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Obst, Michael A., „Einer nur ist Herr im Reiche“. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe 14). Schöningh, Paderborn 2010. 481 S. Besprochen von Martin Moll.

Obst, Michael A., „Einer nur ist Herr im Reiche“. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner. (= Otto-von-Bismarck-Stiftung Wissenschaftliche Reihe 14). Schöningh, Paderborn 2010. 481 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Es entbehrt nicht der Ironie, dass die ursprünglich als Dissertation an der Universität Düsseldorf vorgelegte Studie Michael A. Obsts über die Reden Wilhelms II. und deren öffentliche Rezeption in der Buchreihe der Otto-von-Bismarck-Stiftung erschienen ist. Denn der junge Wilhelm hatte 1890, noch keine zwei Jahre auf dem deutschen Kaiserthron, den Langzeit-Reichskanzler zur Demission genötigt, um sein angestrebtes „persönliches Regiment“ unbehindert umsetzen zu können. Der Monarch entwickelte sich in seiner 30jährigen Regierungszeit (1888-1918) zudem zum Konkurrenten Bismarcks, wenn es um das Prägen eindringlicher Schlagwörter ging. Für beide Kontrahenten gilt, dass einige ihrer unzähligen Parolen und Losungen noch heute präsent sind: „Blut und Eisen“, „nach Canossa gehen wir nicht“, „wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt“ dürften einige der bekanntesten Kreationen Bismarcks sein; Wilhelm steuerte den „Platz an der Sonne“ bei, postulierte, Deutschlands „Zukunft liegt auf dem Wasser“, weshalb eine starke Flotte „not tue“, und sah die Welt am deutschen Wesen genesen.

 

Kein Zweifel, Wilhelm hatte ein ausgeprägtes Talent, Zeitströmungen in bündigen Slogans massenwirksam zusammen zu fassen, weshalb sich nicht wenige seiner Untertanen in den Wortschöpfungen ihres Kaisers wiederzufinden glaubten. In die Kritik geriet der Monarch auch nicht wegen der oben genannten Beispiele, die bei allem imperialistischen Beigeschmack noch vergleichsweise harmlos klingen. Darüber hinaus ließ Wilhelm von seiner Thronbesteigung an keine Gelegenheit ungenutzt, durch in dichter Folge gehaltene öffentliche oder öffentlich gewordene Reden das Inland und das Ausland zu verprellen. Schon die Zeitgenossen kamen nicht umhin, das Notorische dieser Fehltritte zu erkennen, und die Geschichtswissenschaft ist ihnen bei dieser Einschätzung gefolgt, wenngleich dort mehr der außenpolitische Schaden, den Wilhelms verbales Säbelrasseln anrichtete, im Mittelpunkt stand. Welche Reden bei welchen Anlässen und mit welchen (häufig strittigen) Inhalten der Monarch jedoch zwischen 1888 und seiner Abdankung Ende 1918 gehalten hat und wie Regierungskreise, die Presse innerhalb und außerhalb des Reiches, kurzum: die Zeitgenossen die Ansprachen wahrnahmen, wird von Obst erstmals auf breitester Quellengrundlage dargestellt.

 

Zu Recht betrachtet der Verfasser den von seinen Beratern bestenfalls kurzfristig zu bremsenden Redefluss des Kaisers und dessen – gelinde gesagt – mangelndes Fingerspitzengefühl nicht als bizarre Marotten eines Herrschers, der bis 1914 seinen starken Worten so gut wie nie Taten folgen ließ. Vielmehr präsentieren sich die Reden – und hier kommt das Interesse des Verfassungshistorikers ins Spiel – geradezu als Brennglas, in dem sich die politischen und konstitutionellen Zustände des Zweiten Reiches spiegeln. Denn Wilhelm nutzte seine Ansprachen nicht nur dazu, gegenüber dem Ausland mal drohend, mal schulmeisterlich aufzutrumpfen, seine Auslassungen unterstrichen ein ums andere Mal sein zutiefst autokratisches, am Gottesgnadentum orientiertes Herrscherbild. Bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten und vor Publikum jeglicher Art unterstrich Wilhelm, nur er sei Herr im Reiche; über die Volksvertretung, die Parteien, ja selbst über seine Mitarbeiter hatte er wenig Schmeichelhaftes zu verkünden. Empörung erregte etwa, als er die an der Reichsgründung maßgeblich beteiligten Bismarck und Moltke den Älteren als „Handlanger“ seines Großvaters titulierte.

