Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 4/2 Die einzelnen Grundrechte, in Verbindung mit Sachs, Michael/Dietlein Johannes. Beck, München 2011. CXXXVII, 2235 S. Besprochen von Tilman Repgen.
Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 4/2 Die einzelnen Grundrechte, in Verbindung mit Sachs, Michael/Dietlein Johannes. Beck, München 2011. CXXXVII, 2235 S. Besprochen von Tilman Repgen.
Mit Band IV/2 ist der letzte Teil des „Staatsrechts“ von Klaus Stern erschienen. Damit hat ein monumentales Werk seinen Abschluss gefunden, eine Art Parallelwerk zum „Anschütz/Thoma“ sollte es werden. Schon der jeweilige Umfang lehrt jedoch Unterschiede: kamen Anschütz/Thoma noch mit 1499 Seiten aus, um das Staatsrecht der Weimarer Zeit zu beschreiben, umfassen die Sternschen Bände 13167 Textseiten. An den Grundrechtsbänden waren Michael Sachs und Johannes Dietlein beteiligt, so auch in diesem Fall. Gegenstand des hier anzuzeigenden Bandes sind „einzelne Grundrechte“. Es geht um die „Freiheit der politischen Betätigung (Dietlein) – Kultur (Stern) – Schule und Bildung (Stern) – Kunst und Wissenschaft (Stern) – Religion, Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Stern) – Gleichheitssätze (Sachs) – Rechtsschutz und Staatshaftung (Dietlein)“. Hinter jedem dieser Begriffe verbirgt sich ein Kosmos von Fragestellungen. Jeder berührt vielfältige Interessen rechtshistorischer Forschung. Schon das Thema „Freiheit der politischen Betätigung“ reicht weit hinein in die „Staatswissenschaft“, betrifft beispielsweise Fragen der Verbindung von Parteien und Massenmedien ebenso wie das Wahlrecht, also Fragen, die auch jenseits unseres Staates und der Gegenwart dauerhafte Relevanz besitzen. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, ein solches Buch in einer rechtshistorischen Fachzeitschrift zu besprechen. Nicht nur die zahlreichen „Ewigkeitsfragen“ etwa nach dem Verhältnis von Staat und Religion sind dafür ein Grund, sondern auch die Art und Weise ihrer Behandlung insbesondere durch Klaus Stern, der seine verfassungsrechtlichen Überlegungen stets in einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang hineinstellt. Man könnte das Gesamtwerk durchaus lohnend unter diesem methodischen Aspekt studieren. – Die Einzelheiten der handbuchartigen Darstellung können hier nicht ausgebreitet werden. Vielmehr ist auf diejenigen Abschnitte aufmerksam zu machen, die auf die geschichtlichen Grundlagen der behandelten Rechtsinstitute eingehen möchten:
In § 115 I (S. 171-174) kündigt Johannes Dietlein „ideengeschichtliche und systematische Grundlagen“ der Teilhabe an der staatlichen Willensbildung, d. h. der „staatsbürgerlichen Rechte“ an. Leider erfährt der Leser zur Ideengeschichte jedoch an dieser Stelle nichts. Man bleibt verwiesen auf die allgemeinen Grundrechtslehren in Band III/1. Dietlein bezieht sich auf die Lehren Georg Jellineks. Andere Namen oder Konzepte tauchen nicht auf.
