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Schieber, Sigrid, Normdurchsetzung im frühneuzeitlichen Wetzlar. Herrschaftspraxis zwischen Rat, Bürgerschaft und Reichskammergericht (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft). Klostermann, Frankfurt am Main 2008. IX, 425 S. Besprochen von Bernd Schildt.

Schieber, Sigrid, Normdurchsetzung im frühneuzeitlichen Wetzlar. Herrschaftspraxis zwischen Rat, Bürgerschaft und Reichskammergericht (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft). Klostermann, Frankfurt am Main 2008. IX, 425 S. Besprochen von Bernd Schildt.

 

Ausgehend von der Prämisse, dass die Umsetzung der von Obrigkeiten erlassenen Verordnungen eine Grundfrage frühneuzeitlicher Staatlichkeit gewesen ist, untersucht die Verfasserin die Problematik der Normdurchsetzung in einem weiten und komplexen Sinn, gefragt wird nach dem „Wirksam-Werden“ obrigkeitlicher Verordnungen. Im Einzelnen geht es dabei um eine Reihe von Fragen, denen in der Arbeit an Hand einer Vielzahl von Einzelbeispielen nachgegangen wird: Wer nahm Einfluss auf die erstellten Normen, wie wurden sie veröffentlicht und wie ihre Anwendung gewährleistet? Welche Interessen standen sowohl hinter Erlass als auch Durchsetzung der Normen? Daraus folgt für die Autorin die grundlegende Überlegung, ob und inwieweit die eher moderne Vorstellung von einer normgebenden Obrigkeit überhaupt der historischen Realität in einer frühneuzeitlichen Reichsstadt entsprach und ob der Rat sich und seine Normgebung im Sinne einer sozialdisziplinierenden Obrigkeit verstand. Ferner inwieweit die Bürgerschaft selbst einerseits ein Regelungsbedürfnis verspürte und andererseits die Normsetzung auch inhaltlich beeinflusst haben könnte.

 

Mit der Wahl Wetzlars als Untersuchungsgegenstand hat sich die Autorin für einen überschaubar strukturierten Herrschaftsbereich entschieden, für den bis zum Ende des Ancien Regimes mehr als 400 Verordnungen überwiegend handschriftlich überliefert sind. Eine Besonderheit ergab sich aus der Wahl Wetzlars insoweit, als neben dem Spannungsfeld zwischen reichsstädtischem Rat (als Obrigkeit) und Bürgerschaft mit dem Kameralen eine eigene kulturell-soziale und rechtlich erheblich privilegierte Gruppe mit spezifischen Interessen existierte. Schieber geht dabei in vier Schritten vor. Zunächst werden die historischen Rahmenbedingungen für den Untersuchungszeitraum (vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis 1810) dargestellt. Dazu bietet Verfasserin im zweiten Kapitel eine Kurzfassung der Wetzlarer Stadtgeschichte mit einer an dieser Stelle nicht immer erforderlichen, ansonsten aber die Arbeit insgesamt sehr belebenden, weil aus den Quellen gearbeiteten, Detailtreue.

 

In einem zweiten Schritt werden die am Normsetzungs- und Normanwendungsprozess beteiligten Gruppen – Rat und organisierte Bürgerschaft, hier besonders das Gremium der Zwölfer – thematisiert. Dieser Problematik sind das dritte Kapitel – Die Obrigkeit im reichsstädtischen Wetzlar – und das vierte Kapitel – Die Bürgerschaft im reichsstädtischen Wetzlar – gewidmet. Hier werden die beiden Grundelemente der Wetzlarer Ratsverfassung umfassend und wieder nah an den Quellen thematisiert. Insbesondere die Überlegungen zu den bürgerschaftlichen Verfassungsstrukturen sind stark durch die sozialhistorische Sichtweise der Autorin geprägt. Die Bürgerschaft und deren Organ, die Zwölfer, werden in einem gewissen Gegensatz zum gewählten obrigkeitlichen Rat als die eigentlichen Wahrer der Interessen des Gemeinwesens charakterisiert (S. 123).

 

Im umfangreichsten fünften Kapitel – Normsetzung und Normdurchsetzung in der Reichsstadt – wird das Verordnungswesen Wetzlars dann im einzelnen und nach Themenbereichen gegliedert vorgestellt. Bereits ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, dass die Verordnungstätigkeit des Rates sich de facto auf den Bereich der „guten policey“ beschränkte. Einerseits besticht die Darlegung auch hier durch ihre große Nähe zu den Quellen. Andererseits stößt die Verfasserin bei zahlreichen rechtshistorischen Fragestellungen offensichtlich inhaltlich an ihre Grenzen. Beispielsweise wird der Begriff der Kodifikation in einem unzulässigen Kontext mit der gänzlich anders gearteten Praxis der frühneuzeitlichen Polizeigesetzgebung gestellt (S. 143f.). Derartige Defizite können auch kaum verwundern, denn ein Blick in das Literaturverzeichnis zeigt, dass das rechtshistorische Schrifttum insbesondere zur Verfassungsgeschichte so gut wie gar nicht reflektiert wird; beispielsweise sucht man die Namen Kroeschell oder Willoweit dort vergebens.

