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Kuschnik, Bernhard, Der Gesamttatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit - Herleitungen, Ausprägungen, Entwicklungen (= Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht 95). Duncker& Humblot, Berlin 2009. 503 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Kuschnik, Bernhard, Der Gesamttatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit - Herleitungen, Ausprägungen, Entwicklungen (= Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht 95). Duncker& Humblot, Berlin 2009. 503 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Auch wenn der Verfasser, Bernhard Kuschnik, in dem ein Drittel des Bandes umfassenden, der Genese der internationalen Strafgerichtsbarkeit gewidmeten ersten Abschnitt seiner Tübinger juristischen Doktorarbeit aus 2008, die nun im Druck vorliegt, die „Geburtsstunde des Terminus ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘“ (S. 34) in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Fall Hagenbach) ansiedelt und auf die erstmalige rechtsverbindliche Kodifizierung des Begriffs 1915 durch die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Russlands in einer Deklaration zum Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich hinweist, ist die Entwicklung eines effizienten Völkerstrafrechts ohne Zweifel eine Errungenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, speziell der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal (IMT) zur Ahndung der von der nationalsozialistischen Führung zu verantwortenden Untaten gilt als der Meilenstein und als Initialzündung für die Etablierung und Institutionalisierung des erforderlichen rechtlichen Rahmens.

 

Nachdem die Alliierten die oberste Regierungsgewalt über Deutschland proklamiert hatten, wurden mit dem Londoner Abkommen vom 8. August 1945 die Verfahrensregeln des Gerichtes, die Gerichtsverfassung und die Anklagetatbestände festgelegt und das Statut des Tribunals als Annex dem Abkommen angeschlossen. Artikel 6 (c) des Statuts kodifiziert den Gesamttatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, welcher sich aus den enumerierten „mikrokriminellen“ Katalogstraftaten (Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation, andere unmenschliche Handlungen) und dem geforderten „makrokriminellen“ Überbau (sogenannte „chapeau“-Elemente: eine Tathandlung an irgendeiner - insbesondere der eigenen – Zivilbevölkerung in Verbindung mit der Begehung eines anderen Kriegsverbrechens; auf der Grundlage von diskriminierenden – politisch, rassisch, religiös begründeten – Motiven; in Ausführung einer staatlichen Politik) konstituierte. Diese Konstruktion ermöglichte es unter anderem, nicht nur die „kleinen“, die jeweilige Straftat unmittelbar ausführenden Täter zu belangen, sondern vor allem die im Hintergrund operierenden, sich selbst häufig die Finger nicht schmutzig machenden „großen“ Planer, Organisatoren und Befehlsgeber zur Rechenschaft zu ziehen. In Nürnberg musste sich demnach „nicht das Nazi-Regime eo ipso, sondern (mussten sich) die dahinter stehenden Individuen“ (S. 50) vor anderen Staaten völkerstrafrechtlich verantworten, unter anderem für Grausamkeiten, die gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren. Der Kritik, der sich das Tribunal in der Folge ausgesetzt sah, nämlich ex post facto zu urteilen und damit den Grundsatz nullum crimen sine lege zu missachten, hält der Verfasser die Radbruch‘sche Formel entgegen, wonach „zumindest dann der Gerechtigkeit der Vorrang vor der Rechtssicherheit einzuräumen (sei), wenn der Widerspruch des positiven Rechts zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht hat, dass das formalistische Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“ (S. 63). Den Tätern musste demnach klar sein, dass Taten wie die willkürliche und systematische Vergasung von Zivilisten als mala in se strafbare Handlungen darstellten, ganz gleich, ob sie von formalen Gesetzen legitimiert waren oder nicht.

 

In der Folge zeigt Bernhard Kuschnik, wie der äußerst erfolgreiche Ansatz des IMT, was den Gesamttatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit betrifft, eine ständige Erweiterung und Präzisierung erfahren hat, eine Arbeit, die zunächst vor allem von der als permanentes Unterorgan der Vereinten Nationen (UN) agierenden International Law Commission (ILC) in Form der von ihr erarbeiteten Draft Codes (1951, 1954, 1988, 1991 und 1996) geleistet worden ist. Entscheidende Impulse gingen schließlich in den Jahren 1993 bis 2007 von den international(isiert)en Straftribunalen für Jugoslawien (ICTY), Ruanda (ICTR) und Sierra Leone (SCSL) und vergleichbaren Einrichtungen in Ost-Timor, Kambodscha und dem Irak (IHT mit dem Verfahren gegen Saddam Hussein) aus. Die bislang modernste und ausführlichste Definition des Gesamttatbestands des Verbrechens gegen die Menschlichkeit liefert Artikel 7 des 1998 in Rom verabschiedeten Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC).

