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Kruwinnus, Thorsten, Das enge und das weite Verständnis der Kriminalsoziologie bei Franz Exner. Eine vergleichend-werkimmanente Vorstudie (= Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik 45). LIT, Berlin 2009. 124 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

Sebald, Andrea Elisabeth, Der Kriminalbiologe Franz Exner (1881-1947). Gratwanderung eines Wissenschaftlers durch die Zeit des Nationalsozialismus (= Rechtshistorische Reihe 380). Lang, Frankfurt am Main 2008. 423 S.

Fuchs, Walter, Franz Exner (1881-1947) und das Gemeinschaftsfremdengesetz. Zum Barbarisierungspotenzial moderner Kriminalwissenschaft (= Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik 44).LIT, Berlin 2009. IV, 119 S.

Kruwinnus, Thorsten, Das enge und das weite Verständnis der Kriminalsoziologie bei Franz Exner. Eine vergleichend-werkimmanente Vorstudie (Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik, Bd. 45). LIT Verlag, Münster 2009. 124 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz

 

In zunehmendem Maße werden Persönlichkeit und Werk von Strafrechtswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts vorgestellt und analysiert, die in verschiedenen Epochen und Staatssystemen gelehrt und geforscht haben. In diesen Untersuchungen spielt namentlich die Frage eine bedeutsame Rolle, wie Gelehrte, die sich unter rechtsstaatlichem Vorzeichen – etwa im Geiste und Sinne der Weimarer Zeit – mit dem Strafrecht beschäftigt haben, sich mit Wissenschaft und Praxis der NS-Diktatur auseinandergesetzt haben. Die einschlägigen Studien über Eduard Kohlrausch, Edmund Mezger und Eberhard Schmidt sind gleichsam repräsentativ für diesen Zweig der zeitgeschichtlichen Forschung. Nunmehr ist auch der Strafrechtler und Kriminologe Franz Exner (1881-1947) in den Fokus dieser Forschungsrichtung geraten. Mehrere neuere Studien befassen sich mit seinem Leben und Werk im Ganzen oder sind gewichtigen Teilaspekten seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet.

 

Umfassenden Charakter beansprucht die Darstellung Andrea Elisabeth Sebald, die aus einer Münchner Dissertation (2007) hervorgegangen ist. Sie schildert Leben und Werk Exners vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund verschiedener Epochen, die vom wilhelminischen Zeitalter über den ersten Weltkrieg, die Ära der Weimarer Republik, die NS-Zeit mit dem zweiten Weltkrieg und die erste Nachkriegszeit bis 1947 reichen. Dabei stehen neben der Biografie vor allem die Entwicklung und Wandlungen der kriminologischen Arbeiten des Wissenschaftlers im Zentrum der Betrachtung. Deren Einordnung durch die Autorin wird bereits an der Etikettierung Exners als „Kriminalbiologe“ deutlich. Es wird sich zeigen, dass die anschließende Besprechung der beiden kürzeren und spezielleren Arbeiten im Zusammenhang mit der Gesamtdarstellung Sebalds insofern sinnvoll erscheint, als sie sich mit dieser nicht nur thematisch überschneiden, sondern an ihrer Würdigung auch ins Gewicht fallende Korrekturen anbringen.

 

Die Darstellung Sebalds ist in sechs unterschiedlich lange Kapitel gegliedert. Einen ersten Schwerpunkt setzt sie mit einer eingehenden quellengestützten Schilderung der Biografie, in der bereits die verschiedenen Phasen des zeitgeschichtlichen Hintergrundes zur Sprache kommen. Das zweite Kapitel thematisiert die kriminologischen Arbeiten Exners im Kontext der jeweiligen Strömungen und Tendenzen dieser wissenschaftlichen Disziplin. Das dritte Kapitel behandelt die kriminalpolitischen Schriften des Gelehrten, die vor allem der Entwicklung und Ausbildung des strafrechtlichen Sanktionensystems, vor allem seiner Zweispurigkeit, gewidmet sind. Das vierte Kapitel greift einen besonderen Abschnitt des Wirkens Exners in der Endphase seines Lebens heraus: die Strafverteidigung, die er 1945 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher für den Generalobersten Jodl übernommen hat. Im fünften Kapitel würdigt Sebald Persönlichkeit und Werk des Wissenschaftlers namentlich unter Akzentuierung seiner kriminologischen und kriminalpolitischen Arbeiten. Das sechste Kapitel geht in aller Kürze auf kriminalbiologische Ansätze der Gegenwart ein.

 

Diese ohnehin schon umfangreiche Darstellung (332 S.) hat die Verfasserin durch einen nicht minder detaillierten Anhang angereichert (333-423), der für sich allein schon gewichtige Einblicke in das Leben und Wirken Exners vermittelt. Er umfasst - neben dem Literaturverzeichnis (348-368) – ein chronologisches Verzeichnis der Lehrveranstaltungen des Gelehrten (333-342) und seiner Bücher und Schriften (342-345), ein Verzeichnis der von der Verfasserin (aus Czernowitz, Berlin, Freiburg, Landshut, München, Nürnberg, Prag, Tübingen, Washington und Wien) herangezogenen Akten und Dokumente (345-348), eine Auflistung der Zeitzeugen, mit denen Sebald Gespräche geführt hat (368) sowie das Plädoyer, das Exner am 18. und 19. 7. 1946 für Jodl gehalten hat (369-423). Ein Abbildungsverzeichnis (17-18) gibt einen Überblick über die Dokumente und Auszüge aus Werken Exners, die im systematischen Zusammenhang der Darstellung jeweils wiedergegeben sind.

 

Der eingehend geschilderten Familiengeschichte ist die ausgeprägt wissenschaftliche Orientierung der Vorfahren Exners zu entnehmen. Der Großvater hatte eine philosophische Professur (in Prag) inne, der Vater war ein bedeutender Rechtslehrer (Romanist) an der Universität in Wien, wo der Sohn auch 1881 geboren wurde. Dort studierte Exner denn auch Rechtswissenschaft, promovierte und habilitierte sich 1910 mit einer strafrechtsdogmatischen Arbeit über Fahrlässigkeit. Sein wissenschaftlicher Werdegang und sein Werk wurde maßgeblich durch Carl Stooß, dem Urheber des zweispurigen Systems von Strafen und Maßregeln, und Franz von Liszt beeinflusst, ja geprägt. Der Privatdozent Exner war zunächst hauptberuflich Richter in Wien (1911), wurde dann aber alsbald (1912) außerordentlicher Professor in Czernowitz. Von 1914 bis 1916 leistete er Kriegsdienst. Von 1916 an nahm er strafrechtliche Lehrstühle in Prag, Tübingen und Leipzig wahr, bis er 1933 einem Ruf nach München folgte, wo er auch bis zu seinem Tod 1947 blieb. Seit seiner Tübinger Zeit (1918-1921) war er mit Mezger bekannt, mit dem er dann in München eng zusammenarbeiten sollte.

 

Dabei bildet die Münchner Zeit (1933-1945), die praktisch deckungsgleich ist mit der Ära der NS-Diktatur, schon von der Zielsetzung der Studie her einen besonderen Schwerpunkt der Darstellung. Demnach wurde Exner nie ein Mitglied der NSDAP, gehörte aber seit 1933 dem Bund nationalsozialistischer Juristen und weiteren NS-Organisationen an. Er genoss zwar zunächst das Vertrauen der damaligen Machthaber, konnte auch 1934 eine Studienreise in die USA antreten und Vorträge im Ausland halten, erfuhr jedoch im Laufe der Zeit Enttäuschungen. Ein Vortrag vor der juristischen Gesellschaft in Wien wurde ihm 1937 untersagt, weil sie „vollständig verjudet“ sei (61). Wegen seiner Abstammung bekam er Schwierigkeiten, weil er aufgrund einer jüdischen Großmutter in einem amtlichen Bescheides als sog. „jüdischer Mischling II. Grades“ eingestuft wurde (67ff.). Im Hinblick auf eine Ausnahmeregelung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 konnte er als Teilnehmer des ersten Weltkriegs jedoch im Professorenamt verbleiben (69). Er war auch Mitglied der Akademie für Deutsches Recht (73) und begleitete denn auch die kriminalpolitischen Tendenzen, die in einer wachsenden Instrumentalisierung, Ideologisierung und Verschärfung des Strafrechts im NS-Sinne gipfelten, mit teils zustimmenden, teils kritischen Beiträgen. Das Entnazifizierungsverfahren endete 1946 mit seiner formellen Entlastung (80). Er selbst suchte mit entsprechenden Stellungnahmen Kollegen, namentlich Edmund Mezger, mit dem er fachlich wie freundschaftlich verbunden war, zu entlasten (85ff.). Die letzten Lebensjahre Exners waren (von 1944 an) durch eine schwere Erkrankung überschattet, die 1947 sein Ableben zur Folge hatte.

 

Das zweite, recht umfangreiche Kapitel fächert das kriminologische Werk und Wirken Exners teils historisch, teils systematisch auf. Es verortet seine einschlägigen Beiträge zugleich im jeweiligen zeitgenössischen Diskussionsstand. Einleitend stellt Sebald in aller Kürze die Entwicklung der Kriminologie seit der Jahrhundertwende, vor allem ihre psychologischen, psychoanalytischen, soziologischen (USA) sowie konstitutions- und erbbiologischen Ansätze dar (101ff.), um dann die verschiedenen, 1939 (106ff.), 1944 (143ff.) und 1949 (177ff.) erschienenen Auflagen der von ihr als „Hauptwerk“ charakterisierten „Kriminalbiologie“ Exners – die freilich 1949 bezeichnenderweise als „Kriminologie“ figurierte – vorzustellen. Danach umfasst Exners Verständnis der „Kriminalbiologie“ nicht nur die kriminalbiologischen Richtungen im engeren Sinne, sondern die verschiedenen kriminalanthropologischen, kriminalpsychologischen und kriminalsoziologischen Ansätze (108). Seinem Lehrer von Liszt folgend erklärt er das Verbrechen aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt (112). Wenn er auch damit nicht uneingeschränkt den erbbiologischen Ansätzen des Zeitgeistes folgt, so bilden für ihn doch rassische Merkmale Anknüpfungspunkte für die im NS-Staat betriebene einschlägigen Forschungsansätze, Ausgrenzungsstrategien sowie propagierten eugenischen Maßnahmen (113 ff.). „Der schlagendste Beweis für die Abhängigkeit der Kriminalität von der Erbanlage sind für Exner die Juden.“ (119) Sonst von ihm – etwa für verschiedene Volksgruppen in den USA akzeptierte milieutheoretische Erklärungsansätze (115, 117) – sind für ihn insoweit nur von sekundärer Bedeutung.

 

Hinsichtlich des sog. Gewohnheitsverbrechers greift er auf Kurt Schneiders Psychopathenlehre zurück, erfasst Verbrechensgenese also als Auswirkung der Disposition (128). Auch die Zwillingsforschung (von Lange, Stumpfl und Kranz) sieht Exner als aussagekräftig an (129ff.) – ebenso wie er der Konstitutionsbiologie (Ernst Kretschmers) Erklärungswert beimisst (133ff.). Wenn er auch Umwelteinflüssen erhebliche Bedeutung für das Werden krimineller Persönlichkeiten zugesteht, so hat doch das Erbgut für ihn kaum minderes Gewicht (138). Beim Zustandsverbrecher steht für ihn die Anlage im Vordergrund, während der Gelegenheitstäter eher durch Umwelteinflüsse kriminell wird (140). Schon aus Gründen hinreichender Kriminalprävention legt Exner der sozialen Prognose – und damit auch der Prognoseforschung – großes Gewicht bei (140 ff.).