 

Am Beispiel des Bürgerrechts und Beisassenrechts bzw. Judenrechts wird deutlich gemacht, dass die unterschiedliche Interessenlage von städtischem Rat als Obrigkeit und der durch die Zwölfer repräsentierten Bürgerschaft erheblichen Einfluss auf die Normgebung in Wetzlar und deren Durchsetzung gehabt haben (S. 155-169). Anhand zahlreicher Quellenbelege wird nachgewiesen, dass gerade die Normdurchsetzung ein grundlegendes und immer wiederkehrendes Problem gewesen ist. Bisweilen resultierte dies auch aus einer halbherzigen Umsetzung der eigenen Verordnungen durch den Rat. Die Verfasserin thematisiert im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Feldfrevel die wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe dieses zunächst überraschenden Befundes. Deutlich wird, dass im konkreten Fall, hauptsächlich der Viehhaltung, entweder mangelndes Interesse des Rates insgesamt oder aber die entgegenstehenden Interessen aller oder einzelner Ratsmitglieder eine wirksame Normdurchsetzung verhindert haben.

 

Aus dem Umstand, dass Wetzlar seit 1689 auch Sitz des Reichskammergerichts gewesen war, erwuchs zum einen ein zusätzliches Konfliktpotential und zum anderen erscheint das Gericht als ein zusätzliches Element in der Machtbalance zwischen Rat und Bürgerschaft. So gelang es einerseits den Kameralen in der Frage der Verleihung des Bürgerrechts an ihre erwachsenen Kinder ihre an sich unzweifelhaften Ansprüche durchzusetzen; andererseits nutzte die Bürgerschaft das Reichskammergericht aber auch im Rahmen innerstädtischer Konflikte mit dem Rat zur Durchsetzung ihrer Interessen im Klagewege.

 

Am Ende des Kapitels kommt die Verfasserin zu dem schlüssigen Ergebnis, dass der Rat durchaus über Möglichkeiten verfügte, die von ihm erlassenen Verordnungen auch durchzusetzen. Allerdings war er dabei in weiten Teilen nicht nur vom Konsens, sondern häufig sogar von der aktiven Mitwirkung der zünftig organisierten Bürgerschaft abhängig. Das reichte zum Teil soweit, dass Normverstöße nur dann geahndet werden konnten, wenn die entsprechenden Übertretungen durch die Bürger angezeigt wurden. Derartige Anzeigen von Normübertretungen durch Vertreter der Bürgerschaft waren aber wiederum nur dann zu erwarten, wenn die entsprechende Normgebung von den Bürgern grundsätzlich akzeptiert worden ist. Grundsätzlich wird erkennbar, dass die Ratsherren als Teil des zünftigen Stadtbürgertums, durch die gleichen Wertvorstellungen geprägt, im Zusammenwirken mit der Bürgerschaft und den Zwölfern eine insgesamt doch recht effektive Normdurchsetzung verwirklichen konnten. Interessenkonflikte im Einzelnen vermochten diese grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Rat und Bürgerschaft nicht in Frage zu stellen.

 

Die Bürgerschaft wirkte aber nicht nur bei der Normdurchsetzung, sondern in begrenztem Umfang auch bei der Normsetzung mit. Zahlreiche Verordnungen erfolgten auf Anregung zum Teil sogar Druck der Zwölfer und der Bürgerschaft.

 

Die beiden letzten Kapitel behandeln den kurzen Zeitraum von der Mediatisierung Wetzlars im Jahre 1802 bis zur Eingliederung in das Großherzogtum Frankfurt (1810). Mit der episodenhaften Herrschaft des Mainzer Erzbischofs und Kurfürsten Karl Theodor von Dalberg endete die reichsstädtische Phase Wetzlars; was sich sowohl in einer generellen Umstrukturierung der Verwaltung zeigte, aber auch seinen Niederschlag in der Teilhabe der Bürgerschaft an der Stadtherrschaft fand. Mit Blick auf das behandelte Verordnungswesen waren die Zünfte als nunmehr ziemlich machtlose Vertreter der Stadtbürger eher Bittsteller; gegen deren Willen allerdings nur schwerlich Verordnungen durchzusetzen waren. Bemerkenswert ist insbesondere der Umfang der Verordnungstätigkeit des Dalbergischen Staates; im Zeitraum von 1803 bis 1810 lassen sich immerhin 137 Verordnungen nachweisen. Entgegen der bisherigen Praxis erfolgte die Veröffentlichung und Verbreitung der Verordnungen nunmehr im „Wetzlarer Intelligenzblatt“. Trotz des Versuches, durch konsequente Bestrafung die Nichteinhaltung obrigkeitlicher Verordnungen zu sanktionieren, blieben Akzeptanz oder sogar Konsens der Bürgerschaft mit der obrigkeitlichen Normgebung weiterhin wichtig.

 

Der Leser legt die Arbeit von Sigrid Schieber in dem Bewusstsein aus der Hand, durch zahlreiche Einzelbeispiele gut und detailgetreu über das konfliktreiche Ringen zwischen dem obrigkeitlichen Rat und der Bürgerschaft der Reichsstadt Wetzlar und vor allem auch über dessen wirtschaftliche und soziale Hintergründe informiert zu sein. Gleichwohl wird der rechtshistorisch geschulte Leser manche Äußerung der Autorin stirnrunzelnd zur Kenntnis nehmen; so z. B. wenn das Fehlen einer Kodifikation als allgemeiner Verwaltungsmangel charakterisiert wird (S. 391).

 

Bochum                                                                                             Bernd Schildt