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Meyer, Ahlrich, Das Wissen um Auschwitz. Täter und Opfer der „Endlösung“ in Westeuropa. Schöningh, Paderborn 2010. 238 S. Besprochen von Martin Moll.

Meyer, Ahlrich, Das Wissen um Auschwitz. Täter und Opfer der „Endlösung“ in Westeuropa. Schöningh, Paderborn 2010. 238 S. Besprochen von Martin Moll.

 

In den letzten Jahren haben Peter Longerich, Bernward Dörner sowie das Autorenduo Frank Bajohr und Dieter Pohl unabhängig voneinander zum Teil voluminöse Studien zu der Frage vorgelegt, was die deutsche Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges von der Deportation und anschließenden Ermordung der europäischen Juden mitbekam, was sie davon wusste, wissen hätten müssen oder wenigstens wissen konnte. In den Details durchaus uneins, kamen diese Autoren zu dem Resultat, dass eine Fülle von Informationen aus unterschiedlichsten Quellen, nicht zuletzt kaum verklausulierte Vernichtungsankündigungen berufener Vertreter des NS-Regimes selbst, große Teile der deutschen Bevölkerung in die Lage versetzt hatten, sich aus diversen Mosaiksteinen ein nicht in allen Details, aber in den Grundzügen zutreffendes Bild der Vorgänge zu machen. Strittig bleibt, ob bzw. in welchem Umfang diese prinzipiell verfügbaren Informationen wahrgenommen wurden oder nicht.

 

Der 1941 geborene Ahlrich Meyer, bis 2000 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und durch mehrere Studien sowohl zur Partisanenbekämpfung als auch zum Holocaust in Westeuropa ausgewiesen, überträgt die für das Deutsche Reich erschöpfend behandelte Fragestellung auf das von deutschen Truppen seit Mai/Juni 1940 besetzte Westeuropa, konkret auf die Niederlande, Belgien und Frankreich. Meyer geht es nicht darum, den Kenntnisstand der dortigen Bevölkerungen insgesamt zu untersuchen, denn er teilt zu Recht die Skepsis, ob es für eine derart große Zahl von Menschen überhaupt so etwas wie einen homogenen Wissensstand geben konnte. Stattdessen nimmt Meyer unter dem Signet „Täter und Opfer“ zwei zahlenmäßig überschaubare Gruppen in den Blick: Bei den Tätern dürfte es sich um einige Tausend Personen gehandelt haben, bei den Opfern sicherlich um mehrere Hunderttausend, von denen jedoch die Wenigsten Zeugnisse hinterlassen haben, aus denen auf ihren damaligen Informationsstand geschlossen werden kann.

 

Erfreulich ist der unbefangene, von scheinbar gesicherten Sichtweisen freie Zugang Meyers zu seinem Thema: Weder ist er von Haus aus überzeugt, alle Täteraussagen nach 1945, man habe nichts gewusst, seien reine Schutzbehauptungen, noch will er es sich so einfach machen zu glauben, die Juden seien entweder völlig ahnungslos oder ganz im Gegenteil über die ihnen drohende Gefahr genau im Bilde gewesen. Der Begriff „Wissen“ sei schwer zu definieren, so Meyer, und noch schwerer vom bloßen Vermuten, Glauben oder Befürchten abzugrenzen. Zahlreiche Beispiele belegen, dass neben korrekten Fakten zahllose, zum Teil abenteuerliche Gerüchte im Umlauf waren, welche die Zeitgenossen jedoch kaum voneinander zu trennen vermochten. Solche Spekulationen umfassten auf Seite der betroffenen Juden gleichermaßen Hoffnungen wie Befürchtungen.

 

Der Autor verwertet sowohl zeitgenössische Dokumente als auch die nach Kriegsende zahlreich entstandenen Gerichtsakten mit ihren unzähligen Aussagen beider Untersuchungsgruppen. Bei der Auswertung dieser Protokolle legt Meyer immer wieder starkes Gewicht auf bestimmte Formulierungen, ja einzelne Worte, obwohl ihm bewusst ist, dass die Akten primär die Sprache der Vernehmungsbeamten spiegeln. Wie nicht anders zu erwarten, kann auch Meyer keine simple, prägnante Antwort auf seine Fragestellung liefern; vielmehr sind seine Befunde zwar ausgesprochen subtil und auf einfühlsame Interpretationen einer großen Zahl an Quellen gestützt, doch drängt sich der Eindruck auf, dass nahezu jede behandelte Person, ob Täter oder Opfer, etwas anderes wusste oder zu wissen glaubte als die Übrigen. Auch der unterschiedliche Kenntnisstand, den die Militärverwaltungen in Belgien und Frankreich gegenüber den SS-Dienststellen einerseits, der Zivilverwaltung in den Niederlanden andererseits hatten, war in den Grundzügen bekannt. Selbiges gilt für den Nachweis, dass die leitenden SS- und SD-Funktionäre kaum im Zweifel sein konnten, was mit den „zum Arbeitseinsatz im Osten“ deportierten Juden wirklich geschah; nur ganz Wenige aus dieser Gruppe gestanden nach 1945 ihr Wissen ein und wann genau es sich herausgebildet hatte, kann immer noch lediglich bruchstückhaft rekonstruiert werden.

 

Obwohl diese Bemerkungen darauf hinauslaufen, dass Meyer keine grundlegend neuen Erkenntnisse vorlegt und ungewollt eher die Ratlosigkeit der Historiker, die sich früher mit diesem Gegenstand beschäftigt haben, bestätigt, so müssen doch drei Verdienste dieser schmalen Studie hervorgehoben werden: Zum ersten finden sich hier die bislang subtilsten, aber auch plausibelsten Überlegungen zu dem Problem, was man sich unter den Umständen der Jahre 1941 bis 1944 überhaupt unter dem Wissen um den Holocaust, unter den Quellen dieses Wissens und dessen kognitiver Verarbeitung vorzustellen hat. Zum zweiten liefert Meyer wichtige, gründlich durchdachte und aus reicher Erfahrung gewonnene Bausteine zu einer Methodenlehre des Umgangs mit Gerichtsprotokollen als Quellen des Historikers. Solche Akten aus NS-Prozessen der Nachkriegszeit werden in den letzten Jahren zunehmend herangezogen, nicht immer mit der nötigen Einsicht in die für sie typischen Spezifika. Zum dritten weist der Verfasser nach, dass nichts darauf hindeutet, die Täter welcher Hierarchie-Ebene auch immer hätten bei umfassenderen Kenntnissen über die Vorgänge in Auschwitz und den sonstigen Vernichtungslagern anders gehandelt, als sie es taten. Dies ist eine schockierende Erkenntnis, die zugleich die Sinnhaftigkeit weiterer Forschungen zum „Wissen um Auschwitz“ in Frage stellt, denn ihr wie immer geartetes Wissen scheint nur wenige der Protagonisten, Täter wie Opfer, konkret beeinflusst zu haben.

 

Man liest diese nicht allzu umfangreiche, in angenehmer Sprache verfasste Studie mit Gewinn, auch wenn sie nicht den großen Durchbruch zur Beantwortung einer noch immer heiß umstrittenen Frage darstellt. Bedauerlicherweise wird der sonst vorhandene Lesefluss durch die ans Buchende verbannten, umfangreichen Anmerkungen unnötig unterbrochen.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll