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Strippel, Andreas, NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945 (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Schöningh, Paderborn 2011. 370 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Strippel, Andreas, NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945 (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Schöningh, Paderborn 2011. 370 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

In der überarbeiteten Druckfassung seiner 2009 von der Universität Hamburg approbierten Dissertation rückt der dort lehrende Verfasser Andreas Strippel mit der Einwandererzentralstelle (EWZ) des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes eine genuin nationalsozialistische - weil in typischer Art staatliche und Parteielemente quasi in Zwitterstellung verquickende - Verwaltungsinstitution ins Licht, der im Kontext der rassenideologisch motivierten Bevölkerungsverschiebungen während des Zweiten Weltkriegs eine Schlüsselrolle zukam. Unter dem Titel eines Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) steuerte und exekutierte Reichsführer-SS Heinrich Himmler seit Oktober 1939 in Hitlers Auftrag die NS-Volkstumspolitik über ein System unterschiedlicher Dienststellen, dem  unter anderem das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) als Mutterbehörde der EWZ, das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA), die Volksdeutsche Mittelstelle (VOMI) und das zunächst als Dienststelle Greifelt geführte, spätere Stabshauptamt (StHA/RKF) angehörten.

 

Dem Verfasser geht es darum zu zeigen, wie durch die Tätigkeit der Einwandererzentralstelle „zum Teil widersprüchliche Rassenvorstellungen über die Praxis miteinander verbunden wurden“ (S. 28), erwuchsen doch „aus den Ungereimtheiten und Leerstellen der Rassekonzepte […] nicht nur Widersprüche und Probleme für die praktische Politik, sondern auch immer wieder neue ‚Lösungen‘ (S. 54)“. Solche Lösungen hatte die EWZ über die gesamte Dauer des Zweiten Weltkriegs für Bevölkerungsbewegungen in einem geographisch weit gestreuten Raum anzubieten: 1939/40 zunächst für die Umsiedler aus dem Baltikum und aus Ostpolen, dann für das Generalgouvernement, Rumänien, Litauen, Slowenien und die Ukraine; in Westeuropa fielen Frankreich und Belgien in den Geschäftsbereich der Nebenstelle Paris. Ihre Aufgabe bestand in der sogenannten Schleusung, einem Selektionsverfahren, dem sich Volksdeutsche, zur „Wiedereindeutschung“ Vorgesehene und Deutschstämmige zum Zwecke der Einbürgerung und Ansiedelung zu unterziehen hatten und von dem etwa eine Million Menschen betroffen waren.

 

Im Regelverfahren wurden die Umsiedler in Sammellagern der VOMI durch eine der bis zu zehn zeitgleich aktiven Fliegende Kommissionen der EWZ - unter anderem kam auch ein Sonderzug zum Einsatz - gemustert und durchliefen dabei einen normierten Stationsbetrieb (Melde- und Ausweisstelle, Lichtbildstelle, Vermögensstelle, Gesundheitsstelle und rassenanthropologische Eignungsprüfung, Staatsbürgerschaftsstelle und Volkstumsprüfung, Berufseinsatzstelle), an dessen Ende der so bezeichnete Ansatzentscheid erging. Vor den Betroffenen nach Maßgabe der Möglichkeiten geheim gehalten, kam dabei der von Eignungsprüfern des RuSHA der SS durchgeführten rassenanthropologischen Begutachtung und Einteilung der Siedlungswerber in vier Wertungsgruppen das größte Gewicht zu. Volk und Rasse wurden dabei „als unterschiedliche Kategorien betrachtet“, sodass es passieren konnte, „dass ein ‚Deutscher‘ nicht eingebürgert wurde, wohingegen ein ‚rassisch Hochwertiger‘ Teil der Volksgemeinschaft werden konnte“ (S. 115). Selbst die von manchen Ärzten der Kommissionen nachdrücklich eingeforderte Berücksichtigung der eugenischen Komponente blieb dem gegenüber stets nur ein „sekundäres Selektionsprinzip“ (S. 118).

 

Der Ansatzentscheid regelte schließlich, „wer auf Grundlage der Wertungsgruppen als ‚O-Fall‘ in den Ostgebieten siedeln durfte, zur ‚Umerziehung‘ in unselbständiger Arbeit als ‚A-Fall‘ ins Altreich musste oder als Sonderfall ‚S-Fall‘ abgelehnt wurde“ (S. 89). Letztere wurden „der nächstgelegenen  Stapo(leit)stelle (gemeldet), die wiederum die Abschiebung nach Rücksprache mit dem RSHA in die Herkunftsgebiete oder das Generalgouvernement durchführte“, später „zwang man abgelehnte Umsiedler zur Arbeit für die deutsche Industrie und Landwirtschaft“ (S. 120). Der von einem Sonderbeauftragten des Reichsministeriums des Innern  (RMdI) geleiteten Staatsbürgerschaftsstelle oblag die Einbürgerung, wobei „in der Praxis Beamte der Sicherheitspolizei für die Ausführung der Anweisungen verantwortlich waren, die wiederum dem RSHA unterstanden“ (S. 118). Staatsangehörigkeitsfragen erlangten mit Fortschreiten des Krieges durch die Einberufungspraxis der Wehrmacht, die Freiwilligen der Waffen-SS, durch Dienstverpflichtete und Freiwillige in Einheiten des Sicherheitsdienstes (SD) und der Polizei und durch den Arbeitsdienst zunehmend Bedeutung; im Mai 1943 unterzeichnete Hitler einen Erlass, der die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit für deutschstämmige Ausländer bei Eintritt in die entsprechenden Organisationen vorsah und  mit dessen Durchführung die EWZ ebenfalls beauftragt wurde. Auch diese Aufgabe wurde sowohl pragmatisch-funktional als auch rassenideologisch konsequent ins Werk gesetzt:  Zwar war „spätestens im Jahr 1944  [...] die Siedlungspolitik im Angesicht der Niederlage Fiktion geworden“, doch hielt das „weder die EWZ noch das RMdI davon ab, bei der Einbürgerung rassenpolitische Kriterien zugrunde zu legen“; im Wege einer Nichtentscheidung konnte die EWZ so „Soldaten für die Wehrmacht einbürgern und sie später wegen mangelnder rassischer Eignung wieder aus der ‚Volksgemeinschaft‘ ausschließen“ (S. 240).