Ganz anders verhält es sich im 4. Kapitel mit den „kulturellen“ Grundrechten. Stern führt dem Leser nicht nur eine beklemmende Fülle von Literaturnachweisen vor Augen, sondern auch die Schwierigkeit des Verfassungsrechts, ständig Begriffe zu verwenden, deren Bestimmung beinahe unmöglich erscheint (S. 329ff.). Rudolf Smend und Hermann Heller sind die wichtigen Ausgangspunkte für den Begriff „kultureller“ Grundrechte. Größere Bedeutung bekam das Thema für das Verfassungsrecht erst nach dem 2. Weltkrieg mit Arbeiten von Hans Peters, Arnold Köttgen, Ernst von Hippel sowie Ernst Rudolf Huber (S. 351 sowie S. 357ff., 363). Stern verbindet den Begriff der Kultur vor allem mit gemeinsamer Sprache und noch mehr mit gemeinsamen Werthaltungen (S. 353f.), hält ihn aber inhaltlich offen, insbesondere für Kunst, Wissenschaft, Bildung und Erziehung. Es geschieht eine Rückbindung an Herder, Fichte, Johann Jakob Wagner, Schelling, Wilhelm von Humboldt, Bluntschli, Jacob Burckhardt, Gierke und Bernatzik (S. 360f.). Die Quintessenz ist, dass ein Kulturstaat jenseits der Existenzsicherung die Aufgabe der Pflege „religiöser, geistiger, künstlerischer, wirtschaftlicher“ Interessen habe (S. 361). – Diesen sehr instruktiven Überlegungen zur Entwicklung der Bedeutung des Begriffs Kultur für das Verfassungsrecht folgen im § 116 I (S. 384-410) Ausführungen zur Geschichte des Bildungssystems, insbesondere des Schulsystems insbesondere in Deutschland. Zugleich erläutert Stern die Entstehungsgeschichte von Art. 7 GG. Schon diese historische Einführung belegt, dass Art. 7 GG mehr ist als ein „Schulartikel“, dass die Bildung selbst geschützt wird (vgl. S. 411). Von dieser Grundlage her nähert sich der Leser dann so aktuellen und streitigen Themen wie z. B. „islamischem Religionsunterricht“ und der (im Augenblick wohl nicht möglichen) Einordnung des Islam als „Religionsgemeinschaft“ im Sinne von Art. 7 III GG (S. 418ff.), Kruzifix-Entscheidung (S. 455ff., 935-937, 999), Kopftuchstreit (S. 468ff.). Zur Privatschulfreiheit bietet Stern wiederum einen Einblick in die geschichtlichen Zusammenhänge, die beim Staat kein absolutes Schulmonopol erkennen lassen (S. 519-525). – Auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit verankert Stern in der geschichtlichen Tradition, § 117 I, S. 605-620 sowie § 117 VIII, S. 723-738 sowie § 117 X 1, S. 772-776. – In § 118 I zeichnet Stern die „Entwicklungslinien der Religionsfreiheit“ nach, S. 892-917, deren Anfangspunkt er bei Tertullian im 2. Jahrhundert ausmacht. Sehr rasch führt die Linie dann zur Aufklärung und den Verfassungstexten des 18. Jahrhunderts. Ebenso widmet sich Stern auch der Geschichte der Trennung von Kirche und Staat, S. 897ff. und lenkt den Blick damit auch auf staatskirchenrechtliche Aspekte, wobei er sich keineswegs allein auf die Sekundärliteratur verlässt. Wenn man auch über manche Einzelheiten streiten und den Verlauf der Linien anders einschätzen könnte, etwa den Toleranzgedanken mit Angenendt (Toleranz und Gewalt, 5. Aufl. 2006) sehr viel früher als in der Aufklärung verorten könnte, so bietet die Darstellung doch einen sehr brauchbaren Überblick. – Zum Kriegsdienstverweigerungsrecht nach Art. 4 III GG berichtet Stern viele Details aus den Verfassungsberatungen (S. 1069-1072). – In engem Zusammenhang zur vorhergehenden Materie und daher ganz konsequent an dieser Stelle im Gefüge der Staatsrechts-Bände eingeordnet steht das Staatskirchenrecht, dessen verfassungsrechtliche Seite Stern eingehend behandelt. Er gibt hierzu einen Überblick der geschichtlichen Grundlagen (§ 119 II, S. 1183-1200), der auf einer Zusammenschau einer Reihe jüngerer Darstellungen beruht. Dabei ist es dann beispielsweise nahezu unvermeidlich, von dem Thesenanschlag Luthers in Wittenberg am 31. 10. 1517 zu lesen (S. 1186, freilich mit der neutralisierenden Bemerkung, der Anfang Reformation werde „gemeinhin“ mit dem Thesenanschlag verbunden), obwohl die Historizität dieses Ereignisses unbewiesen geblieben ist (dazu: Konrad Repgen, Ein profangeschichtlicher Rückblick auf die Iserloh-Debatte, in: Luthers Thesenanschlag - Faktum oder Fiktion, hg. v. Joachim Ott und Martin Treu, Leipzig 2008, S. 99-110). In § 119 III schildert Stern sodann die Entstehungsgeschichte des Art. 140 GG (S. 1201-1207). Die Beratungen des Kirchenartikels im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates stellen sich heute als einer der größten „Streitpunkte der Verfassungsberatungen“ (S. 1203, 1361) dar, der in einen „doppelten Kompromiss“ (S. 1206) mündete; doppelt, da man den Weimarer Kompromiss übernommen hat und an die Stelle einer eigenen, neuen Regelung gesetzt hat. Beinahe alle Teilfragen bettet Stern in einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang, so etwa das Recht der Staatskirchenverträge (Konkordate), insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg (S. 1357 ff.).
