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Pohlkamp, Matthias, Die Entstehung des modernen Wucherrechts und die Wucherrechtsprechung des Reichsgerichts zwischen 1880 und 1933 (= Rechtshistorische Reihe 390). Lang, Frankfurt am Main 2009. 303 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

Pohlkamp, Matthias, Die Entstehung des modernen Wucherrechts und die Wucherrechtsprechung des Reichsgerichts zwischen 1880 und 1933 (= Rechtshistorische Reihe 390). Lang, Frankfurt am Main 2009. 303 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

 

Die bei Schermaier, damals in Münster, angefertigte Dissertation berichtet in ihrem ersten Teil über die Entstehung des modernen Wucherrechts (S. 29-106) und liefert in den zwei weiteren Teilen eine Analyse der Strafrechtsprechung (107-192) und sodann der Zivilrechtsprechung vom Inkrafttreten des ersten Wuchergesetzes des Deutschen Reiches, 1880, bis zum Ende der Weimarer Republik (193-272). 1933 bildet den Endpunkt, weil die einsetzende nationalsozialistische Diktatur völlig neue Fragen hervorrufen würde.

 

Es geht Pohlkamp um „die Frage nach einem möglichen Rechtsprechungswandel von der Durchsetzung des individualethisch begründeten Schutzauftrages des Vorkriegswucherrechts hin zur stärkeren Betonung sozialethischer Wertungen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges“. Seiner Arbeit ist die folgende Reihe wichtiger Ergebnisse zu entnehmen.

 

Hauptergebnisse

Die 1880 und 1893 ergangenen Strafrechtsnormen gegen Wucher wurden nach 1914 kaum mehr angewandt. Denn mit Kriegsbeginn erhielten die Höchstpreisverordnung von 1914 und die Preistreibereiverordnung von 1915 nebst Novellierungen die Hauptbedeutung. Die von Pohlkamp wiedergegebenen Urteile zeigen, dass das Reichsgericht auch in der Vorkriegszeit die Strafvorschriften gegen Wucher meistens weit ausgelegt hat, indem es sich auf die Gesetzesmaterialien und den Normzweck berief oder die Schwächesituation des Benachteiligten betonte oder wirtschaftliche Erwägungen erheblicher fand als juristische Konstruktionen der betroffenen Geschäfte. Daher wies die Rechtsprechung zu den neuen Wuchergesetzen nach 1914 trotz der Kriegsrhetorik „beträchtliche Parallelen zur Vorkriegszeit“ auf. Nur in der Zeit der schlimmsten Wirtschaftskrise der Kriegs- und Nachkriegsjahre habe das Reichsgericht die Wuchernormen noch weiter ausgelegt.

 

Im Zivilrecht blieb § 138 BGB die sedes materiae, weil die Kriegsgesetze in diesem Bereich keine zivilrechtlichen Sanktionen anordneten und unerklärterweise nicht als Verbotsgesetze galten. Das Reichsgericht habe bereits vor 1914 § 138 BGB in schuldnerfreundlicher Weise angewandt, so dass es in dieser Hinsicht nach 1914 seine Rechtsprechung nicht wesentlich geändert habe. Die Instrumente, deren sich das Reichsgericht schon in der Friedenszeit bedient hatte, bestanden bei der Anwendung des § 138 Abs. 2 BGB in erweiternder Auslegung der Tatbestandsmerkmale, welche die Schwächesituation des Benachteiligten umschrieben, und bisweilen in der Vermutung, dass eine erhebliche Ungleichheit der Leistungen auf einer Schwächesituation des Benachteiligten beruhe. Kam § 138 Abs. 2 nicht in Betracht, so wurde § 138 Abs. 1 angenommen, wenn außer dem erheblichen Ungleichgewicht zwischen den beiden Leistungen weitere Umstände die Verwerflichkeit des Handelns des anderen Teils begründeten.

 

Nur in sehr wenigen strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Fällen lehnte das Reichsgericht trotz einem erheblichen Missverhältnis der Leistungen die Verurteilung ab.

 

1. Teil. „Die Entstehung des modernen Wucherrechts“

Der erste Teil beginnt mit einem Flug durch die Jahrhunderte, referiert sodann unter dem Gesichtspunkt des Individualwuchers die 1845 einsetzende moderne Wuchergesetzgebung bis hin zu § 138 Absatz 2 BGB (in der Fassung von 1896) und endet mit den Kriegs- und Nachkriegsgesetzen zwischen 1914 und 1923.

 

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt anfangs im Kreditwucher. Ob wirklich in ältesten Zeiten ein zinsloses Fruchtdarlehen praktiziert wurde, ob es nicht in dieser paradiesischen Zeit, neben der nachbarlichen Hilfe, schon habsüchtiges Ausnutzen der eigenen Stärke oder Fabrikation für den Markt und Geschäftsfinanzierungen mit Partizipation am Gewinn gegeben hat – wer weiß es? Jedenfalls mussten Gott und die Propheten schon zur Zeit des Alten Testaments gegen Wucher einschreiten. In Rom habe „die starke Betonung der Privatautonomie“ einen umfassenden Wucherschutz verhindert. Das mittelalterliche Zinsverbot wird referiert, nicht problematisiert. Die vielen Ausnahmen und Einschränkungen des Zinsverbots werden gestreift, über die Praxis erfährt man nichts. Das gemeine Recht habe Zinsmaxima eingeführt und deren Überschreiten als Wucher bekämpft. Auf welche Weise der Wucher bekämpft wurde, wird nicht gesagt. Kurz: zu der älteren Geschichte bleibt man auf die bekannten älteren Schriften, auf die neuere Arbeit von Siems[1] über Handel und Wucher und auf die ausgedehnte Literatur zu den Geldgeschäften der Juden[2] angewiesen.

 

In Preußen hatten die Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts an den Zinsbeschränkungen nichts geändert. In anderen Einzelstaaten ergingen ganz unterschiedliche Wuchervorschriften. Das moderne Wucherrecht (35-64) wurde 1845 im badischen Strafgesetzbuch vorgezeichnet, bis heute charakterisiert durch die drei Umstände des objektiven Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung, der Not- oder Schwächesituation des Schuldners und der Ausbeutung dieser Situation durch den Gläubiger.

 

Die radikale Beseitigung der Zinsbeschränkungen erfolgte im Zuge der Liberalisierungsgesetze des Norddeutschen Bundes 1867, vorbereitet durch ein Gutachten Goldschmidts und dem ihm einstimmig folgenden Deutschen Juristentag.

 

Die meisten Ökonomen, Politiker und Juristen hatten vorher die jetzt frei gelassene Aggressivität der Geldverleiher unterschätzt und das Funktionieren des nicht durch das Recht eingehegten Marktes überschätzt. Die Wucherer brachen über das Land hinein wie die ägyptischen Plagen. Über die Rechtsprechung in dieser Zeit wird nur mitgeteilt, dass die Gerichte jetzt zur Durchsetzung von Wucherforderungen in Anspruch genommen werden konnten. Wahrscheinlich fanden sich die Richter nicht legitimiert, etwa wegen dolus der Gläubiger die Darlehensverträge für nichtig zu erklären.

 

Die Presse rief nach Gegenmaßnahmen und die Parlamente mussten eingreifen. Das Resultat ist das strafrechtliche Wuchergesetz von 1880, novelliert 1893, dann, nochmals erweitert, in die Zivilrechtskodifikation, § 138 Absatz 2 BGB übernommen (43-64). Hier wäre ein Blick auf Gründerkrach (1873), große Depression und die Abwendung vom Liberalismus hin zu einer Wirtschaftspolitik der Staatsintervention (1878) erhellend gewesen, auf eine Periode, in der unter anderem das Aktienrecht reformiert, die Gewerbeordnung ständig novelliert und die Sozialversicherung eingeführt wurde.

 

Das Wuchergesetz von 1880 droht Gefängnis, Geldstrafe und Ehrverlust an. Außerdem werden die betroffenen Verträge als „ungültig“ erklärt.

 

Als sich die Beschränkung auf Darlehen im engen Sinne als unzureichend erwies, wurde 1893 die Strafbarkeit auf Fälle erstreckt, in denen der Täter entweder „mit Bezug auf ein Darlehen … oder auf ein anderes zweiseitiges Rechtsgeschäft, welches denselben wirtschaftlichen Zwecken dienen soll,“ Vermögensvorteile in Anspruch genommen hatte (§ 302 a RStGB), oder in denen er „mit Bezug auf ein Rechtsgeschäft anderer Art … gewerbs- oder gewohnheitsmäßig“ die Notlage oder Schwäche eines anderen ausbeugebeutet hatte.

