Schmidt, Ulf, Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 750 S., 52 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Schmidt, Ulf, Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 750 S., 52 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als am 20. August 1947 im Nürnberger Justizpalast das US-amerikanische Militärgericht die Urteile gegen 23 Angeklagte im sogenannten Ärzteprozess, auch „Vereinigte Staaten von Amerika vs. Karl Brandt et al.“, verkündete, war es keine große Überraschung, dass sich unter den sieben zum Tode Verurteilten, die am 2. Juni 1948 durch den Strang gerichtet werden sollten, auch der Mann mit dem höchsten Rang befand: SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Professor Dr. med. Karl Brandt, ehedem Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Generalkommissar für Kampfstofffragen, Euthanasiebevollmächtigter und Begleitarzt Adolf Hitlers.
Der in Großbritannien lehrende Medizin- und Wissenschaftshistoriker Ulf Schmidt hat sich nach einer Reihe unterschiedlicher Veröffentlichungen zur Medizingeschichte des Dritten Reiches der Biographie dieser ärztlichen Führungspersönlichkeit angenommen und sie 2007 unter dem Originaltitel „Karl Brandt: The Nazi Doctor. Medicine and Power in the Third Reich“ zunächst in englischer Sprache veröffentlicht; nun liegt die deutsche Fassung vor. In insgesamt zwölf Kapiteln – einschließlich eines Prologs – arbeitet der Verfasser seine Thematik ab, wobei die beiden ersten die Entwicklung Brandts vor seiner Tätigkeit im Dunstkreis Hitlers (bis 1933/1934), die folgenden sieben seine Aktivitäten im Dienst der nationalsozialistischen Machthaber und die verbleibenden drei die Zeit nach dem Zusammenbruch dieses Systems mit Verhaftung, Prozess und Hinrichtung zur Darstellung bringen.
Brandts Lebenslauf ist hinlänglich bekannt, wie die Angaben in den biographischen Standardwerken zum Nationalsozialismus ausweisen. Der Verfasser verfolgt daher das Ziel, „die Bewertung Brandts als ‚anständiger Nazi’ in der Historiografie grundsätzlich in Frage zu stellen“, „die komplexe Kommunikations- und Entscheidungskultur an der Spitze des Naziregimes mittels der Biographie von Karl Brandt zu erklären“ und „die Entwicklung, Entartung und möglicherweise gar Inversion der modernen medizinischen Ethik in einem der fortgeschrittensten Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen“ (S. 21f.). Da sich fast alle hohen medizinischen Funktionäre des Dritten Reiches, wie Leonardo Conti (Reichsgesundheitsführer), Ernst Robert Grawitz (Reichsarzt-SS), Philipp Bouhler (Chef der Kanzlei des Führers) oder Herbert Linden (Reichsbeauftragter für die Heil- und Pflegeanstalten im Reichsministerium des Innern), durch Suizid ihrer Verantwortung entzogen hätten, liege hinsichtlich dieser Persönlichkeiten ein Quellenmangel vor, anders als bei Brandt, für den ein solcher Zustand zwar bis Mitte der dreißiger Jahre ebenfalls zu konstatieren sei, wohingegen die Folgezeit – nicht zuletzt durch das umfangreiche Prozessmaterial – recht gut belegt sei.
Ulf Schmidt spricht vom Prinzip der „distanzierten Führung“ als Konglomerat zweier Herrschaftskonzepte, der Modelle der „charismatischen Führung“ nach Max Weber und des „dem Führer Entgegenarbeiten(s)“ nach Ian Kershaw. Die Hauptmerkmale der Kommunikation in diesem System seien eine bewusste Distanz zur Tagespolitik, Mündlichkeit, gewollte Uneindeutigkeit in den Anordnungen und dem Beamtenapparat übergeordnete Sonderkommissare, die – so der Historiker Richard Overy – „zugeschriebene Macht“ genossen, die völlig vom privilegierten Zugang zu Hitler geprägt war und mit diesem Zugang stand und fiel.
