Braun, Matthias, Die Entwicklung der Schwurgerichtsfrage in Kurhessen bis zum Jahre 1851 (= Schriften zur Rechtsgeschichte 151). Duncker & Humblot, Berlin 2011. 433 S. Besprochen von Werner Schubert.
Braun, Matthias, Die Entwicklung der Schwurgerichtsfrage in Kurhessen bis zum Jahre 1851 (= Schriften zur Rechtsgeschichte 151). Duncker & Humblot, Berlin 2011. 433 S. Besprochen von Werner Schubert.
Als Gesamtdarstellung der Schwurgerichtsfrage ist noch immer maßgebend das Werk von Erich Schwinge: „Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung“ (Breslau 1926). Als Ergänzung hierzu fehlen noch immer Einzeldarstellungen der Schwurgerichtsfrage bzw. über die Einführung der Schwurgerichte in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes. Lediglich für Baden liegt hierzu eine detailliertere, wenn auch nicht vollständige Darstellung vor von Wolfram W. Hahn: „Die Entwicklung der Laiengerichtsbarkeit im Großherzogtum Baden während des 19. Jahrhunderts“ (Berlin 1974). Deshalb ist das Werk Brauns über die Geschichte des Schwurgerichts in Kurhessen, das erst 1848 Schwurgerichte erhielt, sehr zu begrüßen. Die Mitwirkung einer Laienjury im Strafprozess, so Braun im einführenden Teil seines Werks, war „Teil der politischen Forderungen der liberalen und auch der demokratischen Bewegung. Das zu neuem Selbstbewusstsein erlangte Bürgertum begehrte gegen den Obrigkeitsstaat auf“. Das Schwurgericht galt aber nicht nur „als Schutzeinrichtung gegen obrigkeitsstaatliche Willkür, sondern zugleich als förderndes Instrument zur Ausübung bürgerlicher Freiheitsrechte“. Ohne Schwurgerichte ließ sich nach Meinung der liberalen Öffentlichkeit die Presse- und Meinungsfreiheit nicht durchführen. Nach einer kurzen Kennzeichnung des in Kurhessen geltenden Inquisitionsprozesses, der 1775 durch eine Prozessordnung bestätigt wurde, geht Braun ausführlich auf das Geschworenengericht im Königreich Westphalen und auf die ersten Erfahrungen mit der Laiengerichtsbarkeit auf kurhessischem Gebiet ein (S. 43-70). Auf die Entwicklung in den ehemaligen Gebieten des Großherzogtums Frankfurt (Hanau, Fulda), die 1815/16 zu Kurhessen kamen und wo 1812 der Code pénal, eine neue Strafverfahrensordnung (öffentliche Schlussverhandlung, freie Beweiswürdigung) und eine neue Gerichtsverfassung (ohne Jury) eingeführt wurde (Paul Darmstädter, Das Großherzogtum Frankfurt, 1901, S. 146ff.), wird nicht näher eingegangen. Die Einführung der Jury in Westphalen beruhte auf Art. 46 der dortigen Verfassung von 1807: „Das gerichtliche Verfahren soll öffentlich sein, und in peinlichen Fällen sollen Geschworenen-Gerichte statt haben.“ Die gesetzlichen Grundlagen für das Schwurgerichtsverfahren, die erstmals im Januar 1809 stattfanden, brachte die „Peinliche Strafprozessordnung“ von 1808 (S. 44ff.), die noch auf dem vor dem Inkrafttreten des Code de procédure criminel geltenden französischen Strafprozessrecht beruhte (vgl. S. 50). Das materielle Strafrecht wurde im Wesentlichen der Carolina von 1532 entnommen, die in Hessen-Kassel bis zur Einführung des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 im Jahre 1868 galt.