 

In der zweiten Auflage der „Kriminalbiologie“ werden zeittypische kriminologische und kriminalpolitische Fragestellungen stärker akzentuiert. Das gilt etwa für die Erklärung von Jugendkriminalität und die Herausarbeitung sog. kriminologischer Tätertypen im Anschluss an das Maßregel- und Jugendstrafrecht des NS-Staates (144ff.). Angesichts des Wandels vom Tatstrafrecht zum Täterstrafrecht gewinnt für Exner der 1937 errichtete, der Täteranalyse dienende „Kriminalbiologische Dienst“ besondere Bedeutung (150ff.). Für dieses Thema hat der Kriminologe bereits im Hinblick auf die Kriminalbiologische Sammelstelle und ihre Fragebögen in den 20er Jahren in Straubing (Viernstein u. a.) großes Interesse an den Tag gelegt (172ff.). Es hat sich – wie die Autorin darlegt – auch in Gestalt entsprechender Lehrveranstaltungen in der Ausbildung junger Juristen niedergeschlagen. So verzeichnet der Überblick über Exners Münchner Lehrveranstaltungen vom WS 1934/35 bis zum WS 1943/44 „Kriminalbiologische Übungen mit Dr. Viernstein mit Vorstellung von Strafgefangenen“ (337ff.).

 

Die dritte Auflage des nach dem Tode Exners veröffentlichten Werkes ist von seinem Schüler Fritz Schwaab besorgt worden (179). Es ist unter dem Titel „Kriminologie“ erschienen (wohl um nunmehr die für die NS-Zeit typische Bezeichnung des Fachs zu vermeiden?). Von den Vorauflagen unterscheidet es sich dadurch, dass es auf NS-ideologische Begriffe und Aussagen verzichtet oder sie relativiert. Sämtliche früheren Ausführungen „über angeblich rassebedingte Besonderheiten bei der Kriminalität der Juden“ fehlen nunmehr (181). Auch die Anlageproblematik wird jetzt differenzierter gesehen (182). Das gilt ferner für die Beurteilung jugendlicher Rechtsbrecher und den Umgang mit ihnen (188ff.). Den Methoden kriminologischer Forschung (186ff.) und Rückfallprognosen (193f.) wendet Exner stärkere Aufmerksamkeit zu. Freilich ist seine Interpretation einschlägiger Daten von der späteren Forschung „als einseitig im Sinne der nationalsozialistischen Lehre gerügt“ worden (199).

 

Das dritte Kapitel behandelt das kriminalpolitische Werk Exners (223-268). Im Mittelpunkt

steht das zweistufige Sanktionensystem von Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung, für dessen Verwirklichung der Strafrechtler namentlich im Anschluss an Stooß bereits 1914 in seiner Studie „Theorie der Sicherungsmittel“ eingetreten ist. An diesem Konzept, das neben der vergeltenden sowie general- und spezialpräventiv für wirksam erachteten Strafe auch Maßnahmen des Gesellschaftsschutzes im Hinblick auf gefährliche Täter kennt, hat Exner dann zeitlebens festgehalten. Danach sollten Besserungsmittel bei sog. Besserungsfähigen die Ursachen der Gefährlichkeit beheben, Sicherungsmittel die Gesellschaft vor sog. Unverbesserlichen schützen. Dem Sicherungsgedanken entnimmt er die Konsequenz, die Dauer der freiheitsentziehender Maßregeln an der Gefährlichkeit des Täters zu orientieren. Daraus resultiert für ihn bei „Besserungsfähigen“ eine zeitliche Befristung, bei „Unverbesserlichen“ eine zeitlich unbestimmte Dauer, die gegebenenfalls lebenslang anhalten kann (238f.). Eine Verwirklichung dieses Konzepts würde für Exner auch den „Streit der Strafrechtsschulen“ beenden (245). So überrascht es nicht, dass er das Gewohnheitsverbrechergesetz des NS-Gesetzgebers von 1933 – ungeachtet der darin enthaltenen ersten Zugeständnisse an den Zeitgeist – im Grundsatz begrüßt (258ff.).

 

Exner konstatiert – namentlich in einem 1944 erschienenen grundlegenden Beitrag - einen Sinnwandel der Strafe während des NS-Systems (260ff.). Danach tritt in zunehmendem Maße der Sühnegedanke, der nach gerechter Strafe verlange, hinter der Zweckmäßigkeit, dem Sicherungsgedanken in Gestalt des „Schutzes der Volksgemeinschaft“, zurück. Sei im Strafvollzug ursprünglich – in den 20er Jahren - der Erziehungs- und Besserungsgedanke maßgebend gewesen, so sei nach der Sühnefunktion schließlich dem Schutz- und Sicherungsgedanken Vorrang eingeräumt worden. Allerdings schließt der Schutzgedanke für Exner neben der Unschädlichmachung des gefährlichen Täters auch die Erziehung des sog. „Besserungsfähigen“ ein. Freilich habe sich auch das Erziehungsziel gewandelt: „Es werde nicht nur die Erziehung zum gesetzmäßigen und geordneten Leben angestrebt, sondern auch eine innere Umkehr des Verurteilten in Bezug auf Gemeinschaftsgefühl und völkische Gesinnung.“ (264)

 

Kritik übt die Verfasserin nicht zuletzt an Exners Beiträgen zum sog. „Gemeinschaftsfremdengesetz“, mit dem vor allem sog. „Asoziale“ und „Antisoziale“ „bekämpft“, wenn nicht eliminiert werden sollten (205ff.). Das von 1940 an bis 1944 amtlich verfolgte Projekt, das indessen letztlich nicht zustandegekommen ist, sollte nach den ideologischen Vorstellungen von NS-Machthabern wie Himmler und Thierack „Schädlinge“ in justizförmiger Form aus der „Volksgemeinschaft“ ausscheiden. Überhaupt gelangt die Verfasserin in ihrer Würdigung des Beitrags Exners „zur Entstehung staatlichen Unrechts im ‚Dritten Reich’“ zum Ergebnis, er habe ebenso wie Mezger seine Lehre im Verlauf der NS-Herrschaft im Sinne einer Kriminalbiologie ausgerichtet, „die den Ansichten der neuen Machthaber entsprach“ (213). Zur Untermauerung dieser These dient ihr eine Reihe von Beispielen, namentlich Zitaten, die entsprechende Übereinstimmungen belegen sollen (212-222). An diese Sichtweise knüpft Sebald denn auch in ihrer abschließenden Würdigung von Persönlichkeit und Werk an (323ff.). Wenn sie auch wegen seines Abstammungsproblems ein gewisses Verständnis für seine „angepasste Haltung während des NS-Unrechtssystems“ zeigt (326), so mündet letztlich doch ihr Urteil in die Feststellung, hier bleibe „dem Außenstehenden der nachhaltige Eindruck eines Karrieristen, der etwaige moralische Zweifel zu Gunsten seiner wissenschaftlichen Laufbahn unterdrückt und sich der NS-Diktatur dienstbar gemacht hat“ (327).

 

In dieses Bild, das Sebald von Exners wissenschaftlichem Wirken während der NS-Diktatur zeichnet, scheint auch die von ihr im vierten Kapitel ausgiebig dargestellte Verteidigung des Generalobersten Jodl im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg zu passen. Die eingehende Schilderung dieser in die letzte Lebensphase fallenden Tätigkeit (269-323) – die unter wörtlicher Wiedergabe seines Plädoyers (369-423) erfolgt -, hat zwar gewiss zeitgeschichtlichen Wert, muss aber letztlich offenlassen, welche Motive Exner zur Übernahme eines derart prekären Mandats bewogen haben (326). Vor dem Hintergrund der exponierten Stellung und des Verhalten eines Mannes, der „vielfacher Verbrechen und des vielfachen Mordes“ namentlich während des zweiten Weltkriegs (so z. B. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) angeklagt war (273) und bis zum bitteren Ende bedingungslos kriminelle Befehle seines Soldateneids wegen befolgt hat (301ff.), ja sogar völlig Hitler verfallen war (wie sein in Haft abgelegtes „Schuldbekenntnis“ zu erkennen gibt [319 f.]), erschien Exners Bestreben, einen Freispruch zu erreichen (271ff.), fast schon lebensfremd. Zumal Jodl – der schließlich durch das Tribunal 1946 zum Tode verurteilt wurde (316) - der Darstellung Sebalds zufolge 1942 und danach Chancen verpasst hatte, seine Beteiligung an der verbrecherischen Kriegsführung aufzukündigen (310ff.). In der Summe jedenfalls kommt Sebald zu dem Schluss: „Ähnlich wie Jodl kann auch Exner als ‚Schreibtischtäter’ bezeichnet werden.“ (320) Ungeachtet der gänzlich verschiedenen Funktionen, die beide in der NS-Diktatur wahrgenommen haben, deutet sie Exners Versuch, „Jodl als Opfer hinzustellen“, als Streben nach Selbstrechtfertigung (321).

 

Die Studie von Walter Fuchs ist einem wichtigen Teilaspekt des kriminologisch-kriminalpolitischen Wirkens Franz Exners in der Spätphase der NS-Diktatur gewidmet. Sie ist aus einer Masterarbeit für den Studiengang „Internationale Kriminologie“ der Universität Hamburg hervorgegangen. Fuchs geht der Frage nach, welchen Anteil Exner an den Bestrebungen der damaligen Machthaber hatte, durch ein sog. „Gemeinschaftsfremdengesetz“ „Asoziale“ und „Antisoziale“ aus der „Volksgemeinschaft“ zu eliminieren. Dieses zeit- und rechtsgeschichtliche Thema erscheint nach wie vor bedeutsam: So sagt es vor allem darüber etwas aus, ob und inwieweit einer der bekanntesten deutschen Kriminologen jener Ära in NS-Unrecht verstrickt war. Exners Rolle im Kontext jenes Projekts war und ist bis heute zumindest umstritten. Das zeigt allein schon die nachhaltige Kritik an Sebald, die ihm einen erheblichen Anteil zuschreibt.

 

Fuchs rückt denn auch das Thema in die ebenso umfassenden wie zutiefst inhumanen Tendenzen der damaligen Kriminalpolitik ein, durch Polizei- und Justizterror sog. „Asoziale“ und „Gemeinschaftsfremde“ unschädlich zu machen. Die „Krönung“ des Ganzen sollte ein sog. „Gemeinschaftsfremdengesetz“ bilden, das den Weg zu einer justizförmigen „Vernichtung des Verbrechertums“ ebnen sollte. Dass das Vorhaben trotz einer ganzen Reihe von Entwürfen von 1939 bis 1944 – die Fuchs im Einzelnen behandelt (43-53) - nicht zustande gekommen ist, ist der Einstellung der Arbeiten an diesem Projekt wegen des „totalen Kriegs“ zu verdanken (53). Einleitend analysiert der Autor das ambivalente Bild, das Exners Wirken während der NS-Diktatur in der bisherigen Forschung bietet, sowie die zwiespältige Rolle, die Strafrecht und Kriminologie in der Moderne spielen, und umreißt das Erkenntnisinteresse, das Untersuchungen zur Funktion von Wissenschaft im totalitären NS-Staat herausfordert.

 

An drei charakteristischen Beispielen für die Instrumentalisierung der Justiz für die Zwecke der biologistischen und rassistischen Ideologie des NS-Systems zeigt Fuchs die Entwicklung der Gesetzgebung auf, die den Entwürfen zum Gemeinschaftsfremdengesetz vorangegangen sind: Das sind das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher von 1933 (30ff.), die Analogienovelle von 1935 (33ff.) und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 (35ff.). Wenn auch Exner nur zu dem erstgenannten Gesetz sich dezidiert – und zwar in zustimmender Weise - geäußert hat, so glaubt Fuchs doch seinem Werk und Wirken ähnliche Bestrebungen wie in den beiden anderen Gesetzen entnehmen zu können. Erst recht treten die radikalen Tendenzen jener Kriminalpolitik an den polizeilichen Verfolgungsmaßnahmen gegen „Asoziale“ in Erscheinung, wie sie einem Erlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung von 1937 zugrunde liegen (38ff.). Die Geschichte der Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz selbst spiegelt dem Autor zufolge „die chaotische ‚Polykratie’ unterschiedlicher Machtzentren im nationalsozialistischen Staat genauso wider wie verschieden ausgeprägte Konzepte des Kampfes gegen Kriminalität und Asozialität“ (43).

