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Hammacher, Klaus, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit. Ein anthropologischer Entwurf. Nomos, Baden-Baden 2011. 689 S. Besprochen von Walter Pauly.

Hammacher, Klaus, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit. Ein anthropologischer Entwurf. Nomos, Baden-Baden 2011. 689 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

Unter verlockendem Titel wie Untertitel unternimmt der emeritierte Aachener Philosoph explizit in der „Tradition des historischen Rechtsdenkens“ (S. 21) einen Streifzug durch die gesamte Welt des Rechts. Seinem Selbstverständnis nach handelt es sich um eine Rechtsphilosophie, der Konzeption nach um den „zweiten Teil einer Praxis als Verhaltenslehre“ (S. 15). Nicht nur aus dem historischen Kontext, sondern zugleich in handlungslogischer Einbettung unter Einbeziehung der Wissenschaft vom Menschen sollen das Recht und seine Begriffe verstanden werden. Ansatz und Methode erläutern die der Kapitelfolge vorangestellten „Prolegomena“ im Sinne einer „transzendierenden Analyse“, welche die Erkenntnisse der vergleichenden Verhaltenslehre aus einer transzendentalen Perspektive erschließen will, wobei „hinter aller Rechtsentwicklung“ als regelndes Prinzip die „Idee der Gerechtigkeit“ stehe und diese sich wiederum inhaltlich aus der religiösen „Erfahrung der Transzendenz“ (S. 31) speise. Am Ende der Ausführungen folgen, wie dann auch bei den einzelnen Kapiteln, hochgelehrte Exkurse, hier etwa zu Karl-Otto Apels Transzendentalpragmatik, Gehlens Anthropologie und Luhmanns Emergenzbegriff. Das erste Kapitel entfaltet die das „Rechtsverhältnis bildenden Grundbegriffe“, was bereits in der Formulierung auf Fichte verweist, der neben Kant und noch vor Spinoza zu den am häufigsten herangezogenen Autoren gehört und dessen Lehre von der „Aufforderung“ über den Erwartungs- und Vertrauensbegriff mit dem „beständigen Willen“ verknüpft wird, der seinerseits „die grundlegende anthropologische Voraussetzung des Rechts“ bilde (S. 43f.). Die damit zentrale Festigkeit und Beständigkeit des Willens im Sinne eines „elementaren Sich-Verlassens“ lasse sich nur durch einen Transzendenzbezug sicherstellen, weshalb auch die „traditionelle Verankerung des europäischen Rechts im göttlichen Willen“ der „anthropologischen Verfassung des Menschen“ entspreche (S. 49f.). Verständnis und Analyse des Rechts werden unter Absetzung von Hans Kelsen auf einen unverzichtbaren „Gottesbezug“ (S. 51) gegründet, wie er namentlich in der Rechtsform des Eides Ausdruck finde, der entgegen dem geltenden Recht deswegen auch seinen „religiösen Anspruch“ behalten müsse, um „Rechtsmittel“ (S. 55) zu bleiben, wie der Verfasser nicht nur an dieser Stelle untechnisch formuliert. Das Recht entspringe nicht der Gewalt, auch nicht der des Staates, sondern aus einem durch Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit und Anerkennung charakterisierten Tauschakt, der sich nach den Forschungen Bronislaw Malinowskis bereits ursprünglich mit einem religiösen Ritual vollzogen habe (S. 57ff.). Zur triadischen Stabilisierung und Autonomisierung des Rechts und zur Absicherung der Unverfügbarkeit der Menschenwürde bedürfe es nach wie vor der Anerkennung Gottes als „objektives Widerlager“ (S. 78), was allerdings keine inhaltliche religiöse Bindung erfordere. Diese prinzipielle religiöse Legitimation des Rechts habe auch Emile Durkheim vertreten, eingestandenermaßen jedoch unter gesellschaftstheoretischer Rekonstruktion der Religion (S. 89). Ausgehend von der „Bundestheologie“ entfaltet das zweite Kapitel die grundlegenden Rechtsbegriffe wie Gebot und Verbot, Gesetz und Norm. Die Wahrung des „Transzendenzanspruchs“ wird dabei in die „Unverfügbarkeit des Subjekts“ verlagert, was zu einer menschenrechtlichen und gerade nicht staatsbezogenen Begründung des Rechts führe, womit der „Denkfehler“ des hier etwas zu pauschal angeführten Naturrechts vermieden werde (S. 128). Der gesellschaftsvertraglich zu begründende Staat bleibe rechtsvollziehend und dort, wo er Recht setze, auf die Einwilligung der Individuen angewiesen (S. 125). In diesem Kapitel setzt dann auch eine deutliche Kritik des herrschenden Rechtsverständnisses wie überhaupt der „heutigen politischen Klasse“ ein, sei die „legislative Macht“ doch auf das „rechtlich überhaupt Erlaubte“ beschränkt und habe „also eigentlich gar nicht mehr absolut zu gebieten“ (S. 149f.). Am Schluss des Kapitels wird der Pflichtbegriff folgerichtig nicht an die Sanktion, sondern mit Ernst Rudolf Bierling an die Anerkennung gebunden, jedoch nicht im Sinne einer vorliegenden Tatsächlichkeit, sondern einer „Wahrhaftigkeit“ (S. 153), die wiederum ethisch-religiös unterlegt wird. Das dritte Kapitel widmet sich der Verwirklichung der Gerechtigkeit und nimmt seinen Ausgang bei der von Aristoteles herrührenden Einteilung, allerdings insofern historisch abgewandelt, als sich die austeilende Gerechtigkeit vor Aufkommen der sozialen Gerechtigkeit im Modell der ständischen Arbeitsteilung in Form der ausgleichenden Gerechtigkeit präsentiert habe (S. 170 und 181). Die ausgleichende Gerechtigkeit unterteilt der Verfasser in eine ausübende Gerechtigkeit, wie sie den Gerichten eigne und mit dem Souveränitätsgedanken auch der Gesetzgebung zugewachsen sei, sowie eine rein ausführende Gerechtigkeit, die in der strikten Exekution des Gesetzes liege, wie sie Polizei und Verwaltung kennzeichne. Die hierein eingeflochtene Gewaltenteilungsdoktrin sei mit der Übertragung der Vertragsform auf den Staat im Zuge des neuzeitlichen Naturrechts aufgekommen (S. 174 und 180), weil damit das Recht in ein Ableitungsverhältnis zur staatlichen Macht gebracht worden sei.

