Segev, Tom, Simon Wiesenthal. Die Biographie, aus dem Hebräischen übersetzt v. Lemke, Markus. W. J. Siedler, München 2010. 574 S., Abb. Besprochen von Hannes Ludyga.
Segev, Tom, Simon Wiesenthal. Die Biographie, aus dem Hebräischen übersetzt v. Lemke, Markus. W. J. Siedler, München 2010. 574 S., Abb. Besprochen von Hannes Ludyga.
Simon Wiesenthal (1908-2005), der sich in Österreich bisweilen ziemlich einsam fühlte,[1] gilt in der freien westlichen Welt als einer der großen Gerechten und zählt zu den geachtetsten Menschen des 20./21. Jahrhunderts. Geboren wurde er in Buczacz, einer Kleinstadt der Donaumonarchie. Der Großteil seiner galizisch-jüdischen Familie wurde im Holocaust ermordet und sein Überleben wurde ihm zum Auftrag. Er wollte an die Ermordeten erinnern, die Täter vor Gericht bringen und forderte ohne Hass zu schüren Recht, nicht Rache. Wiesenthal, der 1945 durch die US-Armee aus dem Konzentrationslager Mauthausen befreit wurde und – auch wenn er Zionist und großer Anhänger des Juristen sowie frühen Zionisten Vladimir Jabotynskij (1880-1940)[2] war - in der Folge in Österreich lebte, entging 1982 knapp einem Bombenanschlag von Neonazis und wurde nach seinem Tod 2005 in Israel bestattet. Sein Portrait ziert in Israel heute eine Briefmarke. Wiesenthal blieb nach 1945 in Österreich, da er dieses Land vom Antisemitismus befreien wollte und aufgrund seiner Herkunft aus Galizien Wien als seine spirituelle Heimat empfand. Dass er Österreich als seine Heimat betrachtete, haben ihm zahlreiche Österreicher bis heute nicht vergeben. Zuspruch und Ermunterung erhielt er aber immer wieder außerhalb Österreichs. So schrieb Elisabeth Taylor voller Verehrung an ihn: „Ich liebe Dich und wir alle brauchen dich.“ Anerkennend schrieb auch die britische Journalistin Hella Pick: „Wiesenthal ist ein Vorbild, und - ja - er ist ein Held des Lebens: nicht nur ein jüdischer Held, sondern ein Held unserer Zeit.“
Der 1945 in Jerusalem geborene prominente israelische Historiker Tom Segev, dessen Eltern 1935 aus Deutschland fliehen mussten und dessen Vater 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg starb, schrieb eine differenzierte, aus umfassendem Archivmaterial, zahlreichen Briefen und Geheimdienstdossiers von CIA, Mossad sowie Bundesverfassungsschutz erarbeitete Biographie über Wiesenthal. Segev gehört in Israel zu einer so bezeichneten Gruppe „Neuer Historiker“, die eine neue Bewertung der Geschichte des Zionismus und des Staates Israel suchen. Er selbst erlangte in Deutschland und Österreich teilweise große Bekanntheit und „Beliebtheit“ wegen seiner am Staat Israel geäußerten Kritik und wird von Judenfeinden immer wieder instrumentalisiert und undifferenziert missbraucht.[3]
Segev gibt in seiner Darstellung im Spiegel von Wiesenthals Leben einen tiefen Einblick in die rechtlichen, politischen, und kulturellen Zustände der zweiten österreichischen Republik seit 1945, in der ein großes Desinteresse an einer juristischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus bestand und vieles dafür getan wurde, dass die nationalsozialistischen Verbrecher nicht vor Gericht kamen. Er zeigt wie Wiesenthal sofort nach seiner Befreiung durch eine Zusammenstellung einer Liste von NS-Schergen die Aufspürung von Nationalsozialisten begann und Hinweise zur Verhaftung von zahlreichen nationalsozialistischen Verbrechern auf der ganzen Welt lieferte. Wiesenthal trug maßgeblich zur Verhaftung und Verurteilung des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann (1906-1962), des Lagerkommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka Franz Stangl (1908-1971), des Gestapochefs von Lyon Klaus Barbie (1913-1991), des österreichischen SS-Führers Franz Murer (1917-1994), des SS-Obersturmbannführers Karl Silberbauer (1911-1971), der Anne Frank (1929-1945) in Amsterdam verhaftet hatte, oder des mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten SS-Manns Julius Viel (1918-2002) bei. Bei seinen Arbeiten wurde Wiesenthal nach den Erkenntnissen Segevs teilweise vom israelischen Geheimdienst unterstützt. Bereits 1953/54 wies er – ohne dass er aber, wie es teilweise behauptet, wird Mossad-Agent war - den israelischen Geheimdienst auf den Aufenthaltsort Eichmanns in Argentinien hin. An der Ergreifung Eichmanns schließlich 1960 in Argentinien war nach den Angaben Segevs noch stärker Fritz Baur (1903-1968) als Wiesenthal beteiligt.