 

Ausführlich stellt Andreas Strippel die Struktur der untersuchten Institution dar, wobei er leider – wie in der gesamten Arbeit - auf jegliche illustrative Aufbereitung und visuelle Unterstützung seines Textes verzichtet. An der Spitze der EWZ zeigt sich dabei eine erstaunliche, ja geradezu atypische personelle Kontinuität: Auf den SS-Offizier und Juristen Dr. Martin Sandberger folgte nach dessen Kommandierung zur Einsatzgruppe A im Juli 1941 der SD-Offizier Lambert von Malsen, der diese Position bis Kriegsende behielt und die Dominanz des Sicherheitsdienstes über die anderen Dienststellen der EWZ festigte, indem er unter anderem deren gesamten Schriftverkehr kontrollierte. Im Führungskader der Behörde werden zwei unterschiedliche Positionen deutlich. Während die Gruppe der vor 1900 geborenen Führungskräfte sich noch stark an Verwaltungsvorschriften gebunden fühlte, arbeiteten die jüngeren, ideologisch radikaleren SD-Offiziere „deutlich handlungsorientierter“ und „ignorierten eher die Verwaltungswege“ (S. 333). Die Personalsituation in den Kommissionen war im nachgeordneten Bereich aus unterschiedlichen Gründen stets vom Mangel an geeigneten Fachkräften und einer dementsprechend hohen Fluktuation gekennzeichnet.

 

Interessant sind die Bemerkungen des Verfassers zum Nachleben der EWZ. Indem ihre Tätigkeit „in der Definition dessen (bestand), was deutsch und wer für die Ostsiedlung rassisch gut war“, gehörten ihre Angehörigen „zur Kerntätergruppe, die sich mit der Neuordnungsplanung, Ansiedlung und Deportation befasste“ (S. 330). Sie war „maßgeblich daran beteiligt, die bestehenden Rassenvorstellungen politikfähig zu machen und so die Vision einer ‚rassereinen Siedlergesellschaft‘ in konkretes Verwaltungshandeln zu überführen“,  und sie „gab ihr Grundlagenwissen über Selektionen an andere Dienststellen, wie die UWZ (= unter Federführung des RSHA organisierte Umwandererzentralstelle zur Durchführung der Vertreibung „unerwünschter“ Bevölkerungsteile wie Juden und Polen; W. A.) oder die Konzentrationslager, weiter und trug somit unzweifelhaft […] maßgeblich zur Etablierung rassenpolitischer Selektion bei“ (S. 332). Dessen ungeachtet wurde später „trotz einzelner Ermittlungen […] keiner der beteiligten SD-Offiziere der EWZ wegen seiner Tätigkeit bei der EWZ verurteilt“ (S. 336). Auf das Aktenmaterial, das sie im Lauf ihrer Tätigkeit zusammengetragen hatten, greifen deutsche Behörden in ihrer - so der Verfasser - „von politischem Opportunitätsdenken“ geprägten Arbeit (Stichwort volksdeutsche Umsiedler und Spätaussiedler) gar bis heute zurück, denn: „Waren bis zum Fall der Mauer die Nazi-Unterlagen gut genug, um eine Hintertür zur Einreise und Integration in den Westen zu ermöglichen, so ist dies seit der Öffnung der Grenzen nicht mehr der Fall. Es geht nun vielmehr darum, diese Möglichkeit zu beschränken, um Einwanderung zu begrenzen“ (S. 335). Eine gründliche Untersuchung dieser Praxis sei daher höchst wünschenswert.

 

So viel man von dieser Arbeit inhaltlich profitieren mag, so sehr müssen leider auf der anderen Seite erhebliche Mängel in der sprachlichen Sorgfalt angesprochen werden. Nahezu auf jeder Seite wird der Leser haarsträubende Fehler ausmachen, und der Rezensent war sogar gezwungen, beim Großteil der in dieser Besprechung wörtlich wiedergegebenen Zitate korrigierend einzugreifen, um sinnentstellende Mängel zu beseitigen (z. B. S. 54: „Ungereimtheiten und Lehrstellen der Rassekonzepte“, verbessert auf „Leerstellen“). Der folgende Satz mag –  stellvertretend für zahlreiche andere Unzulänglichkeiten – diese Kritik noch deutlicher illustrieren: „Auch fuhr gelegentlich nach Stuttgart, um dort zu an Artikeln zu arbeiten“ (S. 155). Das geht beim besten Willen nicht.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic