Stolleis, Michael, Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR (= Beck’sche Reihe 1924). Beck, München 2009. 172 S., Ill. Besprochen von Rosemarie Will.
Stolleis, Michael, Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR (= Beck’sche Reihe 1924). Beck, München 2009. 172 S., Ill. Besprochen von Rosemarie Will.
Nachdem Michael Stolleis in drei viel beachteten Bänden 1988, 1992 und 1999 die deutsche Geschichte des öffentlichen Rechts (Bd. 1 1600-1800, Bd. 2 1800-1914, Bd. 3 1914-1945) dargestellt hat, wird vielerorts von ihm noch ein vierter Band zum Zeitraum von 1945 bis zur Gegenwart erwartet. 2009 hat er mit dem hier vorzustellenden Buch zur Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik einen Teil davon vorgelegt. Das Buch ist sehr gut lesbar und zudem konkurrenzlos die umfassendste und informativste Darstellung der Geschichte des öffentlichen Rechts in der DDR, an der sich alle, die sich mit den Themen des öffentlichen Rechts der DDR beschäftigen, abarbeiten werden müssen.
Da die DDR bereits seit zwanzig Jahren Geschichte ist, kann sich der Autor, so scheint es, seinem Gegenstand gelassen als Historiker widmen. Hinzu kommt, dass noch nie die Hinterlassenschaften eines untergegangenen Staates Quellen historischer Forschung in einem solchen Umfang zugänglich waren, wie das bei der DDR der Fall ist. Gleichwohl bleibt auch nach ihrem Ende die Geschichtsschreibung über sie ein Wagnis, dessen sich der Autor bewusst ist. Zwar kann man wie der Autor den SED- Staat mit dem NS- Staat vergleichen und die DDR als Unrechtsstaat kennzeichnen, weil dies „zur Aufdeckung struktureller Ähnlichkeiten zwischen autoritären Systemen mit ‚geschlossenen Weltanschauungen’ und ihrem instrumentellen Verständnis von Recht“ führt. Er weiß aber auch, dass, wenn Vergleichung über eine Gleichsetzung hinaus führen soll, die Verschiedenheiten der Verglichenen benannt werden müssen (S. 39). Für einen ausgewiesenen Forscher des NS- Staates und des NS- Rechts, wie Stolleis es ist, ist dies durchaus eine Schwierigkeit, denn die bei diesem Vergleich nahe liegenden und inzwischen bekannten Ähnlichkeiten können schnell zur Vernachlässigung der Verschiedenheiten führen, ohne die dann aber das DDR- Recht, seine Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft, unkenntlich bliebe.
In der von Stolleis in einem Akademievortrag präsentierten Kurzfassung seines Buches (Berlin- Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen, Bd. 15, Berlin 2009, S. 39-55) hatte er bereits im Titel gefragt, ob die DDR ein Staat ohne Staatsrecht mit einer Verwaltung ohne Verwaltungsrecht gewesen sei. Die im Buch gegebenen Antworten sind in der Erklärung zu seinem Titel „sozialistische Gesetzlichkeit“ zusammengefasst. Hilde Benjamin hatte 1954 auf dem VI. Parteitag der SED verkündet, „sozialistische Gesetzlichkeit“ bestehe in der „Einheit von strikter Einhaltung der Gesetze und Parteilichkeit ihrer Anwendung.“ Das war, so Stolleis, „parteilicher Gesetzespositivismus, flexibel gemacht durch weit offene, politisierte Generalklauseln.“ (S. 30) Damit erklärt er die zentrale rechtstheoretische Kategorie der DDR- Rechtswissenschaft in Anlehnung an die von Bernd Rüthers 1968 entwickelte These der „unbegrenzten Auslegung“ zum Wandel des Privatrechts während der Zeit des Nationalsozialismus. Im Weiteren kombiniert er sie mit der von E. Fraenkel zum NS-Doppelstaat entwickelten Theorie (S. 39). Die Staatsmacht der DDR habe, so Stolleis, das Recht durchlässig für den jederzeit möglichen Durchgriff auf die politischen Fälle gehalten. „Insofern war die DDR ein Normenstaat, aber kein Rechtsstaat (…) Auch hier gab es (…) einen ‚Doppelstaat’ mit seiner Parallelität von regelgeleiteter Ordnung und irregulärer Maßnahme (…)“ (S. 38f.). Dies ist richtig, greift aber zu kurz, wenn die Unterschiede zwischen dem kommunistischen Gesellschaftssystem und der nationalsozialistischen Herrschaft, die vor allem in der Abschaffung des Privateigentums und dessen Folgen für das gesamte Rechtssystem liegen, außer Betracht bleiben. Zudem fragt es sich, was daraus für die Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft kommunistischer Systeme, auch im Unterschied zu denen im NS-System, folgt.