 

Die verbleibenden zwei Drittel der Studie bieten eine rechtsdogmatische Analyse des gegenständlichen Gesamttatbestands. Im Zentrum dieser Überlegungen stehen jeweils die Prüfung des äußeren (actus reus) und des inneren Handlungselements (mens rea) der Straftat, wobei der Verfasser zunächst auf die tatbestandsübergreifenden Strafbarkeitsvoraussetzungen, im Speziellen auf die geforderte Wechselwirkung zwischen der mikrokriminellen Einzeltat und einem makrokriminellen Gesamtkontext, abzielt. Als Teil dieses Kontextes figurieren die bereits vorhin erwähnten „chapeau“-Elemente, die „als tatübergreifende Voraussetzungen des Gesamttatbestandes dem Verbrechen die hinreichende Zielgerichtetheit und Dimension verleihen, um es von anderen nationalen Verbrechen abzugrenzen“ (S. 217), und in ihrer Gesamtheit den Charakter eines systematischen, gegen jegliche Zivilbevölkerung gerichteten Angriffs tragen. Die Frage, ob im Rahmen der verlangten Systematik ein Politik-Element generell konstitutiv sein und welche Organisationsstruktur diesem zugrunde liegen soll, wurde von der Rechtsprechung kontroversiell beantwortet und führt zu Problemen bei der Subsumtion terroristischer Aktivitäten unter den Gesamttatbestand. Hingegen ist der ursprünglich erforderliche Nexus zu einem bewaffneten Konflikt aufgegeben worden; die Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist unstrittig nunmehr zu jeder Zeit denkbar.

 

Die Bandbreite der Einzeltatbestände, die Bernhard Kuschnik auf actus reus und mens rea hin akribisch untersucht, ist erheblich: Verbrechen gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Mord, Ausrottung, Folter), sexualisierte Verbrechen (Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation, jede andere Form sexueller Gewalt, Exkurs Zwangsheirat) – diese Gruppe wird vom Verfasser besonders eingehend und detailliert diskutiert - , Verbrechen gegen die Freiheit (Freiheitsentzug, Versklavung, sklavereiähnliche Praktiken, zwangsweises Verschwindenlassen von Personen, Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung), Diskriminierungsverbrechen (Verfolgung, Apartheid) und den Auffangtatbestand „andere unmenschliche Handlungen“, der als Generalklausel nicht konkretisiert und dessen Anwendbarkeit am Einzelfall jeweils neu zu hinterfragen sei. In einem abschließenden Ausblick wird der Problematik einer möglichen Einbeziehung denkbarer makrokrimineller Umweltverbrechen, wie der nuklearen Verseuchung von Wohngebieten oder der Kontaminierung von Trinkwasser, in den Gesamttatbestand nachgegangen.

 

Wenn man auch nicht jedes Urteil des Verfassers im Einzelnen teilen wird, so bleibt festzuhalten, dass es ihm zweifelsfrei gelingt, den Gesamttatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nicht nur in seiner historischen Entwicklung kompetent darzustellen, sondern ihn vor allem in seiner Dogmatik einer präzisen kritischen Prüfung zu unterziehen. Besonderes Augenmerk misst er immer wieder dem Dilemma ungenauer Übersetzungen der einschlägigen Fachterminologie und den damit verbundenen Differenzen in der Rechtsauslegung bei. Darüber hinaus zitiert Kuschnik eine Fülle von Fällen aus der Judikatur, vor allem des ICTY und des ICTR, aber auch spektakuläre nationale Verfahren, wie den Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel oder die französischen Gerichtsverfahren gegen Klaus Barbie, Maurice Papon oder gegen den Algerien-Veteranen Paul Aussaresses. An der Studie wird somit jeder, der sich zukünftig mit Fragen des Völkerstrafrechts und speziell mit dem genannten Tatbestand auseinanderzusetzen hat, nicht vorbeikommen.

 

Bei allem Lob für die beeindruckenden facheinschlägigen Qualitäten der Arbeit sollen aber auch die Unzulänglichkeiten in anderen Bereichen nicht verschwiegen werden. Am laufenden Band finden sich im Text eklatante Verstöße gegen orthografische und grammatikalische Normen. Einige wenige Beispiele: „weil sich die Niederlande … erwähren konnte“ (S. 43; erwehren konnten); „durch Freie Wahlen“ (S. 130; freie); „ durch den Einflusses von staatlicher Autorität“ (S. 249; Einfluss); „ ein Angriff gegen die Bevölkerung darstellen“ (S. 275; einen); „Milgam Experiment“ (S. 246; Milgram-Experiment); „Max-Panck Institut“ (S.464; Max-Planck-Institut); „chapeu“ (S. 29) und „chaupeau“ (S. 228; chapeau). Die übliche Koppelung zusammengesetzter Nomen durch Bindestrich fehlt nahezu durchgehend. Manche Schreibfehler legen den Verdacht der Wissenslücke nahe: Wenn vom „hypokratische(n) Eid“ (S. 359) geschrieben wird, mag man zweifeln, ob Klarheit über die Person des Hippokrates besteht. Auch gab es zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Frankreich zwar eine Vichy-Regierung, doch niemals eine „Vichi Regierung“ (S. 152) oder ein „Vichi Regime“ (S. 154). Die Behauptung, Ferdinand Schörner sei „General der Waffen S.S.“ (S. 136) gewesen, ist jedenfalls schlichtweg falsch. Es ist schade, dass ein inhaltlich so gutes Buch mit dem Makel eines nachlässigen Lektorats auf den Markt kommen muss.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic