Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945, hg. v. Kirschner, Albrecht im Auftrag der Geschichtswerkstatt Marburg e. V. (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission von Hessen 74). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2010. 336 S., 50 Abb. Besprochen von Martin Moll.
Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945, hg. v. Kirschner, Albrecht im Auftrag der Geschichtswerkstatt Marburg e. V. (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 74). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2010. 336 S., 50 Abb. Besprochen von Martin Moll.
Würde es nicht so unpassend klingen, wäre man versucht zu sagen: Die Schlacht ist geschlagen. Bis Ende 2009 wurden sowohl in Deutschland als auch – wie immer nachhinkend – in Österreich nahezu sämtliche Urteile der vor allem während des Zweiten Weltkrieges tätigen Kriegsgerichte der deutschen Wehrmacht aufgehoben und die seinerzeit wegen Delikten wie Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung, Kriegsverrat usw. verurteilten Personen (keineswegs ausschließlich Soldaten!) rückwirkend rehabilitiert bzw. als nicht mehr vorbestraft eingestuft. Ein sich über Jahrzehnte erstreckendes Bemühen hat damit ein spätes Ende gefunden. Zeit für eine Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz, wie sie nunmehr die Geschichtswerkstatt Marburg vorlegt. Der Band ist aus dem Rahmenprogramm einer im Herbst 2009 in Marburger Rathaus gezeigten Wanderausstellung zur Wehrmachtsjustiz hervorgegangen. Er geht allerdings nur punktuell über den Kenntnisstand hinaus, den bereits der 2005 publizierte Überblick von Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtsjustiz 1933-1945, vermittelt.
Wenig verwunderlich, spiegelt der Sammelband das überaus kritische, ja geradezu vernichtende Urteil, das sich nach langen und heftigen Auseinandersetzungen mittlerweile als communis opinio über die Wehrmachtsjustiz als willfähriges Terrorinstrument des NS-Staates herausgebildet hat. Wenn nahezu alle Beiträger in zum Teil wortgleichen Ausführungen die von Wehrmachtsgerichten gegen Soldaten und Zivilisten praktizierte, gnadenlose Rechtsprechung mit ca. 30.000 verhängten und rund 20.000 tatsächlich vollstreckten Todesurteilen hervorheben, so ist dies nur verständlich vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Vertuschung und Beschönigung dieser pervertierten Strafjustiz, deren Protagonisten – die einstigen Wehrmachtsrichter – nach 1945 mit einer Ausnahme niemals gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wurden. Vielmehr machten sie nicht nur im bundesdeutschen Justizwesen rasch wieder Karriere, sie verfassten wie Erich Schwinge auch jene Werke zur NS-Militärjustiz, die bis in die 1980er Jahre hinein den wissenschaftlichen Standard bestimmten, auch wenn die Befangenheit ihrer Autoren offen zu Tage lag.
Erich Schwinge verkörpert nur einen der Anknüpfungspunkte an Marburg, wo er nach dem Krieg lehrte und zeitweilig sogar als Dekan und Rektor fungierte. Von ihm stammt der während der NS-Zeit in zahlreichen Auflagen herausgegebene Kommentar zum Militärstrafgesetzbuch, der den Intentionen des Regimes auf gnadenlose Ausmerzung aller „Feiglinge“ usw. wissenschaftlich verbrämt Vorschub leistete. Ein diesbezüglicher biographischer Beitrag von Detlef Garbe belegt, zusammen mit der biographischen Skizze eines weiteren NS-Militärjuristen, Werner Massengeil, aus der Feder Georg D. Falks, wie uneinsichtig sich diese Juristen nach dem Krieg gebärdeten und wie sehr – zeitweilig durchaus im Mainstream der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft – der vermeintlich saubere Charakter der Wehrmacht insgesamt und der Wehrmachtsjustiz im Besonderen anerkannt war. Dem entgegen steht freilich – dies unterstreicht die nicht immer hinreichend gewürdigten Ambivalenzen der NS-Militärjustiz – der Selbstmord des hochrangigen Wehrmachtrichters Werner Lueben im Juli 1944 aus Gewissensnöten (ohne Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli), dessen Lebensskizze Michael Viebig und Lars Skowronski kenntnisreich ausbreiten.
Wenngleich es schwer fällt, einen roten Faden durch den Band auszumachen, so durchzieht ihn doch die Erkenntnis eines Dilemmas, vor das sich das NS-Regime gestellt sah: Einerseits sollten widerständige oder irgendwie unbotmäßige Soldaten „ausgemerzt“ werden, andererseits sollte deren Beitrag zum Kampfeinsatz, wenn irgend möglich, erhalten bleiben. Die Lösung bestand in einem abgestuften System von Kapitalstrafen für sogenannte hoffnungslose Fälle und der Einweisung in unterschiedliche Bewährungs- und Strafeinheiten für jene, bei denen noch Besserung im Sinne des Regimes zu erhoffen war (Beitrag Hans-Peter Klausch).
Auch die (Militär-)Psychiatrie leistete ihren Beitrag zu der Verurteilungsorgie, wie Roland Müller in einem allzu kurzen Beitrag darlegt. Die Militärpsychiater ließen durch das Gesetz eröffnete Chancen, auf verminderte Schuldfähigkeit zu plädieren, weitgehend ungenutzt, was Müller darauf zurückführt, dass die Psychiater sich unter Kriegsbedingungen richtig „austoben“ konnten. Sie hätten sich im Grunde mit den Motiven der Fahnenflüchtigen auseinandersetzen müssen, die der Aufsatz von Magnus Koch darlegt.
Neben der Wehrmachtjustiz behandelt Henning Radkte die SS- und Polizeigerichtsbarkeit, ohne sich der naheliegenden Frage zu stellen, ob auch deren Urteile pauschal aufzuheben seien. Wie es scheint, haben einstige SS-Angehörige keine Lobby, die derartigen Forderungen Nachdruck verleiht, wenngleich der Unrechtsgehalt der von Wehrmachts- bzw. SS-Gerichten verhängten Urteile nicht wesentlich verschieden sein dürfte.
Was den Band mitunter schwer lesbar macht, sind nicht nur die zahlreichen Überschneidungen und Wiederholungen sowie die divergierenden Zahlenangaben zur Wehrmachtsjustiz, sondern auch die nicht immer nachvollziehbare Anordnung der Beiträge. Die biographischen Aufsätze sind unterbrochen durch einen Text mit Überlegungen über die Motive von Deserteuren; die bilanzierenden Beiträge Wolfram Wettes und Gerd Hankels über die Wehrmachtjustiz und deren Rezeption nach 1945 in Gesellschaft und Forschung, die sich übrigens passagenweise decken, durchbricht der lesenswerte Essay Astrid Pohls über die frühe Rezeption der NS-Militärjustiz im bundesdeutschen Film der 1950er Jahre.
Trotz mancherlei Defiziten legt die Geschichtswerkstatt Marburg eine in Summe wertvolle Bilanz zur NS-Militärgerichtsbarkeit vor, deren politische, auf Rehabilitierung aller Opfer dieser Justiz abzielende Intention zwar inzwischen offene Türe einrennt, deren wissenschaftliche Resultate jedoch als gute Zusammenfassung des – wenngleich hier auf Marburg und den Raum Hessen fokussierten – Forschungsstandes gelten können.
Graz Martin Moll