 

Nach dem Forschungsstand, wie ihn Fuchs ausgemacht hat (43, 57f.), war Exner zwar an der Entstehung des Gesetzesprojekts beteiligt, hat aber in dessen Fortgang „eine nur ganz periphere Rolle“ gespielt (57). Der Anstoß zur Mitarbeit ging vom Münchner Kollegen Mezger aus (82). Ob Exner sie hätte ablehnen können, stellt für den Verfasser eine spekulative Frage dar. Fuchs gibt aber zu bedenken, dass Exner nach dem Tod seines Sohnes von 1941 und seinen Problemen mit der „politischen Zuverlässigkeit“ und dem Ariernachweis wohl ein „gebrochener und kranker Mann“ war (59). Dabei hat Exner im Wesentlichen nur zum justizförmigen, nicht zum polizeilichen Teil des Entwurfs Stellung genommen. Seine einschlägigen Äußerungen hat Fuchs im Faksimile wiedergegeben (90-106).

 

Soweit Exner dem Entwurf zustimmt, knüpft er nicht zuletzt an eigene Vorstellungen an, die er in seiner „Kriminalbiologie“ entwickelt hat. „An zahlreichen Stellen übt Exner allerdings tatsächlich Kritik am Entwurf, und zwar meistens an den weiten Strafrahmen oder den ungenau definierten Begriffen des Gesetzes“ (64). Begriffe wie „Neigung“ (66, 69) und „Taugenichts“ (67) hält er für ungeeignet. Wie Fuchs an verschiedenen Beispielen nachweist, ist Exner für ein rigides Strafrecht eingetreten, das ganz in den Dienst der Verbrechensbekämpfung im damaligen Sinne dienen sollte. Mit seinen konzeptionellen Vorstellungen ist er vom kriminalpolitischen Zeitgeist nicht allzu weit entfernt gewesen. Auf der anderen Seite hat er den Mut aufgebracht, an einem „gewissen Standard rechtsstaatlicher Garantien“ festzuhalten, namentlich drakonische Strafdrohungen und „Kautschukparagraphen“ im Entwurf zu kritisieren (70). Relativiert werden solche Stellungnahmen allerdings durch den Umstand, dass nicht nur von professoraler Seite, sondern „auch von führenden Vertretern des NS-Staates wie Freisler und Frank“ hin und wieder Bedenken gegen einzelne Regelungen des Entwurfs aus justizförmiger Sicht geltend gemacht worden sind (75f.).

 

Entsprechend zwiespältig fällt denn auch das Urteil des Verfassers aus, das er im Anschluss an eine Diskussion der Problematik der Bewertungskriterien (72ff.) fällt (82f.). Es erscheint schon aufgrund einer stärkeren Orientierung am Wortlaut der gutachtlichen Stellungnahme differenzierter als dasjenige Sebalds (205-209). Die Ambivalenz hat freilich ihren Grund nicht nur in der grundsätzlichen Schwierigkeit, wissenschaftliches Wirken unter den Bedingungen einer Diktatur angemessen würdigen zu können, sondern auch in der problematischen Rolle, die das Strafrecht und die Kriminalpolitik generell – und nicht nur im NS-Staat – in der Moderne vielfach wahrgenommen hat. Insofern steht ein Verständnis des Strafrechts, das schon vor dem NS-Staat und jenseits seiner ideologischen Rechtfertigung völlig im Dienst präventiver Verbrechensbekämpfung aufgehen sollte, allemal in der Gefahr, nach der Etablierung einer Diktatur erst recht etwaige rechtsstaatliche Vorstellungen Konzepten uneingeschränkter Zweckmäßigkeit aufzuopfern (78 ff.).

 

Korrekturen an der Darstellung und Gewichtung von Exners kriminologisch-kriminalpolitischem Werk bringt auch die 2009 erschienene Studie von Thorsten Kruwinnus an Sebalds Monografie an. Es handelt sich dabei um die überarbeitete Fassung einer Hamburger Abschlussarbeit, die speziell Exners Verständnis der Kriminalsoziologie gewidmet war. Sie arbeitet Merkmale und Sichtweisen der Kriminologie im Ganzen heraus, die bisher entweder wenig beachtet worden oder gleich gar nicht zur Sprache gekommen sind. Dies geschieht freilich von einem anderen, eigenen Ansatz aus, der kriminologische Ansätze Exners in Beziehung zu zeitgenössischen kriminalsoziologischen Strömungen und zu theoretischen Konzepten der allgemeinen Soziologie setzt.