 

Die Einzelheiten der Gesetzgebungsvorgänge und Gesetzgebungsmaterialien werden in der Arbeit ausführlich referiert (43-61). Keine Erklärung gibt es dafür, dass die SPD anscheinend 1880 und 1893 zu dieser Frage noch nicht zu hören ist, sondern erst später zu § 138 Absatz 2 BGB.

 

Nachdem die Maßnahmen gegen Wucher früher hauptsächlich im Strafrecht angesiedelt und nur zusätzlich mit einer zivilrechtlichen Sanktion verknüpft waren, erfolgte 1896 auch eine eigenständige Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch. Der Tatbestand des § 138 Absatz 2 BGB ist umfassender als der damalige Sachwucherparagraph, da das BGB aus § 302 e RStGB für „ein Rechtsgeschäft anderer Art“ nicht das zusätzliche Tabestandsmerkmal der Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit übernommen hat. Mit § 138 Abs. 2 BGB wurde 1896 die erst 1845 verstärkt einsetzende Entwicklung hin zu einer Generalklausel abgeschlossen. Eine modern-dogmatische Erörterung des Verhältnisses von § 138 Abs. 2 zu § 138 Abs.1 wird nicht für erforderlich gehalten.

 

Aus den Diskussionen und Materialien zu den beiden Wuchergesetzen seien jetzt hervorgehoben: der Hinweis auf das Volksbewusstsein, die Parallelität zwischen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Sanktion sowie die Alternative zwischen Spezialgesetz (Wucher) und Kodifikation. „Die „Vertragsfreiheit“ sei oftmals nur ein rein formales Recht, jedenfalls finde sie ihre Grenzen in den guten Sitten und der öffentlichen Ordnung. Das strafrechtliche Bestimmtheitserfordernis wurde mit Rücksicht auf die Eigenart des Wuchers und die außerordentliche Verschiedenheit der Fälle beiseitegeschoben. Stattdessen werde - so hieß es im Bericht der Reichstagskommission 1892/93 - der Richter in die Lage versetzt, jeden Fall in seiner individuellen Besonderheit nach dem Sinn des Gesetzes zu beurteilen.

 

Dementsprechend fand das Reichsgericht 1881, dass das Gesetz in Beachtung der mannigfachen Gestaltung des Verkehrslebens den Richter auf eine entsprechende Berücksichtigung des Einzelfalles verweise.

 

Pohlkamp meint, die Gesetzgebung der Vorkriegszeit habe lediglich ausnahmsweise auf spezifische individuelle Schwächen des einzelnen reagieren wollen, aber die höchstrichterliche Rechtsprechung habe in den Wuchervorschriften im Gegensatz zur eigentlichen Konzeption des Gesetzgebers keineswegs ein nur selten anzuwendendes Ausnahmerecht mit individualethischem Schutzzweck gesehen.

 

Pohlkamp behandelt sodann ausführlich „Nach 1914: Aufkommen von Preistreiberei bzw. Sozialwucher“ (64-103). „Sozialwucher“ sei die „Ausbeutung der Allgemeinheit, die sich als solche in wirtschaftlicher Bedrängnis befand“. Sozialwucher könne auch dann vorliegen, wenn sich keine der beiden Vertragsparteien in individueller Bedrängnis befunden hatte. Der Begriff und die Unterscheidung vom Individualwucher hätten sich etabliert, obwohl „diese terminologische Unterscheidung“ von zweifelhaftem Wert und der Ausdruck „sozial“ wenig aussagekräftig sei. Die Herkunft des Begriffs wird nicht erhellt.

 

Zu den Maßnahmen gegen Sozialwucher rechnet Pohlkamp die Gesetze seit Caesar oder Augustus gegen Manipulationen des Getreidemarktes, Diokletians Maximaltarif und sein Reskript gegen die laesio enormis. Die laesio enormis sei zuerst im kanonischen Recht und sodann in Stadtrechten und Landrechten übernommen worden. Nach richtiger Interpretation sei außer dem objektiven Leistungsmissverhältnis in subjektiver Hinsicht erforderlich gewesen, dass die benachteiligte Partei nicht gewusst habe, dass sie eine Werteinbuße erlitt. Die ganz unterschiedlichen Regelungen der laesio enormis in den drei Naturrechtskodifikationen werden erwähnt. Der Dresdner Entwurf und das BGB verzichteten auf das Rechtsinstitut. Das Reichsgericht wandte sich 1906 gegen eine Wiederbelebung mittels § 138 Absatz 1 BGB.