 

Die anschließenden Kapitel durchqueren auf dieser Basis teilweise recht eigenwillig das Gerichtswesen, das Strafrecht, das Gebiet der Grundrechte und Menschenrechte, die Lehre vom souveränen Staat, die Probleme des Wohlfahrtstaates und schließlich Grund- und Gegenwartsfragen des internationalen und europäischen Rechts. Bei den unveräußerlichen Menschenrechten bestehe etwa die Schwierigkeit, dass sie mit ihrer Fassung als positive Rechtssätze veräußert würden, weshalb man sie im transnationalen Kontext auch nur in „Übereinkünften“, also Konventionen, niederlege (S. 291). Die Menschenwürde finde ihre anthropologische Grundlage im „Imponiergehabe“ und ziele rechtlich auf eine „transzendente Rechtfertigung des Menschen aus der Religion“ im Sinne eines prinzipiell unverfügbaren Kerns des Menschseins (S. 294). Aus anthropologischen Gründen sollten etwa im Zusammenhang von Ehe und Familie Kindertagesstätten und Kindergärten „grundsätzlich abgelehnt“ werden (S. 313). Die Grundrechte seien, wie beispielsweise die Versammlungsfreiheit im Falle des unter Beteiligung von Regierungsmitgliedern durchgeführten „Aufstandes der Anständigen“, gegen Missbrauch für politische Zwecke zu „sichern“ (S. 365); gegen Sitzblockaden wird verbotene Eigenmacht erwogen (S. 449). Sein Gesellschaftsvertragsmodell entwirft der Verfasser unter Rekurs auf die zivilrechtliche Lehre vom Kontrahierungszwang und Typenvertrag sowie die Unterscheidung von Verpflichtungsvertrag und Verfügungsvertrag (S. 393f.). Aus dem religiös fundierten „Territorialbegriff des Staates“ soll ein dem Staat zu bewahrendes Eigentumsgrundrecht „auch in dem Sinne“ resultieren, „als Staatsbürger, seiner religiösen Tradition zu folgen, was hier spezifisch auch die räumliche Bebauung betrifft“ (S. 600). In der Sache geht es um „ein selbstverständliches Recht auf die Vorrangigkeit der öffentlichen Darbietung der christlichen Lebensäußerungen in ihrem Territorium“, was zugleich auch einer anders lautenden „übernationalen Gesetzgebung Grenzen durch die geschichtlichen Rechtsformen“ setze (ebenda). Übrigens fehle dem Europäischen Gerichtshof, der nicht klar genug vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrennt wird, die „Legalität“ wie „Legitimität“, letzteres weil man mit dessen Jurisdiktion die mitgliedstaatliche Souveränität aushebeln würde (S. 618f.). So entsteht insgesamt ein seitenschweres Amalgam aus prinzipiengeleiteten, rechtshistorisch und anthropologisch untersetzten, stark zeitkritischen Gedankengängen, die den gegenwärtigen rechtstheoretischen wie -dogmatischen Debatten weitgehend fremd gegenüberstehen, sichtbar bereits an der Diktion und Literaturverarbeitung.

 

Jena                                                                                       Walter Pauly