Kommunistische Systeme werden als solche dadurch charakterisiert, dass sie das Privateigentum aufheben und versuchen, zentralistisch mit Hilfe des Staates unter der sogenannten Führung durch die Partei, das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsleben zu planen und zu leiten. Leider schließt Stolleis aber gerade das öffentliche Wirtschaftsrecht als Teil des öffentlichen Rechts, in dem dies in der DDR grundsätzlich verhandelt wurde, ausdrücklich aus seiner Analyse aus (S. 1), und seine herausragenden Exponenten, U.- J. Heuer (S. 93) und K. H. Such (S. 57) werden von ihm nicht als Öffentlichrechtler begriffen. Dass wegen „der zentralen staatlichen Planung und Leitung“ bei gleichzeitiger Abwesenheit privateigentumsrechtlicher Strukturen das öffentliche Recht der DDR ganz andere Strukturen entwickelt hat, wird von Stolleis zwar wahrgenommen (S. 146f.), in seinen Konsequenzen aber nicht weiter verfolgt. Vielmehr wird die Geschichte des öffentlichen Rechts in der DDR anhand der Grundstrukturen des öffentlichen Rechts in der Bundesrepublik beschrieben, das heißt, fast ausschließlich anhand der Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechtswissenschaft.
Dies führt zu folgender Beschreibung der Geschichte des öffentlichen Rechts in der DDR: Eine politikunabhängige Staatsrechtswissenschaft habe es wegen der Unterordnung unter den Parteiwillen sowieso nicht gegeben, aber auch eine textorientierte, in praktische Folgerungen mündende wissenschaftliche Diskussion, habe nicht stattgefunden (S. 138), weil die DDR- Verfassungen von 1949 und 1968 sowie auch deren Änderungen 1974 allesamt „nicht die Qualität eines Rechtstextes, an dem sich das Staatsleben orientiert,“ hätten (S. 25).
Das ändert sich jedoch, begreift man auch Teile der rechtstheoretischen und wirtschaftsrechtlichen Diskussionen als dem öffentlichen Recht zugehörig. So sind die wiederkehrenden Diskussionen über das Recht als Maß der Politik und über den subjektiven Charakter von Grundrechten vor allem in der Rechtstheorie und über die Demokratisierung staatlicher Leitung im Wirtschaftrecht geführt worden. Natürlich hat dabei keiner der Exponenten dieser Diskussionen die DDR beseitigen wollen.
Über die Verwaltungsrechtswissenschaft ist zu lesen, dass sie sich zunächst 1957 unter K. Bönniger als Koordinator mit einem Lehrbuch zum allgemeinen Verwaltungsrecht sowohl als Teil sozialistischer Verwaltungsrechtswissenschaft als auch in der Tradition des deutschen Verwaltungsrechts konstituiert habe (S. 52f.). Aber bereits 1958 sei sie als eigenständiges Gebiet des öffentlichen Rechts von der Babelsberger Konferenz zerschlagen worden (S. 56, S. 145) und war fortan nur Organisations- und Leitungsrecht. Erst mit dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker habe sie ihre Selbständigkeit zurück gewonnen, sodass 1979 wieder ein Lehrbuch zum Verwaltungsrecht erscheinen konnte. Dies sowie die Auseinandersetzung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (S. 145-156) wird außerordentlich dicht und präzise geschildert.
Die Völkerrechtswissenschaft habe bis 1971 unter Ulbricht die Vorgaben der SED in den Polemiken des Kalten Krieges strikt befolgt. Erst mit dem Betreten der internationalen Bühne durch die DDR seit 1971 habe sie wissenschaftliches Profil gewonnen, indem sachliche und moderne Beiträge zur Völkerrechtswissenschaft entstanden seien (S. 160, S. 137). Dabei wird die Entwicklung seit 1971 viel genauer aufgezeigt als die vorgängige.
Eine weitere Konsequenz des oben beschriebenen Diktaturenvergleiches mit dem NS- Staat ist eine zu starke Fokussierung der Geschichte des öffentlichen Rechts auf die Babelsberger Konferenz von 1958 und deren theoretische Überhöhung zum Beginn der Niedergangsjurisprudenz in der DDR (S. 58, in Anlehnung an K. A. Mollnau, in: ARSP Beiheft 44, 1991, S. 236- 247). Zwar wird eine Drei- Phasen- Gliederung (1945-1952, 1952-1961 und 1961-Ende) für die Entwicklung des Rechtssystems vorgenommen, gleichwohl scheint aber die Babelsberger Konferenz die einzig wesentliche Wegmarke der Geschichte des öffentlichen Rechts in der DDR zu sein. Seit ihr seien eigene oder gar durchsetzbare Rechte für die Bürger bis zum Ende der DDR undenkbar geblieben (S. 56). Die Rechtswissenschaft sei auf ihre Aufgabe, „die interpretierende Übertragung zwischen Parteiwillen und Rechtssystem zu leisten“ (S. 58), abschließend verpflichtet worden.