Obwohl das französische Recht mit sofortiger Wirkung 1814 aufgehoben wurde und die westphälische Zeit insgesamt negativ beurteilt wurde, fanden „mit zeitlicher Distanz“ die westphälische Justiz und insbesondere auch das öffentliche und mündliche Verfahren sowie die Schwurgerichte in den Beratungen der Landstände zwischen 1846 und 1848 eine wohlwollende Beurteilung (S. 70). Der nächste Abschnitt des Werkes befasst sich mit dem Streit und den Verhandlungen über die Einführung von Geschworenengerichten bis 1848 (S. 71-202). Bis 1830 war die Laienjury in Strafsachen in Kurhessen kein „bedeutendes Thema“ (S. 111), wobei zu berücksichtigen ist, dass Zeit- und Druckschriften einer strengen Zensur unterlagen. Das Organisationsedikt von 1821 brachte eine Trennung der Justiz von der Verwaltung. Die auf der Carolina beruhende Peinliche Gerichtsordnung von 1748 verlangte zur Überführung des Angeklagten entweder dessen Geständnis oder das Zeugnis „zweier unverwerflicher, tüchtiger Zeugen“ (S. 115). Diese Regelung warf die Frage auf, inwieweit eine Verurteilung erfolgen durfte, wenn nur ein Zeuge existierte oder der Beweis nur indirekt (Indizienbeweis) geführt werden konnte. Ab den 20er Jahren reichte nach den von der hessischen Judikatur entwickelten Grundzügen auch eine indirekte Beweisführung aus, wozu die bloße „innere Überzeugung“ im Sinne des französischen Beweisrechts nicht genügte (S. 117ff., 181ff.). Die Verfassungsurkunde von 1831 garantierte die Trennung der Justiz von der Verwaltung sowie die Unabhängigkeit des Richters in allen Instanzen. Die Urteile in politischen und Pressestrafsachen sollten öffentlich bekannt gemacht werden; dagegen waren Schwurgerichte und ein öffentlich-mündliches Verfahren nicht durchsetzbar (S. 126ff.). Zwischen 1840 und 1846 lehnten die Stände mehrheitlich die Regierungsentwürfe zur Reform des Strafprozesses ab, die nicht einmal ein öffentlich-mündliches Verfahren mit einer eigenen Strafermittlungsbehörde vorsahen, im Gegensatz zum preußischen Gesetz vom 17. 7. 1846 über das Strafgerichtsverfahren an den Berliner Gerichten (hierzu die vorbereitende, von Braun S. 178 f. erwähnte Denkschrift von Savigny: „Die Prinzipienfragen in Beziehung auf eine neue Strafprozessordnung“ [neu hrsg. von W. Schubert, 2011]). Erst die Reformgesetzgebung von 1848 (S. 203ff.) brachte mit den Gesetzen vom 26. 8. 1848 „wider Pressvergehen“ und mit dem Gesetz „die Umbildung des Strafverfahrens betreffend“ vom 31. 10. 1848 zur Einführung des Anklageprozesses, der öffentlichen und mündlichen Verhandlung, der Schwurgerichte auch in politischen und Press-Sachen sowie der Staatsanwaltschaft (Wiedergabe der Gesetze von 1848 im Anhang, S. 286ff.). Der Reformgesetzgebung lag im Wesentlichen das Grundmodell des westphälisch-französischen Strafverfahrens zugrunde, so wie es auch in der Rheinprovinz gehandhabt wurde (S. 196, 211). Der Zuständigkeit der Schwurgerichte wurden 1851 die politischen Delikte, die Pressvergehen sowie ein Teil der Diebstahlsdelikte entzogen (S. 244ff.). Die Schwurgerichte blieben weiterhin – mit einigen Verbesserungen durch die Strafprozessordnung von 1863 – ein „wesentlicher Bestandteil“ der kurhessischen Strafrechtspflege (S. 248), für die ab 1867 die preußische Gesetzgebung maßgebend wurde. Die Hinweise auf die weitere Entwicklung (S. 248 f.) hätten im Hinblick darauf, dass die masch. Dissertation von Fritz Amrhein, die Entwicklung des hessischen Strafprozessrechts im 18. und 19. Jahrhundert (Würzburg 1955) schwer zugänglich ist, ausführlicher sein können. Etwas dataillierter hätten auch die Biographien der für die Entwicklung des kurhessischen Strafverfahrensrechts maßgebenden Persönlichkeiten sein sollen. Im Anhang bringt Braun außer den erwähnten Gesetzestexten eine Übersicht über die Einteilung der Gerichtsbezirke nach dem Gesetz vom 22. 7. 1851 (S. 412ff.) sowie eine statistische Übersicht über die schwurgerichtlichen Verfahren in Kurhessen vom 1. 2. 1849 bis zum 1. 1. 1850. Am spektakulärsten war das Schwurgerichtsverfahren gegen den Zeitungsherausgeber Friedrich Oetker, der im Mai 1850 einen regierungskritischen Artikel des Historikers Sybel (der als Verfasser jedoch nicht genannt wurde) veröffentlicht hatte. Im Anhang bringt Braun die auf Veranlassung Oetkers stenografisch aufgenommenen Verhandlungen (S. 252-285), leider mit einigen, wenn auch insgesamt geringfügigen Kürzungen.
Insgesamt liegt mit dem Werk Brauns eine ausgewogene und hinreichend detaillierte Darstellung über die Schwurgerichtsfrage in Kurhessen vor, die weitere Darstellungen über die Entwicklung dieser Frage vor allem in Preußen wünschenswert erscheinen lässt.
Kiel
Werner Schubert