 

Die öffentliche Kritik an diesen teils improvisierten, teils aber auch von Wilhelm vorbereiteten Reden konzentrierte sich auf zwei zentrale Argumente: Zum einen wurden die extrem negativen Rückwirkungen des monarchischen Wortgetöses auf die deutsche Außenpolitik angeprangert. Mit „Einkreisung“ prägte Wilhelm auch für diesen Prozess zunehmender Isolierung den passenden Begriff, doch seine Untertanen wussten, dass er daran nicht gerade unbeteiligt war. Ebenso abgelehnt wurden Wilhelms Herrscherrolle und Herrscherverständnis, die nicht nur der Reichsverfassung von 1871, sondern dem auf Ausbau des konstitutionellen Systems zielenden Zeitgeist krass widersprachen. Anlass zu weitgespannten Diskussionen über die Verfassungswirklichkeit gab insbesondere der Umstand, dass die wechselnden Reichskanzler zwar die Verantwortung für Wilhelms Auslassungen übernehmen mussten, auf deren Zustandekommen jedoch entweder keinen oder nur sehr begrenzten Einfluss nehmen konnten. Obst betont allerdings, dass es auch Phasen gab, in denen sich Wilhelm an die für ihn ausgearbeiteten Redemanuskripte hielt; andere skandalumwitterte Reden waren von den Regierungsstellen vorher geprüft und gebilligt worden. Der Verfasser verweist daher auf eine gewisse Mitschuld von Wilhelms politischen Beratern und er bringt auch zahlreiche Beispiele für eine dilettantische Nachrichtenpolitik, die mit unglaubwürdigen Dementis und der Ausgabe einander widersprechender offizieller Versionen noch Öl ins Feuer der öffentlichen Erregung goss.

 

Gleichwohl belegen die Resultate dieser Studie primär Wilhelms Alleingänge, deren Motive der Autor, wo immer möglich, zu erhellen versucht. Das in sechs chronologische Abschnitte, großteils anhand der Amtszeit der Reichskanzler gegliederte Buch liest sich folglich wie eine endlose Serie immer neuer Fehltritte, die beim Leser jedoch an keiner Stelle Langeweile auslöst. Dazu trägt nicht nur der wortgewaltige Monarch mit seinen markigen, oftmals unfreiwillig komischen Sentenzen bei, sondern auch die von Obst zahlreich zitierten, zeitgenössischen Kritiker, welche die vom Staatsoberhaupt geschaffenen, unersprießlichen Zustände mit feiner Klinge zu kommentieren wussten. Unübertroffen ist etwa die Bemerkung einer englischen Zeitung anlässlich Wilhelms den Briten erteilter Belehrung über die ausschlaggebende preußische Rolle beim Sieg über Napoleon in Waterloo 1815: Man wundere sich nur, so das Blatt, dass Wilhelm nicht behaupte, er selbst habe die Schlacht gewonnen. An derlei Köstlichkeiten ist das Buch reich. Nicht zuletzt schreibt der Verfasser in einem exzellenten Stil, der dieser Ironie würdig zur Seite steht.

 

Beeindruckend ist die breite Quellengrundlage dieser Arbeit, der es trotz Fehlens einer wissenschaftlichen Edition der Reden Wilhelms gelingt, aus der nur zu oft widersprüchlichen Überlieferung den vermutlich authentischen Text zu rekonstruieren – wenig verwunderlich, dass es sich nahezu immer um die schärfere Version handelt. Zeitgenössische Reaktionen werden anhand parlamentarischer Debatten, Diplomatenberichte, Pressemeldungen, Tagebücher, Memoiren usw. in all ihrem Facettenreichtum sorgfältig nachgezeichnet, wobei auch die Stimmen zu Gunsten des Monarchen Berücksichtigung finden. Daneben hat der Verfasser die Forschungsliteratur bis in entlegene Detailstudien hinein ausgewertet.

 

Eine Auflistung sämtlicher Reden (Ort, Datum, Anlass, Publikum, wesentlicher Inhalt) sowie eine tabellarische Darstellung der behandelten Zeitungen und deren politischer Ausrichtung hätten es dem Leser noch mehr erleichtert, dem Verfasser bei seinem Gang durch das spannungsreiche Verhältnis zwischen Monarch und Volk zu folgen. Davon abgesehen, ist die Arbeit ein einziger Lesegenuss. Sie zeigt auf, wie moderne Verfassungsgeschichte zu schreiben ist: Nicht nur am Buchstaben von Gesetzestexten orientiert, sondern an der Verfassungswirklichkeit, wie sie sich im konkreten Fall nicht zuletzt in den Kaiserreden spiegelte. Diese Realität machte aus, dass weite Kreise des deutschen Volkes, bis hin zu den konservativen Parteien, das Unzeitgemäße, Schädliche, dem Buchstaben der Verfassung häufig Widersprechende der Monarchenreden erkannten und kritisierten. Gleichwohl gelang es nie, den Kaiser dauerhaft in die Schranken zu weisen bzw. zur Mäßigung zu verhalten. Da dieser einhellig geäußerte Wunsch unerfüllt blieb, kann man mit Obst sagen, dass Wilhelm II. wenigstens als Redner sein vielbeschworenes „persönliches Regiment“ ausübte; mit der konstitutionellen Kontrolle dieses Herrschers war es nicht weit her. Frappierend bleibt das Fehlen jeder Einsicht Wilhelms in den Umstand, dass sein ungezügelter Redeschwall einer „Selbstenttabuisierung des Kaisertums“ (S. 417) massiv Vorschub leistete.

 

Graz                                                                                       Martin Moll