Rupnow, Dirk, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie (= Historische Grundlagen der Moderne 14). Nomos, Baden-Baden 2011. 494 S. Besprochen von Martin Moll.
Rupnow, Dirk, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie (= Historische Grundlagen der Moderne 14). Nomos, Baden-Baden 2011. 494 S. Besprochen von Martin Moll.
Nach Jahrzehnten weitgehenden Desinteresses an der sogenannten NS-Judenforschung, die nach 1945 zunächst schon deshalb kaum Aufmerksamkeit fand, weil sie nicht (mehr) als Wissenschaft galt, sind 2011 zeitgleich zwei Bände auf den Markt gekommen, die sich beide genau mit diesem Thema befassen. Horst Jungingers „Die Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage’ im Nationalsozialismus“ (vgl. meine Besprechung in dieser Zeitschrift) konzentriert sich jedoch so stark auf die protestantische Theologie, insbesondere an der Universität Tübingen, dass der wesentlich breiter angelegte Zugang Dirk Rupnows unbedingt vorzuziehen ist.
Deutlicher als Junginger verweist Rupnow, der mit dieser Arbeit 2009 an der Universität Wien habilitiert wurde, auf die Sinnlosigkeit des verständlichen Unterfangens, die Judenforschung des „Dritten Reiches“ als Pseudowissenschaft von Scharlatanen zu ignorieren. Rupnow interpretiert sie vielmehr als eine für die Verhältnisse der 1930er und 40er Jahre durchaus moderne Meta-Disziplin mit der Historie als Leitwissenschaft und breit gestreuten Kooperationen bis hin zu den Naturwissenschaften (Biologie usw.). Sie usurpierte die zuvor nahezu ausschließlich von Juden selbst betriebenen jüdischen Studien; deren Vertreter wurden gewaltsam von Subjekten des Forschens zu deren Objekten gemacht, die von jenen geleisteten Vorarbeiten jedoch schamlos ausgebeutet. Die NS-Judenforschung verstand sich zwar als wissenschaftlich und objektiv, machte aber weder aus ihren antisemitischen Prämissen noch ihrer extremen Nähe zu Politik und Propaganda jenes Staates, dem sie ihr Entstehen verdankte, das geringste Hehl.
Rupnow befasst sich zuerst mit Fragen der Begrifflichkeit (jüdische Studien, Judaistik, Judenforschung usw.), geht dann auf die vom NS-Regime neu ins Leben gerufenen, außeruniversitären Institutionen der Judenforschung sowie deren leitende Personen ein und untersucht in dem wohl spannendsten Kapitel des Buches das Verhältnis der neuen Disziplin zu der an den Universitäten etablierten Geschichtswissenschaft. Wenig verwunderlich, zeigte sich letztere in Summe – bei aller Kritik an manchen eingereichten Dissertationen von Judenforschern – durchaus aufgeschlossen und verlieh dem um Anerkennung ringenden, neuen Fach akademische Reputation. Zu den institutionellen und biographischen Kapiteln, die den Kern der Studie ausmachen, gehört noch ein Abschnitt über die erfolglosen Anläufe, ein Fach „Judenwissenschaft“ an den Universitäten zu verankern; in diesem Zusammenhang befasstt sich Rupnow insbesondere mit Wien.
Es überrascht daher nicht, dass die abschließend gestellte Frage nach den Kontinuitäten der NS-Judenforschung ebenfalls von Wien ihren Ausgangspunkt nimmt, hier jedoch keineswegs stehenbleibt. Nachdem die unterschiedlichen Exkulpationsstrategien der Protagonisten, die sich nach 1945 mit Vorliebe auf den „streng wissenschaftlichen“ und daher per se unpolitischen Charakter ihrer antisemitischen Arbeiten beriefen, dargestellt worden sind, zerfließt die Arbeit auf ihren letzten 50 Seiten etwas, indem sie die Entwicklung der nun explizit philosemitisch ausgerichteten jüdischen Studien sowie der Antisemitismusforschung bis in die Gegenwart schildert.
Rupnow hat eine beeindruckende Masse an Literatur und Archivquellen ausgewertet. Die Darstellung verliert sich allerdings möglicherweise deswegen stark in Details; eine Straffung wäre bei Konzentration auf das Wesentliche sowie bei Weglassung von Redundanzen leicht möglich gewesen. Die Anordnung der Kapitel springt immer wieder zwischen den drei Zeitperioden (vor 1933, NS-Zeit und danach) hin und her, so dass der Leser nur schwer einen roten Faden durch das Buch erkennen kann. Sieht man hiervon ab, überzeugt die Positionierung der Judenforschung in einer allgemeinen Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Stringent wird dargelegt, dass zwar keine Wissenschaft im luftleeren Raum existiert, gerade die Judenforschung aber nur als besonders markanter Schnittpunkt aus Propaganda, NS-Ideologie, Politik und eben Wissenschaft verstanden werden kann. Zu den wesentlichen Resultaten gehört, dass die Judenforscher weit eher die politischen Vorgaben ab 1933 nachvollzogen, bestenfalls begleiteten, als dass sie eigenständige „Vordenker der Vernichtung“ gewesen wären, wie zuvor behauptet.
Graz Martin Moll