 

Preistaxen für Waren und Dienstleistungen[3], sicherlich auch schon vor dem 17. und 18. Jahrhundert üblich, wurden angeblich auf kirchliches Drängen eingeführt. Von den bürgerlichen oder herrschaftlichen Wirtschaftsvorstellungen in den Städten und Territorien ist nicht die Rede. Die Höchst- und Mindestpreise wurden zum größten Teil am Anfang des 19. Jahrhunderts aufgehoben, nach den Ausnahmen wird nicht gefragt.

 

Pohlkamp leitet das Gesetz betreffend Höchstpreise vom 4. August 1914 ein, ohne auf die Kriegswirtschaft und die Art und Weise der Festsetzung der Höchstpreise einzugehen. Er sieht die neuen Höchstpreise als Wiederkehr der alten, ein Jahrhundert zuvor beseitigten, Warentaxen an. Die Mängel eines, auch durch weitere Bestimmungen flankierten, Höchstpreissystems ließen sich aber durch noch so heftige Änderungen nicht beheben und wurden bald von der Regierung erkannt.

 

Denn spätestens 1915 begann mit der „Bekanntmachung gegen übermäßige Preissteigerung“ „eine neue Epoche der Wuchergesetzgebung“. Pohlkamp berichtet über die zeitlich folgenden Verordnungen, die Übernahme der Gesetzgebung in die Weimarer Republik, den „Höhepunkt“ durch die Preistreibereiverordnung II von 1923 und schießlich das Aufhebungsgesetz von 1926, über die Wucherbestimmung in Artikel 152 Absatz 2 der Weimarer Reichsverfassung und über die Bestimmung gegen den Mietwucher in § 49a des Mieterschutzgesetzes.

 

Die Preissteigerungsverordnung stellt nicht auf die besondere Not- oder Schwächelage des Benachteiligten und nicht auf die Ausbeutung einer solchen individuellen Situation ab, auch nicht auf die Ungleichheit zwischen Leistung und Gegenleistung, sondern allein auf den übermäßigen Gewinn des anderen Teils. Zweck ist nicht mehr der Schutz eines bestimmten Individuums, sondern die Abwendung von Schäden der Allgemeinheit. Deswegen lässt sich dieser ganze Komplex als Sozialwucher bezeichnen.

 

2. Teil. Strafrechtsprechung

Pohlkamp will wissen, in welcher Weise das Reichsgericht den Wandel der Wuchergesetzgebung von einem individualethisch begründeten Schutzauftrag in der Vorkriegszeit hin zu „sozialethischen Wertungen“ nach 1914 nachvollzogen habe.

 

Er analysiert zuerst die zumeist in der amtlichen Sammlung veröffentlichten strafrechtlichen Urteile aus der Zeit von 1880 bis 1933 (107-191), bestimmt zu seinem „Ansatz“ den „Vergleich von Individual- und Sozialwucher“ und erörtert als vier Fallgruppen: Zweck der Normen, spezifisch individualwucherrechtliche, bzw. sozialwucherrechtliche Urteile, Gegenüberstellung „rechtlicher“ und „wirtschaftlicher“ Erwägungen und sachlich zurückhaltende Gesetzesanwendung.

 

Als erste behandelt er die Individualwucherrechtsprechung nach den Gesetzen von 1880 und 1893 bis zum Kriegsbeginn 1914 (107-141). Unter dem Gesichtspunkt des Schutzzwecks der Norm habe das Reichsgericht das neue Wucherrecht im Sinne seines individualethisch motivierten Ausnahmecharakters angewendet und den gesetzlichen Tatbestand nicht extensiv ausgelegt. Das Reichsgericht habe sich um eine möglichst enge Anlehnung an die Vorgaben des Gesetzgebers bemüht und die Wiedergabe der Gesetzesmaterialien von 1880 und 1893 nicht selten zum Hauptinhalt der Urteilsgründe gemacht. Meines Erachtens wird das Reichsgericht auf diese Weise kurz nach dem Erlass der Wuchergesetze die Akzeptanz seiner Rechtsprechung angestrebt haben. Die Analyse „spezifisch individualwucherrechtlicher“ Urteile ergebe, dass das Reichsgericht sich nicht um eine besonders zurückhaltende Anwendung des Gesetzes bemüht habe. Es habe im Gegensatz zur eigentlichen Konzeption des Gesetzgebers das Wucherrecht nicht als ein selten anzuwendendes Ausnahmegesetz mit individualethischem Schutzbereich angesehen. Dieser Eindruck habe sich bei der Prüfung, ob die Rechtsprechung die gesetzlichen Vorgaben unter Bezugnahme auf „wirtschaftliche“ Erwägungen „modifiziert“ hat, bestätigt. Es habe sich beachtliche Freiheiten herausgenommen und unter Einfließenlassen eigener Wertungen das Wucherrecht sehr großzügig zu Gunsten der unterlegenen Partei angewandt. Doch habe das Reichsgericht in einem nicht unerheblichen Bereich im Sinne einer möglichst weitreichenden Vertragsfreiheit nur ausnahmsweise in die Rechtsbeziehungen der Beteiligten eingegriffen. Nach Pohlkamps Erkenntnis hat das Reichsgericht die gesetzgeberische Konzeption des Vorkriegswucherrechts zwar nicht vorbehaltlos akzeptiert, sich jedoch auch nicht eindeutig in Widerspruch zu ihr gesetzt.

 

Für die „Sozialwucherrechtsprechung seit Kriegsbeginn“ (141-189) fragt Pohlkamp danach, ob das Reichsgericht zu Gunsten der Gesamtheit in den Wirtschaftsverkehr eingegriffen hat, so dass es zu einem „Gleichlauf zwischen Gesetzgebung und höchstrichterlicher Rechtsprechung“ kommen konnte. Er sieht die Tendenz zur „Stärkung der Position des Schutzobjekts“ und erkennt gleichzeitig Kontinuitäten in der Rechtsprechung. Das Reichsgericht habe in beträchtlichem Maße eigene Wertungen in die Urteile einfließen lassen und die Vorschriften über ihren eigentlichen Zweck hinaus auf mannigfaltige Geschäfte erstreckt. Pohlkamp entdeckt aber auch eine beträchtliche Zahl von Urteilen oder Urteilsbegründungen, die er einer „sachlich-zurückhaltenden Gesetzesanwendung“ zuschreibt, namentlich bei der Definition des Merkmals des „übermäßigen Gewinns“ und bei der Behandlung der Inflation. Im Ergebnis habe die Rechtsprechung weder pauschal die gesetzgeberischen Vorgaben des Sozialwucherrechts akzeptiert, noch habe es ihnen widersprochen.

 

Das „Gesamtergebnis zur Strafrechtsprechung zwischen 1880 und 1933“ zeige beträchtliche Parallelen zwischen der Rechtsprechung der Vorkriegszeit und derjenigen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Rechtsprechung habe sich trotz der Kriegsrhetorik nicht wesentlich geändert. Das Reichsgericht habe stets eine Abwägung zwischen der Vertragsfreiheit und dem Schutz des Schwächeren  - sei es das Individuum, sei es die Allgemeinheit -  vorgenommen. Nur in den Jahren der schwersten Wirtschaftskrise habe das Reichsgericht die gesamtwirtschaftlichen Belange über die Grenzen der sozialwucherrechtlichen Ermächtigungen hinaus in den Mittelpunkt gestellt.

 

3. Teil. Zivilrechtsprechung

Für die Zeit vom ersten Wuchergesetz bis zu den Kriegsgesetzen will Pohlkamp herausfinden, ob das Reichsgericht „im Einklang mit der Konzeption des Gesetzgebers lediglich ausnahmsweise den Individualwuchertatbestand des § 138 Absatz 2 BGB anwandte“ und sich „etwaiger Eingriffe in die marktwirtschaftliche Ordnung“ größtenteils enthalten hat, und außerdem ob das Reichsgericht auch schon vor 1914 aus „ethischen Erwägungen“ auf § 138 Absatz 1 ausgewichen ist. Dabei sieht Pohlkamp offensichtlich das Hauptproblem in denjenigen Fällen, in denen zwar ein „auffälliges Missverhältnis“ zwischen den beiderseitigen Leistungen bestand, in denen aber die in § 138 Abs. 2 vorausgesetzte Schwächesituation entweder nicht vorlag oder diese von dem anderen Teil nicht ausgebeutet wurde oder nicht erwiesen war.

