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Weitin, Thomas, Recht und Literatur (= Literaturwissenschaft. Theorie und Beispiele 10). Aschendorff, Münster 2010. 168 S. Besprochen von Heinz Müller.Dietz.

Weitin, Thomas, Recht und Literatur (= Literaturwissenschaft. Theorie und Beispiele 10). Aschendorff, Münster 2010. 168 S. Besprochen von Heinz Müller.Dietz.

 

Der relativ schmale, aber konzise und in der Darstellung stark konzentrierte und verdichtete Band ist in einer literaturwissenschaftlichen Reihe erschienen. Er thematisiert und reflektiert in acht Kapiteln das überaus weitläufige – und zumindest teilweise auch schwer zu fassende – Verhältnis von Literatur und Recht. Dabei knüpft er einleitend an den US-amerikanischen Diskurs über „Recht als Literatur“ an. Freilich vermisst Thomas Weitin in diesem Diskurs nicht zuletzt den historischen Rückgriff, der ja in der europäischen Diskussion über die Entwicklung der Beziehungen zwischen Literatur und Recht eine bedeutsame Rolle spielt. Als Beispiele für die Begegnung der beiden kulturellen Phänomene werden nicht nur sprachliche Akzente bemüht – etwa die Rhetorik vor Gericht, Metaphern von Rechtstexten und die Hermeneutik, die ja für die Auslegung von Rechtsnormen zentral ist. Vielmehr breitet der Verfasser – nicht zuletzt auf literaturgeschichtlicher und philosophischer Grundlage - ein breites, vielseitiges Panorama wechselseitiger Beziehungen und Querverbindungen aus. Weitin schreitet vom „klassischen“ Vergleich zwischen Theaterstück, Schauspiel und gerichtlichem Prozess über Kants Geschmackslehre, Gadamers Hermeneutik, Derridas Dekonstruktion des Rechts, Luhmanns Verständnis von Literatur und Recht als gesellschaftlicher Funktionssysteme bis hin zu Foucaults Diskursanalyse von Wissenskonstitution und Wissenserwerb und der Entwicklung des Urheberrechts die moderne Entwicklung des Verhältnisses von Literatur und Recht in großen Zügen ab. Er registriert die hohe Einschätzung des Wertes literarischer Lektüre durch Juristen, namentlich Rechtsanwälte, die ja wohl auch zur zunehmenden rechtswissenschaftlichen Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex „Literatur und Recht“ beigetragen, allerdings auch manche Missverständnisse hervorgebracht hat.

 

Im ersten Kapitel geht der Verfasser auf das Verbot des Romans „Esra“ von Maxim Biller ein, das nicht nur in verfassungsrechtlicher Hinsicht große Wellen geschlagen hat. Am Gegensatz von Regelpoetik und Genieästhetik verdeutlicht er die Schwierigkeiten, vor denen die von Heribert Prantl im kritischen Sinne apostrophierten „Kunstrichter von Karlsruhe“ bei ihrer Entscheidung gestanden haben.

 

Das zweite Kapitel hat die „Darstellung des Rechts“ zum Gegenstand. Damit kommt das Theater in den Blick, das sich ja gerade wie kaum eine andere Form künstlerischer Präsentation für die Wiedergabe des Prozesses eignet. Weitins Analyse setzt denn auch mit einem Paukenschlag ein: der Uraufführung von Kleists „Zerbrochnem Krug“ 1808 am Weimarer Hoftheater unter der Regie Goethes. Der Skandal, den dieses Ereignis auslöste, hatte den Erlass von Theatergesetzen zur Folge, durch die Schauspieler zur Disziplin angehalten werden sollten. (Nestroy lässt grüßen!) Damit sollte eine publikumsfreundliche Präsentation der ganz und gar aus dem zeitgenössischen Rahmen fallenden Komödie erreicht werden.

