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Bauer, Andreas, Die innere Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts - Eine rechtsgeschichtliche, rechtsvergleichende und soziologische Betrachtung (= Schriften zum deutschen, europäischen und vergleichenden Zivil-, Handels- und Prozessrecht 246). Gieseking, Bielefeld 2008. XXXII, 299 S. Besprochen von Gerhard Otte.

Bauer, Andreas, Die innere Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts - Eine rechtsgeschichtliche, rechtsvergleichende und soziologische Betrachtung (= Schriften zum deutschen, europäischen und vergleichenden Zivil-, Handels- und Prozessrecht 246). Gieseking, Bielefeld 2008. XXXII, 299 S. Besprochen von Gerhard Otte.

 

Der erste Hauptteil der von Rainer Hausmann betreuten Konstanzer Dissertation ist in der Absicht geschrieben, die durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. 4. 2005 keineswegs abgeschlossene Diskussion um das Pflichtteilsrecht in Deutschland durch einen Blick auf die Entwicklung des Pflichtteilsrechts in Neuseeland zu vertiefen. Dass der Verfasser nicht irgendein ausländisches, sondern gerade das neuseeländische Recht zum Vergleich heranzieht, hat seinen Grund darin, dass von allen Rechtsordnungen, die den nächsten Angehörigen des Erblassers eine von dessen Willen unabhängige Nachlassbeteiligung nicht schon kraft Gesetzes, sondern nur kraft richterlicher Entscheidung zubilligen, die neuseeländische sich zur pflichtteilsfreundlichsten entwickelt hat (S. 9f.). Im zweiten Hauptteil will der Verfasser dann rechtssoziologische Erkenntnisse über innerfamiliären und generationenübergreifenden Vermögenstransfer für die Beurteilung des Pflichtteilsrechts fruchtbar machen (S. 10). Die weiteren Abschnitte der Arbeit beziehen Stellung zu den in der rechtspolitischen Diskussion gemachten Reformvorschlägen und zu den pflichtteilsrechtlichen Bestimmungen des (inzwischen mit „abgespecktem“ Inhalt Gesetz gewordenen) Entwurfs des Gesetzes zur Reform des Erb- und Verjährungsrechts.

 

Der in dieser Rezension im Vordergrund stehende erste Hauptteil („Historischer und rechtsvergleichender Überblick“, S. 11-155) unterscheidet sinnvoll zwischen „Rechten mit gesetzlich bestimmter Nachlassbeteiligung“ (Beispiel: Deutschland), „Rechten mit gerichtlich bestimmter Nachlassbeteiligung“ (Beispiel: Neuseeland) und „Rechten ohne zwingende Nachlassbeteiligung“ (Beispiel USA).

 

Die Untersuchung zum BGB-Pflichtteilsrecht beginnt, wie so viele zivilrechtliche Erstlingsarbeiten, mit einem nicht aus den Quellen geschöpften, sondern aus Sekundärliteratur zusammengestellten Überblick über die Rechtsentwicklung vor dem BGB (S. 14-43). Offenbar rechnen Doktoranden und Doktorväter immer noch mit einem Leserinteresse an solcher „Rechtsgeschichte aus dritter Hand“. Auswahl des Stoffes und der benutzten Literatur überzeugen nicht. Beispielsweise gelingt es Bauer nicht, seine breiten Ausführungen zum Seelteil (S. 26ff.) in Beziehung zum Pflichtteilsrecht zu setzen. Dass Zuwendungen an die Kirche großenteils Versorgungsfunktion hatten, kommt ebensowenig zur Sprache wie die Einschränkung der Familiengebundenheit des Vermögens durch die auf weltlicher Herrschaft beruhenden Abgaben im Todesfall. Für das römische Pflichtteilsrecht (S 15ff.) hätte ein Hinweis auf die Darstellung Zimmermanns genügt, die Bauer aber ebenso übergeht wie die anderen, rechtspolitisch durchaus wichtigen Referate auf der von Anne Röthel 2006 veranstalteten Salzauer Tagung zum Pflichtteilsrecht.

 

Lohnend wird die Lektüre erst ab S. 43, wo Bauer die Aufnahme des Pflichtteilsrechts in das Bürgerliche Gesetzbuch darstellt. Die Beratungen der 1. und der 2. Kommission sind hier ja wenig aussagekräftig, und zwar deshalb, weil von Schmitts Entwurf von Anfang an überzeugte und daher die Grundsätze des Pflichtteilsrechts, so wie sie dann Gesetz geworden sind, nicht mehr diskutiert wurden. Nachdem auf dem 14. Deutschen Juristentag (1878) die Plädoyers der Referenten für eine Abschaffung oder wesentliche Einschränkung des Pflichtteilsrechts so wenig Anklang gefunden hatten (was S. 44 leider nicht näher ausgeführt wird), war anderes auch nicht zu erwarten gewesen. Festzuhalten ist die Einsicht, dass die Bewertung des BGB-Pflichtteilsrechts von falschen Voraussetzungen ausgeht, wenn sie die Ansicht und Absicht der Gesetzesverfasser nur aus den Motiven und Protokollen glaubt entnehmen zu können (S. 46). Bauer setzt sich intensiver, als dies bisher geschehen ist, mit den Gedanken von Schmitts auseinander(S. 46-57). Seinem Ergebnis, dass von Schmitt eine moralische Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts geben wollte (S. 52), ist zuzustimmen, ebenso aber auch seiner These, dass diese Rechtfertigung „ausbaufähig und auch ausbaubedürftig“ sei (S. 57).

 

Nach einem kurzen Abriss der Regelung des Pflichtteilsrechts im BGB (S. 63ff.) und einer verständigen Würdigung der in der jüngsten Zeit geführten rechtspolitischen Diskussion (S. 67ff.) folgt in der Arbeit eine Übersicht über andere Rechtsordnungen, die nächsten Angehörigen von Gesetzes wegen eine Beteiligung am Nachlass gewähren (S. 70-88). Sie ist nahezu vollständig (Fn. 377). Abgesehen von Zwergstaaten vermisse ich nur Estland und die Slowakei. Dass Spanien ein Mehrrechtsstaat ist und das territoriale Pflichtteilsrecht erhebliche Abweichungen vom Codigo civil aufweist, hätte berücksichtigt werden sollen (S.78). Insgesamt liefert die Übersicht einen guten Eindruck von der Vielfalt der Ausgestaltungen des Pflichtteilsrechts. Mit Recht wendet sich Bauer gegen die Ansicht, diese Vielfalt lasse die einheitliche Beantwortung der Kernfrage nach der Begrenzung der Testierfreiheit zu Gunsten der nächsten Angehörigen nicht erkennen (S. 87). Seine Zweifel, ob diese Einheitlichkeit auf eine gemeinsame historische Wurzel hinweist, teile ich indessen nicht. Schließlich ist ja auch das islamische Erbrecht ohne das spätrömische nicht zu denken.

 

Die Darstellung der Rechtsordnungen mit gerichtlich bestimmter Nachlassbeteiligung (S. 89-136) dürfte für den deutschen Leser der aufschlussreichste Teil der Arbeit sein. Sie beginnt mit einer Skizze der Rechtsentwicklung in England bis hin zur völligen Testierfreiheit im 19. Jahrhundert (S 89ff.), um dann auf Neuseeland einzugehen, wo das Unbehagen über diese Entwicklung um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einer Family Protection-Gesetzgebung führte, die eine Ergänzung des Testaments durch Anordnung von Zahlungen an übergangene Ehegatten und Kinder nach richterlichem Ermessen ermöglichte (S. 96ff.). Das Bemerkenswerteste an der Handhabung der Family Protection durch die Gerichte ist, dass die Angemessenheit der Zahlungen mehr und mehr losgelöst von unterhaltsrechtlicher Bedürftigkeit beurteilt wurde und stärker an die moralische Verpflichtung des Erblassers anknüpft, Rücksicht auf die Stellung des im Testament Übergangenen in der Familie zu nehmen (S. 102-109 hierzu lesenswerte Zitate aus der Rechtsprechung). Die Gesetzgebung des 20. Jahrhunderts hat diese Gesetzesinterpretation nicht zurückgewiesen, sondern sanktioniert (S. 110ff.). Im Ergebnis hat Neuseeland heute ebenso wie die Länder mit traditionellem Pflichtteilsrecht eine unentziehbare bedarfsunabhängige Nachlassbeteiligung übergangener nächster Angehöriger, nur mit dem Unterschied, dass Art und Höhe der Beteiligung nicht gesetzlich bestimmt sind, sondern im Einzelfall richterlich festgelegt werden (zu den Vorzügen und Nachteilen dieser erbrechtlichen Einzelfallgerechtigkeit S. 114ff.).