 

Die Lösungen des Problems und die Begründungen hierzu sind sehr unterschiedlich: Das oberste Gericht lehnte Sittenwidrigkeit allein wegen des Ungleichgewichts der Leistungen ab.

 

In mehreren Fällen bejahte die Rechtsprechung Sittenwidrigkeit und damit § 138 Abs. 1, wenn zu dem Missverhältnis sonstige, „von einer verwerflichen Gesinnung zeugende Umstände“ hinzutreten. So wurde bei einem erheblichen Missverhältnis Sittenwidrigkeit angenommen, wenn der andere Teil geistige Defizite des Benachteiligten ausgenutzt hatte. Pohlkamp sieht diese Entscheidungen jedoch als „Erweiterung des subjektiven Wuchertatbestandes“ des § 138 Abs. 2 und findet deshalb die Vorkriegswucherrechtsprechung „uneinheitlich“. 1889 hatte das Reichsgericht bei einem ganz außerordentlichen Missverhältnis die widerlegbare, nach Ansicht Pohlkamps seit 1900 sogar unwiderlegbare Vermutung aufgestellt, dass die subjektiven Wuchermerkmale erfüllt seien. Pohlkamp meint, die Zivilrechtsprechung vor 1914 habe nicht vollständig darauf verzichtet, lediglich ausnahmsweise zu Gunsten der schwächeren Partei einzuschreiten, sie habe sich aber auch nicht vollständig an die individualethische Schutzrichtung angelehnt.

 

Nach 1914 hält das Reichsgericht an dem „anerkannten Grundsatz“ fest, dass das bloße Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung allein die Annahme der Nichtigkeit nach § 138 Abs. 1 nicht rechtfertige. Es sei nicht einzusehen, warum „der Freiheit der Vertragsschließung da, wo von einer Knebelung oder Ausnutzung der schwächeren Lage einer Partei keine Rede sein kann, deshalb Schranken auferlegt werden sollten“ (1922). Dennoch erklärt es in besonderen Fällen Verträge über überteuerte Leistungen für sittenwidrig. Pohlkamp meint anscheinend, das Reichsgericht habe in einigen wenigen Urteilen vom objektiven Wuchermissverhältnis auf die Schwächesituation des Benachteiligten geschlossen und habe damit grundsätzlich an seiner Vermutungskonstruktion festgehalten, es sei aber tendenziell hinter seiner Vorkriegsrechtsprechung zurückgeblieben. Persönliche Schwächen des Übervorteilten würdigte das Reichsgericht in Analogie zu § 138 Abs. 2 oder als ein Merkmal, das die verwerfliche Gesinnung des Übervorteilenden im Sinne des § 138 Abs. 1 qualifizierte. Das Reichsgericht zählte nach 1914 zu den die fehlende Äquivalenz qualifizierenden Umständen im Sinne des § 138 Abs. 1 auch die Ausbeutung der Kriegsverhältnisse und die Schädigung der Allgemeinheit. In der Nachkriegszeit betonte das Reichsgericht die Verwerflichkeit der Ausnutzung der Not der Verbraucher. Es hatte auch die Verordnungen von 1915 und 1918, zur Tatzeit noch gar nicht in Kraft, als Bestätigung für die Anschauung aller billig und gerecht Denkenden zitiert. Pohlkamp rügt wiederholt, dass das Reichsgericht sich der unterschiedlichen Tendenzen seiner Rechtsprechung nicht bewusst gewesen sei.

 

Das ganze Elend der Zeit tritt in zwei Urteilen von 1917 und 1919 zu Tage. In dem strafrechtlichen Urteil hatte das Reichsgericht festzustellen, ab welcher Höhe der Gewinn bei der Veräußerung einer aus „Stärkekleister und Speisefett mit sehr viel Wasserzusatz“ bestehenden Schmalzersatz-Mischung als „übermäßig“ anzusehen ist. In dem späteren Zivilrechtsfall ging es um ein Ersatzmittel für Waschmittel, bestehend „ausschließlich aus Ton, Kalk oder Kreide, ohne jeden Zusatz von Fett, Säuren oder sonstigen Seifenbestandteilen, wie Soda, Laugen und dergleichen, nur mit einem klaren Zusatz von Riechstoff, der aber für den Verwendungszweck wertlos war und nur dazu diente, dem Ersatzmitteln einen seifenähnlichen Charakter zu geben“.