 

Unter dem Rubrum „Darstellung des Rechts“ befasst sich Weitin aber auch mit dem Begriff des sog. „Dichterjuristen“. Wie er einmal mehr an Kleists Komödie veranschaulicht, ist mit solcher Darstellung nicht die bloße Rekonstruktion rechtsgeschichtlicher Fakten gemeint, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit der juristischen Form des Verfahrens aus literarischer Perspektive. Die Verfahrensfragen stehen denn auch im Zentrum der Komödie, wie sie Kleist in geradezu kongenialer Weise gestaltet hat. Sehr gut nachvollziehbar vermag Weitin zu zeigen, wie in Gestalt der Gerichtspersonen Adam und Walter verschiedene Verfahrenskonzeptionen aufeinanderprallen: der gemeinrechtliche Prozess und die freie Beweiswürdigung. Am unglücklichen, scheiternden Agieren Adams exemplifiziert der Autor Austins „Theorie der Sprechakte“. Im Gegensatz zum gerichtlichen Verfahren, das auf Aussagen, die mit den Etiketten „wahr oder „falsch“ belegt werden können, beruht, reitet sich Adam durch sprachliche Fehlleistungen, die ein auf jenes Gegensatzpaar gegründetes Urteil ausschließen, immer mehr in seine Malaise hinein.

 

Thema des dritten Kapitels bilden Geschmacksurteile. Hier knüpft Weitin erneut an Kleists Komödie an,  um Kants Lehre vom Geschmacksurteil für die Entscheidungsfindung fruchtbar zu machen. Der Philosoph legt ja solchen Urteilen, obgleich sie nach subjektiven Kriterien gefällt werden, sehr wohl sozialen Charakter bei. Sie drücken demnach zwar keine objektive, wohl aber „allgemeingültige Gesetzmäßigkeit“ aus. Für Kant stellt das Geschmacksurteil – wie Arendt erkannt hat – „die Grundstruktur des Urteilens schlechthin“ dar (38). „Das Geschmacksurteil ist subjektiv, aber doch auf die Zustimmung aller angelegt.“ (42). Savigny hat dann, ganz im Banne der Frühromantiker, diese Erkenntnis dem Verfasser zufolge (anders als Kant) auf das Recht übertragen. Seine Volksgeistlehre rekurriert auf den „sensus communis, den sozialen Charakter der ästhetischen Urteilskraft“. Unter dieser Prämisse erscheint die Erzeugung von Recht, von Gesetzen wie ein „tatsächlich gemeinschaftsstiftender Akt“ (42).

 

Damit gerät auch Savignys Lehre von der Deutung und vom Verstehen von Rechtstexten ins Blickfeld. Im Anschluss an Schleiermacher geht es ihm hierbei darum, das ursprünglich vom Gesetzgeber Gemeinte zu rekonstruieren. Diese Sicht stößt in der Moderne auf die Kritik Gadamers, wonach es aufgrund des zeitlichen Abstandes und des jedem interpretativen Verfahren zugrunde liegenden Vorverständnisses unmöglich erscheint, einfach in die Fußstapfen des historischen Gesetzgebers zu treten. Der von Gadamer herausgearbeitete Vorgang der Applikation, der den Doppelcharakter des Verstehens, die Anwendung wie die Hinzufügung zum Ausdruck bringt, verweist auf das hermeneutische Verfahren, das ihm zufolge sowohl die Deutung literarischer Texte als auch den Umgang mit Rechtstexten konstituiert. Weitin erblickt dementsprechend in der objektiven Auslegungstheorie, wie sie etwa Arthur Kaufmann vertreten hat, den juristischen Ansatz, der dem Rechtstext im Lichte aktueller gesellschaftlicher Erfahrungen am besten gerecht wird. Darauf verweist die „Sprachtheorie des Rechts“, welche die Mehrdeutigkeit von Texten in Rechnung stellt und die sowohl rechts- als auch literaturtheoretische These ins Zentrum der Auslegung rückt,  dass der Text klüger ist als dessen Autor (59).

 

