Ogorek, Regina, Aufklärung über Justiz. Halbband 1 Abhandlungen und Rezensionen, mit einer Einleitung von Simon, Dieter, Redaktion Barnert, Elena, Halbband 2 Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986, 2. unveränd. Auflage (= Rechtsprechung 28). Klostermann, Frankfurt am Main 2008. XIV, 583, XVI, 423 S. Besprochen von Siegbert Lammel.
Ogorek, Regina, Aufklärung über Justiz. Halbband 1 Abhandlungen und Rezensionen, mit einer Einleitung von Simon, Dieter, Redaktion Barnert, Elena, Halbband 2 Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986, 2. unveränd. Auflage (= Rechtsprechung 28). Klostermann, Frankfurt am Main 2008. XIV, 583, XVI, 423 S. Besprochen von Siegbert Lammel.
Die zusammenfassende (Wieder-)Veröffentlichung der sich mit dem Justizwesen in Geschichte und Gegenwart befassenden Aufsätze sowie der vergriffenen Habilitationsschrift Regina Ogoreks wird im Vorwort von ihrem Habilitationsvater und Mentor neben weiteren (überflüssigen) Lobeshymnen damit begründet (und nicht gerechtfertigt, denn einer solchen bedarf es angesichts der einerseits höchst interessanten, andererseits spannenden und stringenten Argumentationsweise nicht), dass bislang die „rechtshistorische Aufklärung über Justiz“ .... „ein notleidendes Vorhaben“ sei und deshalb besonders gefördert werden müsse. Justiz wird im ersten Band sowohl als Institution als auch als im Hinblick auf das Personal betrachtet. Die 22 Abhandlungen und 9 Rezensionen umspannen einen Zeitraum vom Ende des 18. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Dabei zieht sich wie ein roter Faden durch die institutionenbezüglichen Abhandlungen der Kampf um die Interpretationshoheit über die Gesetze und das Recht. Denn die Gesellschaft wird durch Gesetze geordnet; damit übt derjenige, der die Gesetze anwendet, interpretiert, Folgerungen aus ihnen zieht, Macht aus und diese Macht will der historische Souverän nicht oder zumindest nicht vollständig aus der Hand geben. Vor diesem Hintergrund werden sowohl die privilegia de non appellando (an das Reichskammergericht) für die größeren Territorialherren oder auch die Machtsprüche als Eingriff in die „schlechte Justiz“ verständlich; der Souverän kann sich damit als „Guter Hausvater“ gegenüber seinen Untertanen präsentieren. Erst mit dem aufkommenden Bürgertum wandelte sich das Organisationsstatut der „technokratischen“ Gewaltenteilung in ein „Grundrecht“ auf eine unabhängige Rechtsprechung. Damit wandelten sich aber auch die Sichtweisen auf dieses Institut. Zum einen musste sein Umfang (über die herkömmliche Straf- und Zivilgerichtsbarkeit hinaus) abgeklärt werden; zum anderen rückte das Rechtsprechungspersonal in den Fokus der (kritischen) Betrachtung. Damit ist aber auch die Frage des „politischen“ (verstanden als umfassender Begriff im Sinne der politeia) Richters angeschnitten, darf oder sollte er sogar die politischen und/oder sozialen Konsequenzen seiner Entscheidungen mit ins Entscheidungskalkül einbeziehen? Oder ist „Politik“ Sache der gesetzgebenden und/oder ausführenden Gewalten? Vor diesem Hintergrund ist vielleicht auch der berühmt-berüchtigte „Subsumtionsautomat“ Montesquieus neu zu bewerten. Es mag zwar sein, dass diesbezüglich die Argumentationskette Montesquieus nicht ausreichend beachtet worden ist (so die Autorin S. 77f.). Aber hieran knüpfen sich zwei (unbeantwortete – die aufgeführten methodischen Differenzierungen helfen insoweit nicht weiter -) Fragen an: Wenn der „Subsumtionsautomat“ eine Fehlinterpretation gewesen ist, wer hat diese aufgebracht und weiterverfolgt, möglicherweise doch zu dem Zwecke, die ([un-]heimliche) Macht der Rechtsprechung wieder einzugrenzen. Und: Entspricht der „Automat“ nicht dem stringenten Verständnis der Gewaltenteilung; auf der einen Seite die Rechtsetzung, auf den anderen Seiten die an das Recht gebundenen Rechtsanwendungen oder Rechtsausführungen; zwingend daraus folgend der référé législatif. Denn richterliche Rechtsanwendung bedeutet in der Praxis Auslegung (des Rechts und der unterbreiteten Tatsachen), und Auslegung kann sich zur Rechtsschöpfung entwickeln (in der Neuzeit besonders durch das Bundesarbeitsgericht). Für die ambivalenten Ergebnisse der „politischen“ Justiz braucht nicht unbedingt auf die Zeit des Nationalsozialismus zurückgegriffen zu werden (S. 294), auch das liberale Staatsmodell spiegelte sich in der Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts bei der Beurteilung von wirtschaftsrelevanten Sachverhalten mit einem wirtschaftsfreundlichen Ergebnis (S. 263); aber auch das ist keine Besonderheit der abgelegten Vergangenheit: der Bankensenat (XI. Zivilsenat) des Bundesgerichtshofs hat bis in jüngste Zeit Ähnliches praktiziert. Letztlich bleibt die Frage des politischen Richters unbeantwortet, zumal es an der Begriffsklärung des „Politischen“ fehlt. Denn selbst wenn der „politische“ Richter als Träger der Staatsidee bzw. als Diener der Staatsräson bezeichnet wird, bleibt immer noch das Problem der Festlegung des Inhalts dieser Ideen; der letzte Anker im Naturrecht ist ebenfalls nicht unumstritten. Aber auch inhaltlich muss sich die Justiz Kritik gefallen lassen, ihre Urteilsbegründungen stoßen auf methodische Anfragen, sofern sich die Methodik aus den Gründen überhaupt entnehmen lässt (S. 121, 135 einerseits, S. 407, 413 andererseits; aber ein Vergleich mit den französischen Judikaten zeigt, dass es auch fast ohne Gründe geht). Sieht man einmal von den teilweise etwas plakativ geratenen Überschriften ab, liegt eine Aufsatzsammlung vor, welche die Facetten der Justiz umfassend beleuchtet. Allerdings , wie es eine Beleuchtung so mit sich bringt, nur von außen. Komplementär dazu hätte es einer Darstellung der Richterausbildung auch unter historischen Gesichtspunkten bedurft; es gibt schließlich noch die Anleitungsbücher, die jahrzehntelang den Referendaren empfohlen worden sind (wie Stölzel, Schulung für die juristische Praxis, oder Sattelmacher, Bericht, Gutachten, Urteil) oder die Ausbildungsordnungen für Juristen. Darin findet sich möglicherweise ein ganz anderes (ob positiveres oder negativeres, mag dahingestellt bleiben) Richterbild als vom äußeren Draufblick.
Der zweite Band soll die theoretischen Grundlagen (nach-)liefern für die Einzelthemen des ersten Bandes. Hierbei handelt es sich um die Wiederveröffentlichung der Habilitationsschrift aus dem Jahre 1984, die nach Auffassung des Herausgebers Dieter Simon nicht die ihr seiner Ansicht nach gebührende Beachtung gefunden hat (Einleitung S. IX). Die Arbeit kann in zwei große Abschnitte eingeteilt werden: die Teile 2 und 3 sind dem Schlagwort „Richterkönig“ zuzuordnen, Teil 4 dann dem „Subsumtionsautomaten“. Sicher, der Titel ist schön plakativ; aber – abgesehen davon, dass die in ihm benutzten Schlagworte eingestandenermaßen nicht von der Verfasserin stammen – es wird eigentlich nicht besonders deutlich, was unter dem „Richterkönig“ zu verstehen ist. Doch bestimmt nicht der „legibus solutus“ ( D1,3,31). Im Grunde genommen geht es in diesen Teilen um Auslegungsfragen; darüber bedurfte es aber keiner aufklärenden Erleuchtung; denn diese Tätigkeit ist jeder richterlichen Entscheidung genuin. Deswegen sollen hier die diffizilen Auslegungstheorien, die in extenso dargestellt werden, nicht nachgezeichnet werden. Aber Theorien sind doch kein bloßes Glasperlenspiel, sondern sollen – gerade bei der Rechtsanwendung – sowohl einen praktischen wie auch gesellschaftlich-politischen Bezug haben. Beides hat der Rezensent in den Ausführungen vermisst. Im Gegenteil: die Praxisrelevanz mancher Auslegungskategorie wird sogar schlicht verneint (z. B. S. 100; 161), wobei sich dann die Frage erhebt, welchen Wert diese Kategorie für eine „praktische“ Wissenschaft hat. Aber auch die eigentlich zentrale Frage – die Abgrenzung der Funktionen von Gesetzgeber und Richter (s. S. 54) – taucht nur versteckt auf. Natürlich wird breit erörtert, wie weit die Auslegungsbefugnis des Richters gehen darf, aber der gesellschaftspolitische