 

Dabei stehen namentlich theoretische Ansätze der amerikanischen Kriminologie im Vordergrund (78ff.). Die allgemeine Soziologie bietet dem Verfasser insbesondere in der Gestalt, wie sie Max Weber (86ff.) und Alfred Schütz (91ff.) der verstehenden Soziologie gegeben haben, Anknüpfungspunkte für das Werk Exners. Die Studie von Kruwinnus, die sich sowohl resümierend als auch kritisch mit der bisherigen Rezeptionsgeschichte auseinandersetzt, wirft gleichfalls neues Licht auf sein Werk, indem sie die spezifisch kriminalsoziologischen Anteile – die bisher entweder nicht gesehen oder anders interpretiert wurden - herausarbeitet.

 

Einleitend hält der Verfasser verschiedenen neueren Arbeiten über Exner – namentlich über seine Rolle als Wissenschaftler im „Dritten Reich“ – analytisch unzureichende, verharmlosende oder einseitige Betrachtungsweisen vor, die letztlich zu seiner Charakterisierung oder Etikettierung als „Kriminalbiologe“ geführt hätten (12ff.). Demgegenüber habe die neuere historische Forschung (Wetzell 2000, Fuchs 2008 u. a.) sein Werk in ein neues Licht gerückt. Bedeutsame kriminalsoziologische Ansätze Exners erblickt er in seiner Einbeziehung der Instanzen der sozialen Kontrolle (Gerichte, Staatsanwaltschaft etc.) sowie des Verhältnisses der Gesellschaft zur Kriminalität in den Gegenstandsbereich der Kriminologie. In diesen Kontext gehört auch Exners – nicht zuletzt an Durkheim erinnernden - Ansatz, das Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung zu deuten (34 f.).

 

Freilich würde das Werk des Kriminologen über-, wenn nicht gar fehlinterpretiert werden, wollte man es als kriminalsoziologisch im heutigen Verständnis deuten. Die Rechnung geht in zweifacher Hinsicht nicht völlig auf. Das zeigt zum einen bereits ein Vergleich mit der zeitgenössischen amerikanischen Kriminalsoziologie. Exners Festhalten an der Liszt’schen Anlage-Umwelt-Formel hindert ihn letztlich daran, das Verbrechen auch nur vorrangig als soziales Phänomen zu begreifen, und führt dazu, dass die sog. „gesellschaftlichen Ursachen“ in seiner Sicht der Kriminalitätsgenese entweder analytisch nicht vertieft werden oder hinter anderen Erklärungsansätzen deutlich zurücktreten (83ff.). Ebensowenig geht Exners Verständnis der Kriminalsoziologie völlig in der verstehenden Soziologie von Weber oder Schütz auf (96ff.).

 

Diese Einschränkungen und Relativierungen, die Exners kriminologischen Positionen gelten, müssen nicht nur vor dem Hintergrund der Veränderungen eingeordnet werden, die sein Werk im Laufe der Zeit, namentlich nach Erscheinen seines Artikels „Kriminalsoziologie“ im Handwörterbuch der Kriminologie von 1936, erfahren hat. Sie müssen auch im Kontext der zeitgenössischen deutschsprachigen Kriminologie gewürdigt werden, von dem sich die kriminalsoziologischen Ansätze Exners in mancher Hinsicht als geradezu modern abheben. Auch wenn man Vorbehalte gegen eine Einordnung des Kriminologen als genuinen Kriminalsoziologen anmelden mag, so kann man doch als Fazit der verdienstlichen Studie von Kruwinnus festhalten, dass die vielfach anzutreffende Charakterisierung Exners als Kriminalbiologe seinem doch deutlich differenzierter zu bewertenden Werk nicht gerecht wird.

 

Saarbrücken                                                                           Heinz Müller-Dietz