Tatsächlich scheint die Persönlichkeit des jungen, am 8. Januar 1904 in Mülhausen im Elsass geborenen Arztes, dem mit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch seine Heimat abhanden gekommen war, für jenes durch Charisma bestimmte Herrschaftssystem besonders empfänglich, ja geradezu prädestiniert gewesen zu sein. Durch die Familie seiner Braut in geistige Nähe zum Nationalsozialismus geraten, führte ihn, der sich zunächst in den Dienst der Ideale eines Albert Schweitzer stellen wollte, ein Zufall – ein Verkehrsunfall, bei dem Hitlers Chefadjutant Wilhelm Brückner zu Schaden kam und durch Brandts ärztliche Fürsorge wiederhergestellt werden konnte, wofür ihm jener durch eine empfehlende Fürsprache gedankt haben soll – in die unmittelbare Nähe Adolf Hitlers und damit ins Zentrum der Macht.
In diesem engsten Kreis, wo mehrere Paladine eifersüchtig um die Gunst des „Führers“ buhlten, indem sie in erster Linie dessen Willen vorausblickend zu erahnen und dementsprechend zu handeln trachteten, konnte sich Brandt etablieren und faktisch große Machtbefugnisse erlangen, womit er federführend in den Strudel der Verbrechen des Regimes hineingezogen wurde. Die Idee, Kranke zum einen scheinbar moralisch gerechtfertigt und legal zum Zweck der Verkürzung ihrer Leiden, zum anderen aber auch aus reinen Utilitaritätsüberlegungen heraus zu töten, war, wie Schmidt ausführt, dem Medizinstudenten bereits durch die seinerzeit lebhaft diskutierten Thesen seines Lehrers, des Psychiaters Alfred Hoche, und des Juristen Karl Binding so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er seine persönliche Überzeugung von der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit dieser Maßnahme zeit seines Lebens nie mehr revidieren sollte. Das konsequente, sich der Einsicht verweigernde Verharren im Irrtum brachte Brandt – im Gegensatz zu seinem Gönner, dem wendigen und taktisch versierten Reichsminister Albert Speer, der seine Verantwortlichkeiten nach dem Fall des Nationalsozialismus geschickt zu verschleiern wusste – letztendlich um Kopf und Kragen.
Dabei hatte das Regime seinen „Euthanasie“-Organisator längst fallen lassen. Über den Mann, dem durch entsprechende Führer-Erlasse weit reichende Vollmachten zuerkannt worden waren, schreibt Schmidt: „Fast alle Anweisungen und Befehle zur Tötung behinderter Patienten gab Brandt mündlich. … Brandts beiläufige Bemerkungen, seine versteckten Andeutungen und allgemein gehaltenen Instruktionen spiegelten Hitlers Wünsche wider und kamen zu diesem Zeitpunkt (1943; W. A.) Hitlers Willen gleich. Andeutungen und Bemerkungen Brandts hatten im nationalsozialistischen Deutschland Gesetzeskraft.“ (S. 352) Ein Jahr später, im Oktober 1944, ging Karl Brandt nach einer Intrige um die Person Theodor Morells seiner Funktion als Begleitarzt Hitlers verlustig, verlor damit den Zugang zum innersten Kreis der Macht und sah sich unverzüglich der Willkür seiner parteiinternen Gegner ausgeliefert, die ihm in den Wirren der Endphase des Krieges noch, allerdings vergeblich, nach dem Leben trachteten – ein von Hitler durch Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls bestätigtes Standgerichtsurteil gegen Brandt soll angeblich bereits vorgelegen haben.
