Fisch, Jörg, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel-Stiftung). Beck, München 2010. 384 S., 2 Abb., 8 Kart. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Fisch, Jörg, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel-Stiftung). Beck, München 2010. 384 S., 2 Abb., 8 Kart. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Der Autor, Inhaber des Lehrstuhls für allgemeine neuere Geschichte an der Universität Zürich, behandelt die Entwicklung eines politischen Schlagworts und völkerrechtlichen Begriffs, des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Untersuchung reicht von der in der frühen Neuzeit beginnenden Vorgeschichte dieses Begriffs und seiner Entstehung und Verbreitung im 19. Jahrhundert bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Einem „Prolog: Nationale Einheit und Sezession in der Herrschaftssymbolik“ (S. 9ff.) folgt die „Einleitung: Ein Idealbegriff“ (S. 17ff.), in der Thesen skizziert werden, die für das gesamte Werk von grundlegender Bedeutung sind. Danach impliziert das Selbstbestimmungsrecht, also das Recht eines jeden Volkes, einen eigenen, unabhängigen Staat zu bilden, eine gerechte Weltordnung, in der die Völker herrschaftsfrei miteinander leben und frei über die weltweite Gebietsverteilung entscheiden. Das Selbstbestimmungsrecht enthalte ein Versprechen, das nicht eingelöst werden könne, es sei ein „utopischer Begriff“ (S. 23), eine „Illusion“, wie es im Untertitel des Buches heißt. In Wirklichkeit entscheide nicht das Recht, sondern die Macht. Die praktische Geschichte des Selbstbestimmungsrechts drehe sich nur noch um die Frage, „wer welche Einschränkungen zu wessen Gunsten durchsetzen kann“ (S. 23). Darin bestehe die „Domestizierung“ des Selbstbestimmungsrechts durch die Staatenpraxis, von der im Untertitel gesprochen wird.
Der Hauptabschnitt der Untersuchung umfasst zwei Teile: Teil I enthält eine „Theorie der Selbstbestimmung“, der weitaus umfangreichere, historische Teil II ist der „Praxis der Selbstbestimmung“ gewidmet. In Teil I (S. 25ff.) geht der Autor, wie schon in der Einleitung vorbereitet, auf den Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker ausführlich und gründlich ein. Insbesondere behandelt er das Recht auf Sezession als eine Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts und stellt fest, mit der Möglichkeit zur Sezession sei die größte vom Selbstbestimmungsrecht ausgehende Gefahr verbunden, weltweite Anarchie.
In Teil II (S. 71ff.) werden zunächst Vorstufen des Selbstbestimmungsrechts in der frühen Neuzeit dargestellt und erörtert, nämlich die Begriffe der Volkssouveränität und des Widerstandsrechts. Anschließend geht der Autor auf den von ihm als „erste Entkolonisierung“ (S. 79) bezeichneten historischen Prozess ein (1776-1826), in dem sich zunächst die USA von Großbritannien löste, etwas später die in den französischen, spanischen und portugiesischen Kolonien Amerikas lebenden Menschen von ihren jeweiligen Mutterländern. Von „Selbstbestimmung“ war noch keine Rede; das Ziel war „Unabhängigkeit“. Praktisch wurde ein Widerstandsrecht gegen die Mutterländer geltend gemacht, deren Regime als ungerecht empfunden wurden. Auf dem europäischen Kontinent geschah etwas Vergleichbares in der Französischen Revolution, die den Volksentscheid als Ausdrucksform der Volkssouveränität erfunden hat. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Selbstbestimmungsrecht“ zunehmend verwendet, erst in bürgerlichen, national denkenden Kreisen, zum Beispiel in Deutschland, dann auch von der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die europäischen Staaten nahmen dagegen ein „Recht auf Fremdbestimmung“ (S. 139) in Anspruch, nämlich gegenüber den in Afrika lebenden Völkern. In der praktischen Politik erlangte das Selbstbestimmungsrecht herausragende Bedeutung in den Jahren während des Ersten Weltkrieges und danach. Zunächst verwandte Lenin diesen Begriff. So versprach er in einer „Erklärung der Rechte der Völker Russlands“ (15. 11. 1917) den in Russland lebenden Völkern „das freie Selbstbestimmungsrecht (…) einschließlich des Rechts auf Absonderung und Bildung eines selbständigen Staates“ (S. 148). Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges machte sich der US-amerikanische Präsident Wilson den Begriff zueigen, um Einfluss auf die Neuordnung der Welt zu gewinnen. Wilson verstand „Selbstbestimmung“ jedoch nicht als Recht eines jeden Volkes, darüber zu entscheiden, welchem Staat es angehören möchte, sondern als „Selbstregierung“ (demokratische Staatsform). Im Zweiten Weltkrieg spielte die Behauptung eines Selbstbestimmungsrechts nur eine geringe Rolle. Hitlers Expansionspläne waren mit diesem Recht unvereinbar. Erst in der seit dem Zweiten Weltkrieg verstärkt betriebenen „zweiten Entkolonisierung“ (S. 209) erlangte das Selbstbestimmungsrecht zentrale Bedeutung. Die Sowjetunion sorgte dafür, dass die UN-Charta an zwei Stellen darauf Bezug nimmt, wobei allerdings nicht von einem Recht auf Selbstbestimmung gesprochen wird, sondern lediglich vom „Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker“ (Art. 1 Ziff. 2 und Art. 55 UN-Charta). Erst in den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen, die von der UN-Generalversammlung am 19. 12. 1966 verabschiedet wurden, ist von einem „Recht auf Selbstbestimmung“ die Rede. Nachdem der Prozess der Entkolonisierung im Wesentlichen abgeschlossen ist, geht der Autor abschließend noch auf Fragen des Selbstbestimmungsrechts ein, wie sie etwa in Europa nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens virulent geworden sind.
In einem „Epilog: Das Recht des Schwächeren“ (S. 269ff.) fasst der Autor die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen und schließt mit den Worten, das Selbstbestimmungsrecht werde zwar immer wieder von neuem „domestiziert“ werden müssen; es sei aber auch „ein Wühler, der die immer wieder ungerecht werdende Stabilität des Besitzes stets aufs Neue untergräbt“ (S. 290). Es folgt ein sehr nützlicher, umfangreicher Anhang (S. 293ff.), der nicht nur die Anmerkungen zum Text der Untersuchung umfasst, sondern auch einen kommentierten Quellen- und Literaturüberblick, eine Bibliographie, ein Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen sowie der Karten, ein chronologisches Register der zitierten Rechtstexte sowie ein Personen-, Orts- und Sachregister.
Die Untersuchung zeigt in aller Deutlichkeit, wie stark das Völkerrecht mit der Machtpolitik der Staaten verflochten ist und wie sehr das völkerrechtliche Ideal und die Realität der Internationalen Beziehungen auseinanderklaffen. Um diesen Gegensatz möglichst drastisch herauszuarbeiten, übertreibt der Autor jedoch gelegentlich. So vertritt er die These, das Selbstbestimmungsrecht nehme im Völkerrecht eine singuläre Position ein, es sei das oberste aller Menschenrechte, das noch über den individuellen Menschenrechten stehe (S. 18ff., 54). Es ist jedoch umstritten, ob das Selbstbestimmungsrecht zu den Menschenrechten gehört (wie der Verfasser selbst anmerkt, S. 19). Auch die Qualifizierung als zwingendes Recht (ius cogens), von dem unter keinen Umständen abgewichen werden darf (vgl. S. 19f.), macht das Selbstbestimmungsrecht nicht zum obersten Recht. Andere Normen, zum Beispiel das Folterverbot und das Verbot der Rassendiskriminierung, werden ebenfalls als zwingendes Recht qualifiziert und stehen damit auf der gleichen rechtlichen Stufe. Schließlich ist unklar, inwieweit das Selbstbestimmungsrecht zum ius cogens gehört - in seinem vollen Umfang oder nur seinem anti-kolonialen Inhalt nach. Auch wenn einige weitere kleinere Mängel im völkerrechtlichen Kontext zu verzeichnen sind, wird der Gesamteindruck der Untersuchung dadurch nicht beeinträchtigt. Das Buch kann jedem, der sich für die Geschichte des Völkerrechts und insbesondere für das Verhältnis zwischen dem Völkerrecht als einem normativen Anspruch und der Realität der internationalen Beziehungen interessiert, nur empfohlen werden.
Heidelberg Hans-Michael Empell