Michael Sachs hat in dem hier besprochenen Band die verfassungsrechtlichen Gleichheitssätze bearbeitet (§§ 120-122, S. 1435-1845). Auch hier beginnt der Autor mit den ideengeschichtlichen Grundlagen, angefangen von Platon und Aristoteles über Marsilius von Padua, Luther, Montesqieu, Rousseau bis Kant. Als ältesten Normtext erwähnt Sachs Inst. 1,2,2 und meint, in mittelalterlichen Rechtstexten habe die Gleichheit keine nennenswerte Rolle gespielt (S. 1448; immerhin findet der Leser einen Hinweis auf die Arbeit von Barbara Frenz). Hier wäre allerdings doch an den prominenten Freiheitstraktat des Sachsenspiegels zu erinnern (Ldr. III 42; dazu zuletzt insbesondere Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse, Hannover 2007, S. 286ff. sowie Tilman Repgen, Unfreiheit ist wider die Menschenwürde – eine rechtshistorische Miniatur, in: Der Appell des Humanen. Zum Streit um Naturrecht, hg. v. Hans Thomas und Johannes Hattler, Heusenstamm 2010, S. 125-152). Sachs greift dann das Agreement of the People von 1647 auf und berichtet über die amerikanischen und französischen Verfassungstexte. Von dort geht es weiter ins Deutschland seit 1815. Die engere Entstehungsgeschichte von Art. 3 I GG wird in § 120 II 1 (S. 1467-1469) eher knapp behandelt. Die große Linie der geschichtlichen Entwicklung entspricht sicherlich dem vorherrschenden Geschichtsbild. Allerdings bleiben weiße Flecken in einem solchen Bild. Die erwähnte Sachsenspiegelstelle ist nur ein Beispiel. – Im Hinblick auf den objektiv-rechtlichen Gehalt des Gleichheitssatzes, den Sachs „historisch fundiert“ in der „Zielvorgabe sozialer Gleichheit“ sieht (S. 1578), wäre es sicherlich nützlich, die Beziehung zur Freiheitsidee herauszuarbeiten, wie es vor allem Joachim Rückert getan hat („Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006). Hieraus ergäbe sich ein erhebliches rechtskritisches Potenzial für die Bewertung von allerlei „Zwangsbeglückungen“. – Einen eigenen Abschnitt widmet Sachs dem geschichtlichen Hintergrund der Gleichberechtigung von Mann und Frau (§ 121 I, S. 1599-1609; § 121 II 1, S. 1620-1624 und 1690-1692 zur Entstehungsgeschichte von Art. 3 II, III GG), bleibt aber fast ausschließlich bei den entsprechenden Verfassungsdokumenten seit dem 19. Jahrhundert. Hier wäre doch wohl die Einbeziehung der Frauenbewegung wichtig, um den geschichtlichen Hintergrund wirklich zu beleuchten. Sachs schreibt, in Antike und Mittelalter hätten die Frauen in der gesellschaftlichen Realität „durchweg die schlechtere Position“ gehabt (S. 1600). Die sehr lesenswerten Ausführungen von Ernst Schubert (Alltag im Mittelalter, Darmstadt 2002, S. 224ff.) könnten ein differenzierteres Urteil lehren. – Die Unterscheidungsverbote des Art. 3 GG behandelt Sachs im folgenden Paragraphen. Auch hier berücksichtigt er den geschichtlichen Hintergrund (§ 122 II, S. 1707-1725, ergänzend dann S. 1757, 1767f., 1796f., 1807-1811, 1814f.).
