Der österreichische Staatsrat - Protokolle des Vollzugsausschusses, des Staatsrates und des Geschäftsführenden Staatsratsdirektoriums - 21. Oktober 1918 bis 14. März 1919, hg. v. Enderle-Burcel, Gertrude (= Der österreichische Staatsrat 1) Verlag Österreich, Wien 2008. LXXXIII, 521 S. Besprochen von Wilhelm Brauneder.
Der Österreichische Staatsrat - Protokolle des Vollzugsausschusses, des Staatsrates und des Geschäftsführenden Staatsratsdirektoriums - 21. Oktober 1918 bis 14. März 1919, hg. v. Enderle-Burcel, Gertrude (= Der österreichische Staatsrat 1). Verlag Österreich, Wien 2008. LXXXIII, 521 S. Besprochen von Wilhelm Brauneder.
Gertrude Enderle-Purcel / Hanns Haas / Peter Mänder (Bearb.), Der österreichische Staatsrat. Protokolle des Vollzugsausschusses, des Staatsrates und des geschäftsführenden Staatsratsdirektoriums 21. Oktober 1918 – 14. März 1919, Band 1, Verlag Österreich, Wien 2008, LXXXIII, 521 S.
Die Edition betrifft eine der wesentlichsten Epochen der österreichischen Geschichte, nämlich die Staatswerdung „der Republik“ im Jahre 1918. Hiebei spielte der Vollzugsausschuss der Provisorischen Nationalversammlung, seit 30. Oktober „Staatsrat“ benannt, eine wesentliche Rolle. Verdienstvoll ist es daher, dessen Protokolle der Forschung in einer oft penibel kommentierten Weise zugänglich gemacht zu haben. Allerdings ist der Forscher dringend dahin zu beraten, sich anhand dieser Quellen selbst ein Bild zu machen, da die „Historische Einleitung“ von Hanns Haas streckenweise völlig unzulänglich ist. Dies betrifft in erster Linie das verfassungsrechtliche Geschehen dieser Tage. In so gut wie völliger Außerachtlassung der zeitgenössischen Verfassungsliteratur, insbesondere Hans Kelsen, auch einschlägiger verfassungshistorischer Sekundärliteratur, wird der Umstand, dass in diesen Tagen ein neuer Staat begründet wurde, die Republik Deutschösterreich, nahezu unterschlagen. Dies manifestiert sich unter anderem schon in der unsicheren Terminologie, die zwischen „Übernahme der Regierungsgewalt“ (XXXV: Überschrift) und „Übernahme der Staatsgewalt“ (erste Zeile danach, etwa auch XXXVI) schwankt. Die Staatsgründung am 30. Oktober, plakativ gemacht durch die Aufnahme des entsprechenden Beschlusses in die erste Nummer des Staatsgesetzblattes, nachzulesen in vielen der von Haas nicht benützten Arbeiten, findet so keine Erwähnung! Auch die Bedeutung des „Verfassungsfestes“ vom 12. November 1918 negiert Haas völlig, denn es geht ihm an diesem Tag bloß um ein „Ringen um Symbole“ (LXVI). Keine Einsicht in das tatsächliche Geschehen zeigt auch die Ausführung über „Staatsgebiet, Grenzen und Staatbürgerschaft“ (LIff). Mit der Inanspruchnahme der „Gebietsgewalt“ am 21. Oktober durch die Provisorische Nationalversammlung sind selbstverständlich keineswegs „innerstaatliche Verwaltungsgrenzen eines föderalisierten Habsburgerstaates“ gemeint, sondern die Gewalt über ein Staatsgebiet und insofern besteht auch keinerlei Widerspruch zur in Anspruch genommenen „Gebietshoheit“ am 30. Oktober, auch nicht was das Gebiet betrifft. Haas rückt überhaupt nicht in das Blickfeld, dass sich vor allem bei der Staatsgründung am 30. Oktober das Staatsgebiet bereits durch die Herkunft der Abgeordneten definierte, sozusagen die Summe ihrer Wahlkreise ausmachte. Völlig unzulänglich ist auch das zum Problem „Staat und Länder“ (LIIff) Gesagte, zumal hier die entscheidende Sitzung einer Art von Ausschusslandtages vom 22. Oktober keine Erwähnung findet, in dem sich die autonomen Landesgewalten der künftigen deutschösterreichischen Staatsgewalt ausdrücklich zur Verfügung stellten und schon in den nächsten Tagen begannen, die staatliche Verwaltung an sich zu ziehen, die bisher der Statthalter ausgeübt hatte. Mit dem isolierten Zitat, die „endgiltige Feststellung darüber, ob Deutsch-Österreich Monarchie oder Republik wird, blieb der Konstituante überlassen“ (XXXIII), wird ein vollkommen falscher Eindruck erweckt: Der Staatsgründungsbeschluss vom 30. Oktober stand klar auf dem Standpunkt der demokratischen Republik, das kam nicht nur in der entsprechenden Sitzung immer wieder zum Ausdruck, auch Kelsen und Renner hatten dies oftmals betont mit dem Hinweis darauf, am 12. November wurde „in der durch die Gesetzesform gewährleisteten Solennität erklärt, was schon durch den Verfassungsbeschluß vom 30. Oktober 1918 rechtlich geschaffen worden war“ (Kelsen). Ganz merkwürdig ist der Satz, der „Beschluß über den Wechsel der Staatsform [am 12. November] intendierte zugleich das Ende der deutschösterreichischen Staatlichkeit“ (LXII): Wie eben zitiert, gab es keinen „Wechsel der Staatsform“ an diesen Tagen und die „deutschösterreichische Staatlichkeit“ kann doch keinesfalls rund vierzehn Tage nach ihrer Begründung ihr „Ende“ gefunden haben; im anschließenden Satz spricht Haas selbst von „Republikgründung“! Das Verkennen verfassungsrechtlicher Abläufe ist durchgehend, die Beispiele lassen sich vermehren, es betrifft nicht nur den dargestellten Zeitraum. So verwundert die mehrfache rückblickende Bezugnahme auf das Oktoberdiplom von 1860 (z. B. XXVII, XXIX), da dieses doch mittlerweile in den Verfassungen 1861 und vor allem 1867 aufgegangen war.
Die „Historische Einleitung“ ist jedenfalls so konfus, dass das Gesamtwerk gewonnen hätte, wäre sie nicht abgedruckt worden. Vom verfassungshistorischen Standpunkt sei mit Nachdruck vermerkt, dass es nicht angeht, verfassungsgeschichtliche Themen ohne Verwendung der einschlägigen Literatur zu behandeln wie auch wirtschaftshistorische Beiträge ohne wirtschaftshistorische Literatur nicht zu schreiben sind.
Wien Wilhelm Brauneder