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Haeberli, Simone, Der jüdische Gelehrte im Mittelalter. Christliche Imaginationen zwischen Idealisierung und Dämonisierung (= Mittelalter-Forschungen 32). Thorbecke, Ostfildern 2010. XII, 332 S. Besprochen von J. Friedrich Battenberg.

Haeberli, Simone, Der jüdische Gelehrte im Mittelalter. Christliche Imaginationen zwischen Idealisierung und Dämonisierung (= Mittelalter-Forschungen 32). Thorbecke, Ostfildern 2010. XII, 332 S. Besprochen von J. Friedrich Battenberg.

 

In diesem Buch geht es nicht eigentlich um eine Geschichte des Rabbinats als des die jüdische Gelehrtenwelt verkörpernde Institution. Vielmehr geht es um Projektionen des christlichen Mittelalter, das sich in Dichtung und Chronistik manifestierte, um eine Darstellung des Jüdischen in der christlichen Gedankenwelt und damit um Abgrenzungsstrategien zur Selbstvergewisserung. Insofern bietet diese 2008 im Fach „Mediävistische Germanistik“ geschriebene Berner Dissertation keine Darstellung von Entwicklungen der jüdischen Kultur im Mittelalter, und schon gar nicht rechtshistorischer Konstrukte, die allein Gegenstand einer Rezension in dieser Zeitschrift sein sollten. Dies mindert aber den Wert dieser Arbeit in keiner Weise, und auch auf dem Umweg über Imaginationen erfährt man Mansches über das Geistesleben der Juden im Mittelalter. Schon einleitend macht die Autorin den Unterschied deutlich. Wenn der jüdische Gelehrte als eine durch Schriftkenntnis und intellektuelle Fähigkeiten herausragende Person verstanden wird, die in besondere Weise die jüdische Welt zu repräsentieren in der Lage ist, so wird in der christlichen Umwelt gerade dies in Frage gestellt. Ihm wird vielmehr Verstocktheit unterstellt, da er bei tieferem Nachdenken im Rahmen von Disputationen in der Lage sein sollte, die Wahrheit des christlichen Glaubens zu erkennen. Auf diesen Widerspruch hin analysiert die Autorin lateinische und volkssprachliche Texte unterschiedlichster Art. Die dort erkennbar werdenden Imaginationen verbleiben für die Autorin allerdings nicht im Imaginären, sondern gelangen über das menschliche Handeln in die ‚Welt des Tatsächlichen’ und lösen damit Handlungen aus. Zudem sind die tradierten Judenbilder in der Zeit von 1150 bis 1500 einem derart starken Wandel unterworfen, dass die über sie redenden Texte nicht isoliert bleiben dürfen, sondern in ihren historischen Kontext gestellt werden müssen. Die einleitenden Bemerkungen der Autorin dazu sind durchaus angemessen und für den Historiker auch über den vorliegenden Untersuchungsgegenstand hinaus von Bedeutung.

 

Unter dem Eindruck des sich zum Spätmittelalter langsam verschlechternden Judenbilds - sichtbar etwa daran, dass auch die Evangelien zunehmend mit bösartigen Juden besetzt werden, auch wenn die biblischen Texte dazu keinen Anhalt boten - wandelt sich auch das Bild des jüdischen Gelehrten. Dieser war anfangs noch halbwegs positiv konnotiert. Schon für die Zeit Jesu wurden aber nur noch ausnahmsweise positiv besetzte Gelehrtenfiguren angenommen und erst recht für die Zeit danach. Zwar wird die Gelehrsamkeit der jüdischen Rabbiner anerkannt; doch als Anhänger des überholten Zeitalters ‚sub lege’ erscheint für die christliche Welt ihre Gelehrsamkeit nutzlos. Nur wer über das Gnadengeschenk des Heiligen Geistes verfügt, wer den Schritt in das neue Zeitalter ‚sub gratia’ vollzogen hat, könne Zugang zur göttlichen Wahrheit erlangen, die sich in jedem Fall als der bloßen Buchgelehrsamkeit als überlegen herausstellt. Um dies zu untermauern, finden sich in zunehmenden Maße in den Texten bösartige jüdische Gelehrte, die nur den Schaden der Christen im Auge haben. Ihnen wird unterstellt, dass sie erbitterte Gegner des Christentums seien. Positive Gelehrtenfiguren gibt es zwar auch noch im Spätmittelalter; doch sind sie in der Regeln mit Figuren des Alten Testaments verbunden. Hinzu kommt, dass offenbar auch Erwartungshaltungen und sich verfestigende Vorurteile des Publikums bedient werden, die uneingeschränkt als judenfeindlich angesehen werden müssen. Tauchen einmal positive Gelehrtenfiguren in christlichen Texten auf, so sollen sie stets als Beweise für das Christentum herhalten. Dass hingegen im späten Mittelalter das Interesse an der von antijüdischen Stereotypen besetzten Figurengruppe deutlich zunimmt, ist auf geistesgeschichtlich-konzeptionelle wie auch historische Veränderungen dieser Zeit zurückzuführen.

 

Die vorliegende Arbeit besticht durch ihren klar gegliederten Gedankengang, dessen Ziele und Stationen einleitend erläutert und dessen Ergebnisse in einem knappen Schlusskapitel  auf hohem Abstraktionsniveau festgehalten werden. Schon die Abschnittsüberschriften lassen dies erkennen: „Konzeptionelle Rahmenbedingungen mittelalterlicher Judendarstellung“; „Christliches Sprechen über jüdische Gelehrte“ und „Jüdische Gelehrtenfiguren in der mittelhochdeutschen Literatur“. Die jeweils ausführlich zitierten Quellen werden stets in ihren historischen Kontext gestellt und damit in der jeweiligen geschichtlichen bzw. gesellschaftlichen Entwicklung verortet. Insofern folgt die Verfasserin einem ähnlichen Ansatz wie schon 1999 Sarah Lipton in ihrem - von der Autorin nicht zitierten - Buch „Images of Intolerance. The Representation of Jews and Judaism in the Bible moralisée“. Man fragt sich allerdings, ob nicht auch die innerjüdischen Reaktionen auf die christlichen Diskurse hätten berücksichtigt werden müssen, wie dies Israel Yuval 2006 in seinem (auch ins Deutsche übersetzten) Buch „Two Nations in Your Womb. Perceptions of Jews and Christians in the Middle Ages“ erstmals in der Geschichtsliteratur ausführlich beschrieb. Dies zu erwarten, würde eine germanistisch angelegte Dissertation allerdings überfordern – das Desiderat freilich bleibt und sollte von judaistischer Seite aus einmal aufgegriffen werden.

 

Was die - in dem Buch nicht vorkommende - Rechtsgeschichte anbelangt: Es wäre durchaus sinnvoll, auch normative Texte einmal auf die von der Autorin angesprochenen Imaginationen zu überprüfen. In ihnen ließen sich freilich keine christlichen Diskurse über die wie auch immer geartete Gelehrtenfrage ablesen; wohl aber spiegelt sich ihnen ein Teil dieser Diskurse, um sie zugleich legislativ in eine bestimmte Richtung festzuschreiben (vgl. dazu etwa F. Battenberg, Zur ‚Demokratisierung’ des Wissens im 16. und 17. Jh.. Die Auswirkungen unterschiedlicher Lehr- und Lernkonzepte auf das christlich-jüdische Verhältnis, in: Aspekte protestantischen Lebens im hessischen und nassauischen Raum, hg. v. F. Battenberg u. a., 1995, S. 55-78). Insofern kann dieser Band auch für den Rechtshistoriker einige anregende Gedanken vermitteln.

 

Darmstadt                                                                                          J. Friedrich Battenberg