 

Schlussbemerkung

Es ist erfreulich, dass Pohlkamp das Thema sowohl von strafrechtlicher als auch von zivilrechtlicher Seite angegangen ist, wenn auch ohne Vertiefung der Unterschiede. Exkurse zur Vertragsstrafe runden die Untersuchung ab. Es hätte die Arbeit wohl überfrachtet, wenn die Verbindungen zu den sonstigen Rechtsentwicklungen derselben Epoche hergestellt worden wären. Jenseits des Themas würde der Vergleich mit den Rechtsentwicklungen im Ausland liegen.

 

Die damalige dogmatische Literatur wie die umfangreiche neuere rechtshistorische Literatur werden sorgfältig ausgewertet. Daneben beruft sich Pohlkamp mehrfach auf Hedemanns „Reichsgericht und Wirtschaftsrecht“ (1929) und Hayeks Schriften aus den Jahren 1947 bis 1967. Einen Exkurs widmet Pohlkamp Wieackers sogenannter „Theorie vom Funktionswandel des § 138 BGB“. Die Gesetzesmaterialien werden richtig in den Anmerkungen zitiert, finden sich aber nicht in einem Quellen- oder in dem Literaturverzeichnis. Der eilige Benutzer oder bequeme Leser hätte neben dem detaillierten Inhaltsverzeichnis ein Sachwortverzeichnis als wohltuend empfunden. Andererseits hätten die Ausdrucksweise noch prägnanter, die Arbeit noch kürzer sein können. Die Ethik in den oft erwähnten „ethischen“, „sozialethischen“ und „individualethischen“ Erwägungen“ wird nicht dargelegt.

 

Entsprechend dem Untersuchungsgegenstand stellt sich nicht die Frage, ob die Vorschriften und Verurteilungen wegen Wuchers einen Erfolg hatten. Die strafrechtlichen Bestimmungen und Urteile werden ohne ein Wort zur Strafhöhe referiert. 1920 sollen bei den Wuchergerichten, über die in der Arbeit nichts gesagt wird, über 27 000 Strafverfahren anhängig gewesen sein, zu Freiheitsstrafen seien 7 700, zu Geldstrafen fast 12 000 Pesonen verurteilt worden. 1924 sollen 16 000 Verurteilungen und 8 000 Freisprüche wegen Preistreiberei ergangen sein[4].

 

Es ist eigentlich lobenswert, wie vorsichtig und differenzierend Pohlkamp analysiert und seine Ergebnisse formuliert. Er will beispielsweise für die Zeit von 1914 bis 1918 insgesamt nicht von einer einheitlichen Rechtsprechung zur Frage der Abrenzung von § 138 Absatz 1 und Absatz 2 BGB sprechen. Gleichwohl bleibe festzuhalten, dass sich das Reichsgericht zumindest überwiegend auf eine Modifizierung seiner herrschenden Vorkriegsgrundsätze beschränkte und nach 1914 jedenfalls keinen absoluten Rechtsprechungswandel einleitete. Aber im Hinblick auf die vielen Entscheidungen, in denen der Wucher bejaht wurde, und angesichts der sehr wenigen Urteile, in denen das Reichsgericht den Wucher verneint hat, wird mancher Leser zu der einfacheren Lesart tendieren, schon für die Vorkriegszeit eine schuldnerfreundliche Rechtsprechung anzunehmen und einen Rechtsprechungswandel völlig abzulehnen.

 

Die überzeugenden Hauptergebnisse, die man der Arbeit entnehmen kann, wurden wegen ihrer Bedeutung an den Anfang dieser Rezension gestellt. Sie bilden für die neueste Rechtsgeschichte sehr wichtige Erkenntnisse.

 

Berlin                                                                                                Hans-Peter Benöhr

[1] H. Siems, Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen, 1992.

[2] Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Herausgegeben von M. Toch, 2008.

[3] G. K. Schmelzeisen, Polieiordnungen und Privatrecht, 1955.

[4] K. Peschke, Handwörterbuch de Staatswissenschaften, 4. Aufl., 8. Bd., 1928, S. 1099.