Im fünften Kapitel setzt sich der Verfasser mit der Dekonstruktion des Rechts auf der Grundlage des von Jacques Derrida entwickelten Konzepts auseinander. Als theoretischer Ausgangspunkt fungiert die auf Benjamins Analyse der Kritik der Gewalt zurückgehende Erkenntnis, dass Recht in seinem Urgrund gesetzt, in einem Akt der Gewalt (Derrida), der seinerseits unbegründet ist, gestiftet wird. Dieser Vorgang kennzeichne auch das Verfahren des Richters. Danach kann er seine Entscheidung nicht einfach aus dem Gesetz ableiten; vielmehr setzt er es unter Anwendung auf den zu entscheidenden Fall im Akt der Urteilsfindung neu. Dass der Gründungsakt des Rechts dezisionistischer Natur ist, hat zur Folge, dass seine Entstehungsgeschichte fiktiv ist. Als Fiktion kann sie aber nicht legitimiert, sondern nur erzählt werden. Als eine solche Erzählung figuriert für den Verfasser Kafkas paradoxer Text „Vor dem Gesetz“(69ff.). Dem Manne vom Lande verwehrt der Türhüter den Zugang zum Gesetz. Die Metaphorik dieser Erzählung verdeutlicht demnach die Schwierigkeiten, den Gesetzestext oder gar das Recht zu verstehen. Der Machtapparat, in dessen Dienst der Türhüter steht, symbolisiert die räumlichen und hermeneutischen Schranken.

 

Niklas Luhmanns Systemtheorie bildet das Thema des sechsten Kapitels. Sie begreift ja Literatur und Recht als eigenständige Funktionssysteme mit je eigenen Codes. Der Systemcode des Rechts besteht demnach im Gegensatz von Recht und Unrecht. Das fordert Argumentationen und Begründungen heraus. Doch schließt die operative Geschlossenheit des Rechts nach Luhmann es aus, Recht im Wege eines Rekurses auf außerrechtliche Prinzipien oder Maßstäbe wie Gerechtigkeit, Vernunft oder Naturrecht zu gründen. Recht, so lehrt die Systemtheorie, ist redundant; aufgrunddessen ist es in der Lage, Informationen zu verarbeiten. Diese „Komplexitätskompetenz“ ermöglicht es dem Recht denn auch, auf neue Sachverhalte in veränderter Weise zu reagieren. „Redundanz ist für Luhmann die Alternative zur Begründungssuche im Sinne prinzipieller Ableitungen.“ (80)

 

Da Luhmann alle gesellschaftlichen Systeme nach demselben Muster in Funktion sieht, gilt dies auch für die autonome Kunst. Sie reproduziert sich gleichfalls nach einem eigenständigen Begriffssystem. Wie jedes gesellschaftliche System beschäftigt sie sich vor allem mit sich selbst (84). Literatur hat nach Luhmann die Bedeutung einer Instanz für das Recht, welche „die Beobachtung der Beobachtung in Reinform“ verkörpert. Damit avanciert sie „zum Inbegriff einer postkritischen Instanz“ (87).

 

Im siebten Kapitel setzt Weitin die Diskurstheorie und die Poetik des Wissens zueinander in Beziehung. Die ablehnende Haltung Luhmanns gegenüber der Kritik führen den Verfasser zu Foucaults Verständnis von Kritik. Die vom Systemtheoretiker apostrophierte Selbstbezüglichkeit der Literatur schließe entgegen seiner Sicht den Bezug zur Welt keineswegs aus. Mit Recht hält Weitin Luhmann entgegen, dass ja gerade die moderne Literatur eine kritische Funktion ausübt. Nicht zuletzt habe die Romantik durch ihren Kritikbegriff „zum Wissensaustausch zwischen Literatur und Recht beigetragen“ (91f.). Für Foucault steht Kritik im Kontext „der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt“ (92, Zitat). Sein Verständnis von Diskurs – das er nicht zuletzt an der justiziellen Wahrheitsfindung exemplifiziert – und dessen Ordnung wird durch die Machtfrage bestimmt. Die Probe auf die Wahrheit macht er an Sophokles’ Tragödie „König Ödipus“ fest. Ödipus gibt sich mit dem von Kreon geleisteten „Göttereid“ nicht zufrieden. Er will das Geschehen untersucht wissen.