Der letzte Abschnitt des Bandes betrifft „grundrechtliche Aspekte des Rechtsschutzes und der Staatshaftung“ (S. 1849-2128), wiederum aus der Hand von Johannes Dietlein. Den ideengeschichtlichen Grundlagen stellt Dietlein die These voran, die „Gewährleistung gerichtlichen Rechtsschutzes gegen freiheitsverkürzende Maßnahmen der öffentlichen Hand“ zähle „zweifellos zu den jüngeren Errungenschaften der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte“ und datiert diese ins 19. Jahrhundert (S. 1871). Ohne die Errungenschaften des 19. Jahrhunderts in diesem Punkt in Zweifel zu ziehen, muss man doch an die ältere Geschichte der Gerichtsbarkeit erinnern. Nach mittelalterlichem Verständnis ist auch der König gerichtsunterworfen (vgl. Ssp. Ldr. III 52, 3), was angesichts des mittelalterlichen Rechtsbegriffs auch nicht verwundert. Peter Oestmann hat wichtige Beobachtungen zur aufgeworfenen Frage für die frühe Neuzeit angestellt (Menschenrechte und ihre Durchsetzung im Alten Reich, in: Altes Reich und neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit, hg. v. Georg Schmidt-von Rhein/Albrecht Cordes, Wetzlar 2006, S. 57-74). Auch wäre an außerdeutsche Entwicklungen wie insbesondere den Habeas Corpus Amendment Act 1679 in England zu erinnern. § 123 XII (S. 2010-2017; außerdem S. 2113f.) bietet einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Staatshaftung.
Insgesamt muss man sagen, dass bei Dietlein die Geschichte eigentlich unverbunden neben den dogmatischen Überlegungen steht, während sie bei Stern deutlich ein integraler Bestandteil verfassungsrechtlicher Argumentation ist. Bei Stern begegnet die Geschichte als selbstverständliches Element, um Orientierung zu bieten, um den eigenen Standpunkt verstehbar zu machen. Die Grenze von dort hin zum Element rechtswissenschaftlicher Argumentation ist fließend. Die Geschichte wird – jedenfalls zuweilen – auch als rechtswissenschaftliches Argument zugelassen. Und zwar auch dann, wenn es nicht um die engere Entstehungsgeschichte einer Norm und den Willen des Verfassungsgebers geht. Ein kleines Beispiel mag das belegen: Immer wieder wird streitig, ob die Verwaltung von Friedhöfen eine eigene Angelegenheit der Kirchen sein könne oder nicht doch eine gemeinsame Angelegenheit auch der politischen Gemeinde. Unter Rückgriff auf zahlreiche Literaturnachweise erklärt Stern: „Kirchliche Friedhöfe haben eine längere Tradition und werden zu Recht allein von den jeweiligen Religionsgemeinschaften verwaltet, die diese Aufgabe als ureigene Angelegenheit verstehen“ (S. 1249). – Verwickelter ist da schon das Beispiel des Sonn- und Feiertagsschutzes, der zwar kulturell seit Jahrhunderten gelebt, aber normativ erst im 20. Jahrhundert verfassungsrechtlich anerkannt wurde (S. 1333) – übrigens ein Erfolg vor allem des Zentrumsabgeordneten Adolf Gröber (S. 1334), der bereits in der Reichstagskommission maßgeblich für den Sonn- und Feiertagsschutz im Bürgerlichen Gesetzbuch gesorgt hatte (vgl. Staudinger/Repgen [2009] § 193 Rn. 2 m. w. N.). Für die „dreidimensionale Schutzrichtung“ des Sonn- und Feiertagsschutzes: kirchlich-religiös, sozialstaatlich und „werthaft-kulturstaatlich“ beruft sich Stern dann jedoch wieder auf die Geschichte. Nur diese Schutzzweckinterpretation entspreche „der Tradition und den in der Entstehungsgeschichte zum Ausdruck kommenden Intentionen“ (S. 1335).
Ein mehr als 100seitiges Register schließt den Band ab und bietet so raschen Zugriff auf eine faszinierende Summe zu zentralen Fragen unserer Verfassungskultur.
Hamburg Tilman Repgen