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt Segev der sogenannten Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre, bei der es um den jahrelangen Konflikt zwischen dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky(1911-1990), der selbst dem nationalsozialistischen Rassenwahn nur durch eine Flucht nach Schweden entkam und 1946 nach Österreich zurückkehrte, sowie Wiesenthal ging. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung deckte Wiesenthal die SS-Vergangenheit des damaligen FPÖ-Obmannes Friedrich Peter (1921-2005) auf und zeigte, dass einige von Kreiskys Ministern früher NSDAP-Anhänger waren. Zudem erklärte er: „Die sozialistische Partei Österreichs wurde im Lauf der Jahre zur wichtigsten Fürsprecherin der ehemaligen Nationalsozialisten.“ Deutlich arbeitet Segev heraus, dass bei der Affäre von Kreisky gegen Wiesenthal erhobene Vorwürfe, mit den Nationalsozialisten kollaboriert zu haben, in keiner Weise der Wahrheit entsprechen und jeder Tatsachengrundlage entbehren. Kreisky tat Wiesenhtal – so Segev - ungeheuerliches Unrecht an. Insgesamt stuft der Autor das Handeln Kreiskys gegenüber Wiesenthal sehr negativ ein und attestiert Kreisky in diesem Zusammenhang, den „Verstand verloren zu haben“.
Der Autor zeigt, dass Wiesenthal in der deutschen Politik konservativen Parteien näher stand als den Sozialdemokraten. So pflegte er zum deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, der ihn mehrfach für den Friedensnobelpreis vorschlug, ein herzliches Verhältnis. Kohl traf Wiesenthal wiederholt während seiner Ferien am Wolfgangsee.
Sein Leben lang litt Wiesenthal unter Antisemitismus und erhielt Tausende von antisemitischen Schmähbriefen. Die meisten dieser Briefe heftete er in Ordnern ab, die mit einem großen „M“ für „meschugge“ gekennzeichnet waren.
Segevs äußerst gelungene Biographie über Wiesenthal ist ein entscheidender Beitrag gegen das Vergessen und für die Erinnerungskultur. Das Werk ist ein bedeutendes Dokument für die gesamte Zeitgeschichte.
Auf die Frage, warum er nach 1945 nicht wieder in seinem ursprünglichen Beruf als Architekt arbeitete, antwortete Wiesenthal seinem Gegenüber einmal: „Du bist ein religiöser Mensch, Du glaubst an Gott und an die nächste Welt. Ich glaube auch. Wenn wir einst in die andere Welt kommen, werden uns die Millionen, die in den Lagern ermordet wurden fragen: ,Was habt Ihr in Eurem Leben gemacht?’ Auf diese Frage wird es viele Antworten geben und du wirst sagen: ,Ich wurde Juwelier.’ Ein anderer wird sagen: ,Ich habe mir ein schönes Haus eingerichtet’. Ich werde sagen: Ich habe Euch nicht vergessen“.
München Hannes Ludyga
[1] Simon Wiesenthal, Recht, nicht Rache. Erinnerungen, Frankfurt am Main 1991, S. 8.
[2] Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, München 2002, S. 50.
[3] David. Jüdische Kulturzeitschrift, Heft 87 (2010), http://www.davidkultur.at/ausgabe.php?ausg=87&artikel=195 [abgerufen am 9.12.2010]. Es etablierte sich auch in Österreich und Deutschland als eines besondere Form der Judenfeindschaft der Antizionismus, um auf Nebenwegen Abneigungen gegen Juden zu transportieren und das Existenzrecht Israels zu bestreiten. Dazu: Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus, München 2004, S. 203.