Die Konferenz ist zweifellos eine wichtige Weichenstellung in der Geschichte des öffentlichen Rechts in der DDR gewesen: W. Ulbricht versuchte, die Entstalinisierung in der DDR aufzuhalten und K. Polack gelang es, seine Thesen über die Identität von Gesellschaft, Staat und Volk sowie Gesellschaft und Individuum für lange Zeit als unangefochten herrschend durchzusetzen. Vor allem aber wurde auf der Konferenz von Ulbricht ein besonders direktes System der politischen Steuerung der Rechtswissenschaft, auch im Vergleich zu dem anderer kommunistischen Staaten, installiert (Vgl. R. Dreier u. a., Rechtswissenschaft in der DDR 1949-1971, Baden-Baden 1976). Allerdings ist dieses System spätestens mit der Abdankung Ulbrichts durch ein anderes, dem anderer Länder im Warschauer Pakt vergleichbares, ersetzt worden. Die Veränderungen, die sich für die öffentlichrechtlichen Disziplinen vor allem in der Gründung des Instituts für Staats- und Rechtstheorie an der Akademie der Wissenschaften 1973 manifestiert haben, spielen bei Stolleis leider keine Rolle und führen zu der These, dass sich in der dritten Phase nach Babelsberg bzw. nach 1961 in der „Staats- und Rechtswissenschaft nichts wesentliches änderte“ (S. 61). Natürlich gab es nach Babelsberg keinen von der Wissenschaft bewirkten Systemwechsel, aber eine historische Vorstellung, nach der alles auf die Babelsberger Konferenz hinausläuft und dann nur noch unaufhaltsam dem Ende zu, ist zu nahe an den historischen Abläufen im NS- Regime orientiert. Anders als im NS-Staat gab es in der DDR-Geschichte wie auch in anderen kommunistischen Staaten einen wiederkehrenden Wechsel von Repression und Reformversuchen. Beide Tendenzen sind systembedingt. Die terroristische Tendenz bildet dabei die objektive Grundlage des Stalinismus. Chruschtschows reformistische wirtschaftspolitische Ambitionen führten in den frühen sechziger Jahren in der Sowjetunion zu den Kossyginschen Reformen, in der CSSR zu den Arbeiten von Ota Šik und dem Prager Frühling, in der DDR zum „Neuen ökonomischen System“.
In der Rechtswissenschaft der DDR entstand auf dieser Linie u. a. U. J. Heuers Arbeit „Demokratie und Recht im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (Berlin 1965; s. auch U.-J. Heuer, Demokratie im neuen ökonomischen System, in: Forum 1966, Nr. 10, S. 6ff.). Um die Reformen auf das Maß zu begrenzen, das die führende Rolle der Partei nicht gefährdete, wurde in der Sowjetunion Chruschtschow von Breschnew gestürzt. In der DDR setzte dies Honecker um. Ulbricht hatte bereits auf dem 11. ZK-Plenum 1965 dafür gesorgt, dass die über die Wirtschaft hinausgehenden Reformversuche beendet wurden. Als nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings die Stagnation der siebziger und die Agonie der achtziger Jahre einsetzte, kam die Perestroika als letzter großer Reformanlauf. Dieser erste konsequente Versuch, die Allmacht der Partei abzubauen, Autonomie und Entscheidungsfreiheit auf die Betriebe zu verlegen, Öffentlichkeit zu schaffen und Gegenmächte zuzulassen, führte zu einem Kollaps der Machtstrukturen. Sozialistische Staatsmacht und demokratische Strukturen schlossen sich gegenseitig aus. In der DDR sind diese Entwicklungen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts diskutiert worden. Deshalb verstellt die zu starke Fokussierung auf die Babelsberger Konferenz den Blick für historisch wichtige wissenschaftliche Auseinandersetzungen nach ihr.
Die bislang vorgetragenen kritischen Einwände relativieren sich jedoch allesamt durch die Darlegungen im Hauptteil des Buches (Abschnitte 6, 7, 8). Stolleis gelingt mit der Rekonstruktion des Personaltableaus, der vier juristischen Fakultäten in Berlin, Halle, Jena und Leipzig und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam-Babelsberg (leider nicht des Instituts an der Akademie der Wissenschaften) und der dazu gehörigen wissenschaftlichen Publikationen auf dem Gebiet des öffentlichen Recht ein sehr geschlossenes und überzeugendes Bild der Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR. In diesem Teil werden auch ganz selbstverständlich die Staats- und Rechtstheoretiker, z. T. auch die Wirtschaftsrechtler einbezogen. Die Geschichte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht in der DDR endet auch nicht mit der Babelsberger Konferenz, somit werden in diesem Teil auch die an dieser Geschichte beteiligten unterschiedlichen Generationen von in der DDR wirkenden Rechtswissenschaftler sichtbar. Mit dem methodischen Instrumentarium eines Rechtshistorikers arbeitet Stolleis die Geschichte des Staats- und Verwaltungsrecht der DDR personengenau in das Kontinuum der Geschichte vom öffentlichen Recht in Deutschland ein. Damit ist ihm wieder, wie bei den Vorgängerbänden, ein großer Wurf gelungen.
Berlin Rosemarie Will