Wandschneider, Steffen, Die Allgemeinverfügung in Rechtsdogmatik und Rechtspraxis. Entwicklung eines atypischen Rechtsinbstituts im Spannungsfeld zwischen Norm und Einzelakt (= Europäische Hochschulschriften 2, 4947). Lang, Frankfurt am Main 2009. XIV, 359 S. Besprochen von Markus Engert.
Wandschneider, Steffen, Die Allgemeinverfügung in Rechtsdogmatik und Rechtspraxis. Entwicklung eines atypischen Rechtsinstituts im Spannungsfeld zwischen Norm und Einzelakt (= Europäische Hochschulschriften 2, 4947). Lang, Frankfurt am Main 2009. XIV, 359 S. Besprochen von Markus Engert.
In seiner Rostocker Dissertation stellt Wandschneider die Entwicklung der Allgemeinverfügung seit Beginn des 19. Jahrhunderts dar sowie die derzeitige Sicht auf das Rechtsinstitut, insbesondere im Hinblick auf jüngere Tendenzen in der Rechtsprechung. Schwerpunkt der Untersuchung bildet die Auswertung der verwaltungsrechtlichen Literatur der letzten zwei Jahrhunderte.
Die noch stärker untergliederte Arbeit kann thematisch in drei Hauptabschnitte aufgeteilt werden. Sie beginnt mit der Herausbildung des Begriffs der Allgemeinverfügung im 19. Jahrhundert und behandelt die Weiterentwicklung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. In diesem Zeitraum hat sich die Allgemeinverfügung als Rechtsinstitut in der praktischen Anwendung durchgesetzt, ohne jedoch eine dogmatische Heimat zu finden, wobei die letzten zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft diesbezüglich keinen rechtlichen Fortschritt und auch keine bleibende Wirkung hinterließen. Der Verfasser arbeitet die prägende Wirkung Richard Thomas für die Begriffsbildung sowie dessen Versuch einer dogmatischen Einordnung der Allgemeinverfügung zutreffend heraus und weist auf die anfänglichen französischen Einflüsse bei der rechtlichen Ausgestaltung hin. Im zweiten Abschnitt wird die Entwicklung im Geltungsbereich des Grundgesetzes untersucht, wobei besonders die Kodifikation des allgemeinen Verwaltungsverfahrens hervorzuheben ist, welche die vorherige, sehr kontroverse Diskussion über die rechtliche Einordnung weitestgehend, aber dennoch bis in die jüngste Vergangenheit hinein nicht vollständig beendete. Eine Behandlung der Allgemeinverfügung im Bereich der Deutschen Demokraqtischen Republik findet nicht statt. Das ist einerseits verständlich, da dort die Traditionslinie der im 19. Jahrhundert begonnenen rechtsstaatlichen Verwaltungsrechtsentwicklung unterbrochen wurde, andererseits jedoch bedauerlich, weil das DDR-Verwaltungsrecht – gerade was die Handlungsformen betrifft – bisher nur in geringem Umfang erforscht ist. Im letzten, kürzeren Abschnitt werden im Anschluss an die rechtshistorische Darstellung aktuelle Anwendungsprobleme der Allgemeinverfügung auf der Basis der herrschenden Terminologie und der Legaldefinition des § 35 Satz 2 VwVfG untersucht, wobei der Schwerpunkt auf verfahrensrechtlichen Besonderheiten liegt. Sinnvoll und hilfreich ist der Abdruck von Auszügen historischer Gesetzestexte im Anhang.
Zur dogmatischen Einordnung der Allgemeinverfügung zwischen Verwaltungsakt (Einzelakt) und Rechtsverordnung (Rechtsnorm) stellt der Autor die verschiedenen Ansätze von Rechtsprechung und Literatur umfassend dar. Er zeigt auf, dass die heutige gesetzliche Zuordnung zum Verwaltungsakt über eine lange Zeit hinweg keineswegs vorhersehbar war. Insbesondere in den süddeutschen Ländern Baden und Bayern konnte im 19. Jahrhundert die heutige Handlungsform der Allgemeinverfügung in der praktischen Anwendung eher im Bereich der Polizeiverordnungen lokalisiert werden. Dabei entwickelt Wandschneider zwar selbst keine neue Theorie für die Abgrenzung, untersucht jedoch die vorhandenen Lösungswege mit kritischem Blick. Insbesondere in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sieht er die Gefahr einer dogmatischen Aufweichung der Handlungsform. Sie geht nach seiner Darstellung über die auch von ihm anerkannte und historisch nachgewiesene Funktion der Allgemeinverfügung im Sinne einer Bereitstellung praxisnaher Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung unnötig hinaus. Eine klare Zuordnung von Verwaltungsmaßnahmen ist jedoch zwingend, da sowohl das Verfahren bis zur Durchführung wie auch die Möglichkeit des Rechtsschutzes vielfach an die Handlungsform anknüpft. Zutreffend stellt er fest, dass in einer Reihe von Gerichtsentscheidungen zur Allgemeinverfügung immer wieder ergebnisorientiert argumentiert wird, statt eine systematische Einordnung vorzunehmen.
Gerade im Hinblick auf den Untertitel der Arbeit wäre eine Auseinandersetzung mit dem bis ins 19. Jahrhundert sehr gebräuchlichen Rechtsinstitut Privileg interessant gewesen, das sich wie die Allgemeinverfügung „im Spannungsfeld zwischen Norm und Einzelakt“ bewegt. Hier hätte die – bei Wandschneider unterbliebene – Einbeziehung der Untersuchung von Thorsten Lieb, Privileg und Verwaltungsakt (Gegenstand dieser Arbeit ist entgegen des umfassenderen Titels nahezu nur das Privileg) aus dem Jahr 2003 zu einer aufschlussreichen Abgrenzung führen können. Das zeigt, dass trotz der mittlerweile veröffentlichten rechtshistorischen Untersuchungen zu verwaltungsrechtlichen Handlungsformen wie etwa dem Verwaltungsakt, dem Privileg und der Allgemeinverfügung auch auf diesem Feld noch ein beachtlicher Forschungsbedarf besteht.
Das umso mehr, als auch heute noch ganz grundlegende Fragen zur Allgemeinverfügung ungeklärt sind, wie etwa der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. 9. 2009 – 1 BvR 814/09 – kurz nach Fertigstellung der Arbeit – zur Bekanntgabe von Verkehrsschildern und dem möglichen Rechtsschutz beweist.
Die hier besprochene verdienstvolle Arbeit erweitert durch ihren Umfang und die vertiefte Durchdringung des Themas die bisherige Basis rechtsgeschichtlicher Untersuchungen zu den Handlungsformen der Verwaltung erheblich, auf der dann weitere Forschungen aufbauen können.
Bietigheim-Bissingen Markus Engert