kranker.

 

Kapitel zwei widmet sich dann Bindings und Hoches Traktat aus dem Jahr 1920. Zunächst porträtieren zwei knappe biographische Abrisse die beiden Protagonisten, bevor die Verfasserin den Inhalt der Abhandlung an Hand von Bindings „rechtliche(r) Ausführung“ und Hoches „ärztlichen Bemerkungen“ eingehend erläutert. Breiteren Raum widmet sie anschließend auch der Entstehungsgeschichte des Werks, wobei vor allem die Tagebuchaufzeichnungen Bindings einige Rückschlüsse auf dessen Motive und sein kontrovers diskutiertes Menschenbild zulassen; eine Annäherung an Hoches Motive wird über „sein Verständnis zum Sterben als Mediziner […] wie auch seine Einbindung in den Zeitgeist der Degeneration und des Sozialdarwinismus“ (S. 98) gesucht.

 

Welche Aufnahme die „Freigabeschrift“ vom Zeitpunkt ihres Erscheinens an erfahren hat, ist Gegenstand des dritten thematischen Blocks, den Kathrin Hammon chronologisch, sich an gängigen historischen Zäsuren orientierend, unterteilt. Die juristische Diskussion bis 1933 sei demnach geprägt gewesen durch verschiedene Gesetzesentwürfe zur Freigabe von Krankentötungen sowie durch Auseinandersetzungen um die Begriffe „Lebenswille“ und „Lebenswert“ unter dem Aspekt materialistischer Kosten-Nutzen-Abwägungen. Während der NS-Zeit sei „eine gesicherte, nachprüfbare Aussage über die Qualität der Rezeption der Freigabeschrift […] dadurch erschwert, dass wiederholt Gesprächsprotokolle zu Debatten der Kinder- und Erwachseneneuthanasie überhaupt nicht angefertigt oder in den Kriegsjahren gezielt oder ungezielt vernichtet worden sind, um eine Mitwirkung an den Tötungsaktionen zu verschleiern“. Im Vordergrund stand „nicht Bindings vertretene Tötung Geisteskranker de lege lata“, sondern „wiederholt die im Freigabewerk enthaltene Stereotypik der Gruppen sowie das enthaltene Wortgefüge“. Nichtsdestotrotz benutzten die Verantwortlichen dann in ihren Nachkriegsaussagen „Binding und Hoche methodisch dazu, um ihre Handlungen mit der Aura der Gesetzlichkeit zu versehen und die vorgenommenen Tötungen als Tötungen de lege lata zu legitimieren“ (S. 150f.). Ein abschließender Blick auf die Gegenwart im Fachdiskurs um Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik und Patientenverfügungen offenbare, „dass grundsätzliche Fragestellungen von Binding und Hoche, die Sterbehilfeproblematik betreffend, auch der aktuellen Diskussion innewohnen und zudem selbst dogmatische Erwägungen Bindings in Gegenwartspublikationen zur Sterbehilfe Widerhall finden“ (S. 162).

 

Hinsichtlich ihrer eingangs formulierten Fragestellungen kommt die Verfasserin auf der Basis ihrer Ausführungen zum klar formulierten Schluss, Bindings und Hoches Traktat könne „nicht in den Kontext der affirmierenden Vorläufer der Vernichtungspolitik der NS-Zeit eingeordnet werden“  (S. 163), sei diese doch auch nach der überwiegenden Auffassung der (Nachkriegs-)Gerichte „in dem durchgeführten Ausmaß von beiden Autoren selbst nie beabsichtigt“ worden (S. 156). Ihre „Stigmatisierung […] zu ‚Schrittmachern‘ einer Vernichtungspolitik erfolgte […] erst durch die Krankenmorde in der NS-Zeit, da die Ansichten beider Autoren bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten ausdiskutiert und überholt gewesen sind“. Als „Anwendungsfall“ von Bindings Normentheorie zeige die „Freigabeschrift“ die „Grenzenlosigkeit seiner wertabhängigen Rechtsgutlehre“  (S. 165).

 

Während letztere Feststellung wohl zutreffen mag, ist erstere mit Skepsis zu betrachten. Zu schwammig erscheint die in der vorliegenden Arbeit nicht näher definierte Kategorie des „affirmierenden Vorläufers“, um an ihr historische Verantwortung klar festzumachen; selbst wenn Bindings und Hoches Abhandlung den Argumentationsmustern ihrer Zeit folgte und ihr laut Verfasserin „nichts Grundsätzliches, Ideengebendes zu entnehmen“ (S. 164) gewesen sein soll, ist dies nicht exkulpatorisch, war sie doch ohne Zweifel Element eines geistigen Klimas, in dem dann bestimmte Gelehrte auch „zu einer Straflosigkeit der extensiven Form der Euthanasie im Sinne der ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ neigen“ konnten (S. 165). Werner Heyde, bis Ende 1941 Leiter der medizinischen Abteilung der Zentraldienststelle T 4 sowie Gutachter der gleichnamigen „Euthanasie“-Aktion, saß „einst bei Hoche im Auditorium“ (S. 148), und der (von Hammon nicht rezipierte) Medizinhistoriker Ulf Schmidt hat in seiner Biographie zu „Hitlers Arzt Karl Brandt“ (2009), neben Philipp Bouhler Planer und ärztlicher Durchführungsverantwortlicher für die NS-„Euthanasie“, angemerkt (S. 67 u. 70), dass „Bindings und Hoches Ausdrucksweise von einer außergewöhnlichen Ignoranz der Rechte des Einzelnen und wenig, wenn nicht gar keinem Respekt und keiner Sympathie für das menschliche Leben zeugt“. Mehrfache Kontinuitäten werden so selbst im Personellen offenkundig, denn bis zu seinem medizinischen Staatsexamen im Juni 1928 war auch Karl Brandt Schüler Alfred Hoches in Freiburg; folglich hatte sein „Verständnis dessen, was ‚Euthanasie‘ war und warum sie in bestimmten Fällen durchgeführt werden sollte, […] seinen Ursprung in seinem Medizinstudium der zwanziger Jahre“. So bleibt die Arbeit der Verfasserin vor allem dort, wo sie die „Freigabeschrift“ im rechtlichen Zusammenhang untersucht und ihrer Rezeptionsgeschichte nachgeht, aufschlussreich, gelangt jedoch nach Auffassung des Rezensenten in Bezug auf ihr historisches Verhältnis zur NS-„Euthanasie“ nicht wirklich zu einer stringenten Verortung.

 

In der Form macht der Text leider nicht den besten Eindruck. Noch bevor man das Buch aufschlägt, findet man auf der Rückseite des Einbandes bereits den ersten sinnstörenden Fehler („Freigabeschritt“ statt richtig „Freigabeschrift“); ein beliebiger Blick an das Ende des Literaturverzeichnisses führt zu „Zmarlik, Hans-Günter“, der korrekt aber den Familiennamen „Zmarzlik“ führt. Auch im Einsatz des  Dativs bzw. Akkusativs zeigt sich die Verfasserin mehrfach nicht firm, bisweilen fehlen die Genetivendungen. Solche Nachlässigkeiten beeinträchtigen zwar im Wesentlichen nicht den Aussagegehalt, entsprechen aber nicht den Qualitätsanforderungen, die akademischen Schriften vom Rang einer Doktorarbeit auch in formaler Hinsicht abverlangt werden sollten.

 

Kapfenberg                                         Werner Augustinovic