 

An diesem Beispiel demonstriere Foucault den Übergang von der Wahrheitsprobe zur Wahrheitsuntersuchung. Mit der Untersuchung aber, die sich nicht in einer bloßen Befragung erschöpft, kommen Weitin zufolge Gewaltanwendung und Geständniskultur ins Blickfeld. Dafür stehen Inquisitionsprozess und die seit 1252 offiziell als „Beweiserzwingungsmittel“ erlaubte Folter (99f.), die erst im frühen 19. Jahrhundert ihr Ende gefunden hat (um freilich als „Erkenntnismittel“ außerhalb gerichtlicher Untersuchungen bis in die unmittelbare Gegenwart fortzuleben). Foucault konstatiere damit einen engen Zusammenhang zwischen Wissen und Macht, für den die gerichtliche Untersuchung lediglich exemplarischen Charakter aufweise. Sein analytischer Diskursbegriff, der sich ja nicht in der Reproduktion von Fakten erschöpfe, sondern stets auf die Form der Darstellung in den Blick nehme, habe demnach den Weg zur „Poetik des Wissens“ gewiesen oder gebahnt (105ff.). Ist auch die Darstellung fachübergreifend für das Erkennen relevant, dann nimmt sie auch an der Entstehung von Wissen teil. Jacob Grimm fungiert mit seinem Rückgriff auf „die gemeinsame Wurzel dichterischer und juristischer Schöpferkraft“ gleichsam als Protagonist für die „poetische Sprache des Rechts“ (106). Den „Schlüsseltext“ erblickt Weitin insofern mit Recht in dem grundlegenden Beitrags Grimms „Von der Poesie im Recht“ (1815).

 

Das Urheberrecht, das der Verfasser im achten Kapitel behandelt, nimmt er einmal mehr von seiner Geschichte seit dem 19. Jahrhundert in den Blick. Jacob Grimm tritt für „Gemeinfreiheit“ des literarischen Werkes nach Zeitablauf ein. Es ist dann, nach seinen Worten, „Eigentum der Welt“ (109). Am Anfang standen freilich Druck- und Verlagsprivilegien, die das Werk freiem Nachdruck auslieferten, dem Autor also keinen Schutz gewährten. Ungehinderter Nachdruck wurde gerade von der Aufklärung ins Feld geführt. Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit der freien Verwertung fremder Texte bildete der Eigentumsbegriff. Er stellte das punctum saliens für die Entstehung des Schutzes geistigen Eigentums dar. Als Vorreiter dieser Entwicklung figurierte der Geniegedanke, der das Werk als Ausdruck individueller Schöpferkraft begriff. Klopstock trat als erster prominenter Verfechter geistigen Eigentums in Erscheinung. Diese Sicht gewann in der Entwicklung von der Genieästhetik bis hin zur Romantik zunehmend an Boden (118). Als Anwälte des Urheberrechts präsentierten sich namentlich Kant, Fichte und E. Th. Hoffmann. Freilich hat inzwischen der rasche mediale Wandel in der Gegenwart aufgrund vielfältiger technischer (Re-)Produktionsmöglichkeiten zu weiteren Interessenkonflikten geführt, die sich auf das Verständnis von „Werk“ und „Autor“ ausgewirkt haben. Das ändert aber nichts daran, dass der Schutz und die Wahrung des „Eigentümlichen“ weiterhin auf der Tagesordnung bleiben (130f.).

 

Beeindruckend erscheint, wie Weitin es verstanden hat, auf begrenztem Raum eine Fülle grundlegender Aspekte in den Beziehungen zwischen Literatur und Recht zu entfalten. Mit wenigen Strichen hat er die Geschichte und aktuelle Szenerie dieses Verhältnisses skizziert. Zur Veranschaulichung reichten ihm einige wenige literarische Exempel. Das beginnt etwa mit Sophokles’ „König Ödipus“, setzt sich mit Kleists „Zerbrochnem Krug“ und E. T. A. Hoffmanns „Fräulein Scuderi“ fort, um dann in Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“ und eben auch in Maxim Billers Roman „Esra“ einzumünden, dessen juristische (persönlichkeitsrechtliche) Dimension gewiss die literarische übersteigt. Das Ganze verrät eine souveräne Handschrift, welche die literatur- wie die rechtswissenschaftlichen Zugänge zur Problematik jenes Verhältnisses sichtbar zu machen weiß. Mit seiner Einbettung des Themas in eine ganze Reihe aktueller philosophischer und sozialwissenschaftlicher Theorien und Ansätze hat Weitin den Kreis einschlägiger Fragen recht weit gezogen. Aber unabhängig davon hat er eine überaus anschauliche und lehrreiche Darstellung vorgelegt, deren Studium viel Gewinn verspricht.

 

Saarbrücken                                                                                       Heinz Müller-Dietz