Hintergrund wird entweder ausgeklammert oder nur mit ein paar Schlagworten bedient, deren Inhalt nicht näher reflektiert wird (z. B. S. 116: „Ordnungsvorstellungen der Zeit“; S. 244 „freiheitlich-demokratischer Akzent“; S. 263 „politischer Bedarf“, s. auch S. 268, 272). Eigentlich ging es in dieser Zeit jedoch um die Machtverteilung im Staate; denn wer die Möglichkeit hatte, gestaltend durch Rechtsetzung zu wirken, hatte letztlich auch die Macht über die Lebensverhältnisse. Deshalb war es von besonderer Bedeutung, die Befugnisse der Richter entweder zu beschränken oder auszudehnen. Jede dieser Ansichten diente der Machterhaltung/Machtgewinnung: entweder des (ursprünglich fürstlichen) Souveräns oder des (aufkommenden) Bürgertums. Vor diesem Hintergrund sind die dargestellten Interpretationstheorien zu sehen, wobei die richterliche Gesetzeskorrektur (S. 141) am weitesten ging. Der Umschlag der „erweiternden“ Tendenz kam erst, als das Bürgertum auch politisch-gesetzgeberisch gleichsam „saturiert“ war, d. h. an der Gesetzgebung (mehr oder minder) maßgeblich beteiligt war. Jetzt schlug das Interesse der erweiternden Befugnisse des Richters um in besitzstandswahrende (S. 254) mit der Tendenz, die Befugnisse wieder einzuschränken. Diese Gedanken tauchen zwar mehr oder minder deutlich in der Arbeit auf, werden aber nach Ansicht des Rezensenten nicht deutlich genug in den Zusammenhang mit der Theoriebildung gestellt. Symptomatisch ist der Verzicht auf die Nachfrage, was z. B. unter den „factischen Grundlagen, der Natur der Sache, der Verhältnisse“ bei der Bildung von Rechtssätzen im Handelsrecht zu verstehen ist (S. 217 unter Zitierung von Thöl, Handelsrecht; zu dieser Problematik z. B. Lammel, Zur Entstehung von Handelsrecht, 1987, S. 325ff.; Essers, Vorverständnis und Methodenwahl, wird zwar im Literaturverzeichnis aufgeführt, aber daraus gezogene Folgerungen sind nicht ersichtlich).
Im zweiten Abschnitt (Teil 4) wird erläutert, wie es zu dem Begriff des Subsumtionsautomaten kommen konnte. Hierin sollte eine Beschränkung der richterlichen Tätigkeit im Bezug auf politische Tatbestände gefunden werden, um andererseits auch die Verwaltungstätigkeit der richterlichen Kontrolle unterwerfen zu können. Die aufs Technische beschränkte Tätigkeit des Richters sollte so von der schöpferischen Tätigkeit der politischen Verwaltung abgegrenzt werden. Aber eigentlich war allen Diskutanten bewusst, dass diese Beschränkung auf den unpolitischen Richter nur eine Camouflage war, hinter der sich die umfassende richterliche Prüfungsbefugnis verbarg. Auch in diesem Bereich ging es um durchaus verschiedene Tatbestände, die sich eigentlich nicht gegenseitig behindern dürften: die Verteidiger der umfassenden Richterbefugnis stellten das Rechtsgut „Eigentum“ in den Vordergrund, zu dessen Schutz war der Richter berufen, gleichgültig, von wem der Eingriff ausging. Die Verteidiger der politischen Freiheit sahen demgegenüber den Schutz der staatlichen Gestaltungsfreiheit als vordringlich an, die aber auch im gesetzlichen Rahmen ausgeübt werden musste. Der Schutz des Eigentums gegenüber dem Verwaltungshandeln war in diesem Sinne schon im ALR, Einleitung §§ 74, 75, gewährleistet, allerdings „nur“ unter dem Schlagwort „dulde und liquidiere“. Ob das Argumentationsspiel mit dem „Subsumtionsautomaten“ seinen Zweck erfüllt hat, mag dahingestellt bleiben; zu bezweifeln ist allerdings, ob die Gegner einer Ausdehnung der richterlichen Prüfungskompetenz so blind waren, diese Vorwände nicht zu durchschauen. Ob anhand der Ausführungen der Vorwurf eines unpolitischen Richters gemacht werden kann (S. 352, 353), ist fraglich: ungeklärt bleibt nämlich der möglicherweise sehr unterschiedliche Begriffsinhalt des „Politischen“ damals und heute.
Fazit: Eine „Erleuchtung“ über die „Justiz“ oder die „Justiztheorie“ bieten die Bände nicht, sondern eine durchaus beachtenswerte Diskussionsgrundlage zur Subsumtionstechnik im 19. Jahrhundert.
Frankfurt am Main Siegbert Lammel