In seinem Nachkriegsprozess vor dem US-Militärtribunal, juristisch wie alle Nürnberger Nachfolgeprozesse auf dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 fußend, versuchte Brandt nach anfänglichem Leugnen schließlich unter der Last der Vorwürfe, „sich konsequent auf die hohe Ebene des Ideals zurück(zuziehen)“ und es den Ermittlern zu erschweren, „ihn auf seine Verantwortung festzulegen“, sei er doch „niemals für die eigentliche Organisation und Durchführung (rechtswidriger Menschenversuche und Tötungen; W. A.) verantwortlich gewesen.“ (S. 542) Ulf Schmidt: „Brandt stellte die Ereignisse so dar, wie er sie sich gewünscht hätte, und sich selbst, wie er gern gewesen wäre. Daraus schöpfte er das Selbstvertrauen und die mentale Kraft, sich dem Prozess zu stellen, und ließ zugleich diejenigen, die er liebte, in dem Glauben, er sei äußeren Einflüssen und einer Machtpolitik zum Opfer gefallen.“ (S. 553) Davon unbeirrt hielten seine Ankläger fest, dass „jedes medizinische Experiment an einer Person ohne deren ausdrückliche Zustimmung … ein Verbrechen dar(stellt). Wenn es mit dem Tod endet, gilt dieses Verbrechen als Mord“ (S. 586). Weil Karl Brandt, wie das endgültige Urteil ausführt, „verantwortlich war, mithalf, Vorschub leistete, zustimmte zu und verbunden war mit Plänen und Unternehmungen, welche die Durchführung medizinischer Experimente an Nichtdeutschen, ohne Zustimmung der Betroffenen, mit einschloss(en), und anderen Greueltaten, in deren Verlauf Morde, Brutalitäten, Grausamkeiten, Folterungen und andere unmenschliche Taten begangen wurden“ (S. 593), wurde der Angeklagte weniger auf der Grundlage seiner Taten als vielmehr auf der seiner Unterlassungen - seiner nicht ausreichend wahrgenommenen Fürsorge- und Aufsichtspflichten – zum Tod verurteilt; vor der Vollstreckung konnten ihn auch zahlreiche Eingaben aus einflussreichen medizinischen und kirchlichen Kreisen in einem Klima zunehmenden gesellschaftlichen Drucks nicht bewahren.
Neben der ausführlichen Schilderung des Prozessgeschehens und der Strategien von Anklage und Verteidigung besteht der Vorzug dieses Buches, abseits der interessanten biographischen und medizinhistorischen Erkenntnisse, vor allem im Herausarbeiten der pseudofeudalen, auf persönlichen Treuebeziehungen fußenden Kommunikations- und Herrschaftsstruktur, die aus dem nationalsozialistischen Verständnis der ungeteilten Führungsverantwortlichkeit hergeleitet wurde und die es vor allem Hitler ermöglichte, mittels „zugeschriebener Macht“ seine Untergebenen an seine Person zu ketten und sie nach Gutdünken zu manipulieren, ohne durch rechtlich bindende Normen eingeschränkt zu sein. Damit liegt ein weiteres bedeutsames empirisches Indiz für die geschichtswissenschaftliche These von der Rolle Hitlers als einem „starken“ Diktator vor. In seiner Unbestimmtheit und gewollten Beliebigkeit ist dieses System darüber hinaus mit der Einführung der Kategorie des „gesunden Volksempfindens“ in der Rechtspflege des Dritten Reiches durchaus vergleichbar.
Fast 130 Druckseiten umfasst der Anhang des mit kleineren Mängeln (unter anderem ein falsch gesetztes, den Sinn wesentlich veränderndes Komma auf S. 497) behafteten Bandes, die Hälfte davon nehmen die für den Nutzer unpraktischen – weil ständiges Vor- und Zurückblättern erfordernden – Endnoten ein. Während man die Beigabe eines Sachregisters sehr begrüßen wird, ist auf der anderen Seite nicht ganz verständlich, dass man zwar eine zufriedenstellende Bibliographie und auch einen Bildquellennachweis vorfindet, aber die viel wichtigere Zusammenstellung der benutzten Archivalien vergeblich sucht.
Kapfenberg Werner Augustinovic