 

Bauer gibt anschließend eine Übersicht über das Pflichtteilsrecht in anderen Ländern, die nur eine gerichtlich angeordnete Nachlassbeteiligung testamentarisch Übergangener kennen. Danach wird es außerhalb des Bereichs des Common Law von den Gerichten wohl nur unterhaltsrechtliche Bedürftigkeit berücksichtigt (S. 121ff.). Hingegen hat das neuseeländische Beispiel in Kanada und Australien Nachahmung gefunden (S. 128ff.) und in England die Einführung einer Family Provision durch den Inheritance Act 1938 begünstigt, wobei das Mutterland allerdings zunächst nicht über die Berücksichtigung unterhaltsrechtlicher Bedürftigkeit hinausging (S. 122ff.), eine Beschränkung, die durch den Inheritance Act 1975 bezüglich des Ehegatten aufgegeben wurde, so dass nun in England die pflichtteilsrechtliche Stellung des Ehegatten und der Kinder ganz unterschiedlich ist.

 

Die USA kennen, anders als die Staaten des Commonwealth, keine Nachlassbeteiligung übergangener Angehöriger kraft gerichtlicher Zubilligung. Der Ehegatte kann allerdings güterrechtliche Ansprüche haben (S. 138ff.). Im Hinblick auf die Kinder kann hingegen von unbegrenzter Testierfreiheit gesprochen werden (S. 142). Das Unbehagen am Fehlen jeglichen Schutzes gegen Enterbung äußert sich hier in Anfechtungsklagen übergangener Abkömmlinge wegen „unzulässiger Beeinflussung“ des Erblassers. Deren Erfolgsaussicht ist zwar im Einzelfall immer ungewiss, nach breiter angelegten Untersuchungen aber umso höher, je weiter das Testament von der gesetzlichen Erbfolge abweicht. Bauer hat Recht, wenn er darin den Ausdruck derselben Moralvorstellungen sieht, die das herkömmliche gesetzliche Pflichtteilsrecht und die von Neuseeland ausgehende gerichtliche Nachlassbeteiligung der nächsten Angehörigen in Ländern des Commonwealth tragen (S. 141ff.), und der Rechtshistoriker muss ihm auch darin zustimmen, dass die USA da angelangt sind, wo einst das römische Recht mit der querela inofficiosi testamenti stand (S. 154).

 

Die rechtsvergleichenden Untersuchungen Bauers zum Pflichtteilsrecht im Commonwealth und in den USA sind, zumal wegen der Darstellung des Verlaufs der Entwicklungen, eine wesentliche Bereicherung der rechtspolitischen Diskussion in Deutschland. Kritiker des geltenden Pflichtteilsrechts, die unter Berufung auf das englische Recht und das Recht der USA seine Abschaffung oder Beschränkung fordern, berücksichtigen regelmäßig das Material, das nun durch Bauers Arbeit leicht zugänglich ist, nicht. Sie werden sich künftig daran messen lassen müssen, ob und wie sie sich damit auseinandersetzen.

 

Der zweite Hauptteil der Arbeit („Soziologische Hintergründe und Diskussion“, S. 157-255), der die Argumente für und gegen das Pflichtteilsrecht ausführlich diskutiert, ist hier nicht im Einzelnen zu besprechen. Aus rechtshistorischer Sicht ist nur festzustellen, dass der im ersten Hauptteil angekündigte Versuch, von Schmitts Begründung des Pflichtteilsrechts aufzugreifen und zu vertiefen, in einer dem Vater des BGB-Pflichtteilsrechts gerecht werdenden Weise ausgeführt ist (S. 208ff.) und dass Bauer weder verbreiteten Irrtümern über einen angeblichen Übergang von der Großfamilie zur Kleinfamilie erliegt (S. 182f.) noch unzulässige Schlüsse aus der Verlängerung der Lebenserwartung auf die Reformbedürftigkeit des Pflichtteilsrechts zieht (S. 234f.).

 

Bielefeld                                                                                             Gerhard Otte