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Das Grundgesetz. Dokumentation seiner Entstehung, hg. v. Schneider, Hans-Peter/Kramer, Jutta, Band 26 (Artikel 108 bis 115), bearb. v. Schneider, Hans-Peter nach Vorarbeiten v. Lensch, Reinhard. Klostermann, Frankfurt am Main 2008. XLVI, 1187 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

Das Grundgesetz. Dokumentation seiner Entstehung, hg. v. Schneider, Hans-Peter/Kramer, Jutta, Band 26 (Artikel 108 bis 115), bearb. v. Schneider, Hans-Peter nach Vorarbeiten v. Lensch, Reinhard. Klostermann, Frankfurt am Main 2008. XLVI, 1187 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Seit 1995 publiziert die „Forschungsstelle für Zeitgeschichte des Verfassungsrechts“ in Hannover mit Unterstützung des Bundestages Quelleneditionen zur Entstehung einzelner Artikel des Grundgesetzes; bisher sind 9 voluminöse Bände vorgelegt worden. Der zu besprechende Band behandelt die Artikel 108 bis 115 über die Finanzverwaltung und das Haushaltswesen des Bundes. Er schließt die in Band 25 (Artikel 105 bis 107) begonnene Dokumentation über das Finanzwesen ab. Dieser 26. Band ist innerhalb des Unternehmens entgegen dem ersten Anschein noch von besonderer historischer Relevanz, da am Streit über die hier dokumentierten Artikel das fast fertige Grundgesetz beinahe noch gescheitert wäre. Denn während der Parlamentarische Rat einen starken Bundesstaat wollte, versuchten die Länder wie die Alliierten aus unterschiedlichen Gründen das zu verhindern. Allen war klar, dass bei der Formulierung der Artikel über Ertrag, Verwaltung und Gesetzgebungskompetenz der Steuern dafür die Weichen gestellt würden. Das Ergebnis war ein Kompromiss, welcher der Bundesrepublik ein kompliziertes Finanzsystem bescherte.

 

Schon 1951 ist eine Sammlung von Quellen zur Entstehung der Artikel des Grundgesetzes erschienen, welche die Herausgeber in ihrer Einleitung etwas zu herablassend behandeln. Denn hier wurde in zwei Jahren in Konzentration auf die Substanz der wichtigsten Quellen etwas zustande gebracht, was nun nochmals in einer beträchtlichen Ausweitung der Quellengrundlage mit hohen Ansprüchen, großen Kosten und einem auf Jahrzehnte angelegten Unternehmen versucht wird. Vergleicht man Aufwand und Ertrag beider Projekte, dann kommen erste Bedenken an dem gegenwärtigen auf; sie werden bei einem näheren Blick auf dessen Konzeption und deren Umsetzung nicht geringer.

 

Der Band wird mit einem „Überblick über die Entstehung des Grundgesetzes“ eröffnet, auf den leicht hätte verzichtet werden können. Denn erstens ist in dem noch nicht erschienenen ersten Band eine umfassende historische Darstellung der Schaffung des Grundgesetzes geplant, zweitens wird in diesem Überblick nur längst Bekanntes nochmals präsentiert und drittens fördert er in keiner Weise das Verständnis der im Folgenden abgedruckten Quellen. Hilfreich wäre doch allein eine Untersuchung gewesen, welche die Auseinandersetzung um Steuern und Finanzwesen in den historischen Zusammenhang stellt. Doch gerade davon kein Wort und die knappe Inhaltsangabe der dokumentierten Artikel 108 bis 115 ist dafür kein Ersatz.

 

Ziel des Unternehmens ist der umfassende Abdruck aller Quellen, welche die Genese jedes Artikels des Grundgesetzes bis zu dessen Verabschiedung am 23. Mai 1949 aufhellen. Kernbestand sind die „amtlichen Materialien“ der Beratungen des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rats, wie sie im Bundesarchiv bzw. Parlamentsarchiv des Bundestags aufbewahrt werden. Merkwürdig berührt, dass einerseits große Mühe auf das Aufspüren und den Abdruck von Originalen verwendet wurde, andererseits aber zentrale Quellen, nämlich die Sitzungen des Plenums und des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats wie der Anschlussbericht der Versammlung von Herrenchiemsee, nach zeitgenössischen Drucken wiedergegeben werden. Dazu steht ebenfalls im Kontrast und ist gerade für den vorliegenden Band gravierend, dass Akten der Westalliierten nur herangezogen werden, soweit sie gedruckt vorliegen oder sich Abschriften in deutschen Archiven finden.

 

Doch haben es die Herausgeber nicht dabei belassen, die Protokolle der Verhandlungen im Plenum, in den Ausschüssen und sonstigen Gremien wie auch die Eingaben, Vorlagen und Drucksachen von Rat und Konvent aufzuspüren, sondern ihr Ehrgeiz hat sie dazu getrieben, auch noch „nichtamtliche Materialien“ zu erfassen. Das sind Korrespondenzen und Aufzeichnungen von Teilnehmern, Protokolle von Sitzungen der Parteien und informellen Besprechungen, inoffizielle Eingaben, Stellungnahmen und Gutachten. Von besonderem Gewinn und als Quelle hier zum ersten Mal in ihrer Bedeutung gewürdigt, sind die kontinuierlichen Berichte der Mitarbeiter der Außenstelle des Büros der Ministerpräsidenten an ihre Auftraggeber. Denn sie haben nicht nur die offiziellen Verhandlungen genau beobachtet, sondern sie waren auch über das Randgeschehen gut informiert. So können Lücken in der amtlichen Überlieferung (es fehlen vor allem Aufzeichnungen über die Sitzungen einiger Ausschüsse) geschlossen und die politischen Motive mancher Entscheidungen aufgehellt werden. Doch damit noch nicht genug. Eingeleitet wird die Dokumentation jeweils durch den Abdruck einschlägiger Bestimmungen vorausgehender Reichsverfassungen. Doch warum setzt man erst ab 1849 ein und nicht mit der Verfassung des Deutschen Bundes? Und warum bleiben die Verfassungen der oft viel wichtigeren der Bundesstaaten im 19. Jahrhundert bzw. der Reichsländer nach 1918 unberücksichtigt, die der Bundesländer nach 1945 hingegen nicht?

 

Auf der Grundlage eines solch reichhaltigen Quellenkorpus kommt beispielsweise in diesem Band allein für den Artikel 108 eine Dokumentation von rund 500 Seiten zusammen. Verständlich, dass diese nur noch zu überblicken und zusammenzuhalten sind durch ein eigenes Inhaltsverzeichnis, spezielle Editionshinweise, eine Kurzfassung der Textgenese wie der Beratungsschwerpunkte und einen Bericht über die Materialien, die der Artikeldokumentation zugrunde liegen.

 

Nicht mehr nachvollziehbar ist die vollständige Ignorierung der Forschung durch Herausgeber und Bearbeiter, die nicht begründet wird. Das Geringste ist noch, dass ein Literaturverzeichnis fehlt und nicht auf bereits Veröffentlichtes verwiesen wird, obwohl das hier mehr als eine Formalie ist. Denn die Textpassagen zu den jeweiligen Artikeln sind aus dem Sitzungs- und Besprechungszusammenhang herausgerissen, daher für sich nicht immer gleich verständlich. Dem könnte abgeholfen werden, wenn z. B. Hinweise auf bereits edierte Protokolle das Auffinden erleichtern würden.

 

Gravierender für die Dokumentation aber ist, dass überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird, dass bereits mehrere Quellensammlungen zum Konvent von Herrenchiemsee wie dem Parlamentarischen Rat und darüber hinaus auch zur Entstehung des Grundgesetzes vorliegen. Die meisten von ihnen stehen in ihrer wissenschaftlichen Qualität diesem Unternehmen nicht nach. Das gilt insbesondere für die nur einmal am Rande gestreifte Edition der Akten und Protokolle von Konvent und Parlamentarischem Rat durch Bundestag und Bundesarchiv. Wirft man in das bereits Erschienene einen Blick, dann stellt man nämlich fest, dass ein Drittel bis zur Hälfte der hier abgedruckten Quellen schon an anderer Stelle zugänglich ist! Sofern es sich um Aufzeichnungen des Herrenchiemseekonvents wie des Plenums und Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats handelt sogar drei Mal: zeitgenössisch, in der Edition der Akten und Protokolle und jetzt hier.

 

Wem ist damit gedient und warum wird so vorgegangen? Diese Fragen stellen sich auch nochmals im Blick auf den Zweck des Unternehmens. Nach Ansicht der Herausgeber soll das Werk Staats- und Verfassungsrechtlern ebenso wie Rechts- und Verfassungshistorikern ein tieferes Verständnis des Grundgesetzes ermöglichen. Doch im Ernst, welcher der Richter oder Rechtswissenschaftler, die sich doch eher am Rande für die Textgenese von Verfassungsartikeln interessieren, hat Zeit und Lust sich für einen Artikel durch 500 und mehr Seiten Quellen zu wühlen? Und auch für Historiker, die das Grundgesetz und seine Artikel in der Regel in größere Zusammenhänge einordnen müssen, gilt das Gleiche.

 

Das Problem dieses Bandes und des gesamten Werkes liegt also darin, dass man in einem perfektionistischen Vollständigkeitsstreben weder danach gefragt hat, ob und inwiefern dafür überhaupt ein Bedarf besteht noch ob der Ertrag die beeindruckende Mühe und Akribie, die aufgewendet wurden, rechtfertigen. Hier ist das Streben nach Vollständigkeit zum Selbstzweck geworden. Dass dies in die Aporie führen kann, zeigt eine einfache Überlegung. Seit etwa 15 Jahren sind neun umfangreiche Bände, in denen jeweils im Durchschnitt drei bis vier Artikel behandelt werden, erschienen. Schreitet das Unternehmen so fort, wird es noch etwa 60 Jahre dauern. Man muss kein Pessimist sein, um daran zu zweifeln, ob Geld und Schaffenskraft so lange reichen werden. Die Lösung kann nur sein, die Konzeption auf das für die Rechts- und Geschichtswissenschaft Nützliche zu reduzieren (nicht jede Meinung, Ausführung oder Ansicht fördert die Erkenntnis), die Edition eventuell digitalisiert weiterzuführen und bereits Veröffentlichtes nicht wieder abzudrucken. Denn verzichten möchte man auf das Werk, das unsere Kenntnis der Entstehung des Grundgesetzes verbreitert, nicht; ob es diese auch vertieft steht angesichts des gut bestellten Forschungsfelds auf einem anderen Blatt.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert