Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, hg. v. Brandes, Detlef/Sundhausen, Holm/Troebst, Stefan i. V. m. Kaiserová, Kristina/Ruchniewicz, Krysztof. Böhlau, Wien 2010. 801 S. Besprochen von Gerhard Köbler. IT
Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, hg. v. Brandes, Detlef/Sundhausen, Holm/Troebst, Stefan i. V. m. Kaiserová, Kristina/Ruchniewicz, Krysztof. Böhlau, Wien 2010. 801 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Wenn bei einer geschätzten gegenwärtigen Gesamtbevölkerung Europas von derzeit 500 Millionen während des 20. Jahrhunderts rund 80 Millionen Menschen vertrieben, deportiert oder ausgesiedelt worden sein sollen, so liegt mit diesen Vorgängen insgesamt ein bedeutendes geschichtliches Ereignis vor. Es kann daher kaum überraschen, dass sich umgehend ein sachverständiger Interessent für die lexikalische, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung Deutschlands, den Beauftragten der Bundesregierung Deutschlands für Kultur und Medien sowie das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Österreichs geförderte Erfassung der einschlägigen Ereignisse fand. Da der Verlag leider kein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellen konnte, muss der Herausgeber das Werk wenigstens in wenigen Zeilen anzeigen.
Ziel des erstmals von Holm Sundhausen im Dezember 2001 auf einem Kongress in Darmstadt vorgeschlagenen, Hans Lemberg gewidmeten Werkes ist nach seinem Vorwort, das gewaltige Vertreibungsgeschehen anhand des bestehenden Forschungsstands abzubilden und zugleich Schneisen zu Analyse, Kategorisierung und Periodisierung zu schlagen. Dazu sind insgesamt 308 Lemmata gebildet, die in vier Gruppen unterteilt sind. Diese betreffen Ethnien in ihren Heimatländern und Aufnahmeländern, Pläne, Konferenzen, Beschlüsse und besondere Maßnahmen, Akteure und zentrale Begriffe sowie Ausblicke auf Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, wobei als große zeitlich-räumliche Komplexe Südosteuropa von 1912 bis 1923, die Sowjetunion von 1930 bis 1945, die vom nationalsozialistischen Deutschland beherrschten Gebiete von 1933 bis 1945, Ostmitteleuropa ab 1945 und Jugoslawien ab 1990.
Das Lexikon beginnt mit dem Lemma Ägypter und endet mit Zwangsassimilation, wobei im Durchschnitt 2,5 Seiten Raum für den jeweiligen Text zur Verfügung standen. Erfasst werden etwa Asyl, Ausbürgerung, Aussiger Brücke, Azeri, Balkankriege, Balkaren, baltische Länder, Beneš, Berija, Bosniaken aus Bosnien-Herzegowina, Bosniaken aus Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit, Bosnien-Herzegowina als Vertreibungsgebiet, die britische Besatzungszone im Deutschen Reich, der britische Kabinettsbeschluss zum Transfer der Deutschen aus Ostmittel- und Südosteuropa vom 6. 7. 1942, das britische Regierungskomitee zum Transfer deutscher Bevölkerungen, der Brünner Todesmarsch, die Bulgaren aus Griechenland, die Bulgaren von der Krim, die Bulgaren aus der Norddobrudscha, Bulgarien, die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, das Bundesvertriebenengesetz oder das Büro des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina und vieles andere mehr. Möge der von mehr als 100 Sachkundigen damit gewährte, durch vier Schlüssel auf dem Umschlag veranschaulichte, von Dmytro Myeshkov redigierte Überblick über menschliche Gewalt in der unmittelbaren Vergangenheit eines zivilisierten Erdteils zu ihrer künftigen Beschränkung oder Vermeidung beitragen.
Innsbruck Gerhard Köbler