Hitlers Sklaven - Stalins „Verräter“ - Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz, hg. v. Ruggenthaler, Peter/Iber, Walter M. (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann Instituts für Kriegsfolgen-Forschung 14). StudienVerlag, Innsbruck 2010. 382 S., 39 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Hitlers Sklaven - Stalins „Verräter“ - Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz, hg. v. Ruggenthaler, Peter/Iber, Walter M. (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung 14). StudienVerlag, Innsbruck 2010. 382 S., 39 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Der vorliegende Sammelband basiert auf einer im Dezember 2006 an der Universität Graz durchgeführten Tagung im Rahmen eines österreichisch-russischen Forschungsprojekts und widmet sich dem Phänomen der Repatriierungen und Zwangsrückführungen in die westlichen Gebiete der Sowjetunion, einem Prozess, der „Millionen von Menschen“ (S. 8) betraf. Fast eine halbe Million Sowjetbürger verblieben darüber hinaus zunächst im Westen und kehrten zu einem geringen Teil noch nach Stalins Tod in die Heimat zurück.
Das Buch nähert sich dem Werdegang dieser Menschen in Form dreier Schwerpunkte an. Zunächst beleuchten zwei Aufsätze die Lage der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen und ihrer baltischen Schicksalsgenossen im Dritten Reich. Der zweite, mit einem Umfang von über 200 Druckseiten weitaus ausführlichste Block beschäftigt sich mit dem Repatriierungsprozess in die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Einem allgemeinen Überblick zu den rechtlich-administrativen Grundlagen dieser Politik folgen territorial gegliederte Einblicke in deren praktische Umsetzung in Estland, Lettland, Litauen, Weißrussland, der Westukraine und dem Nordkaukasus; ein Exkurs beschäftigt sich darüber hinaus mit der völkerrechtswidrigen Auslieferung im neutralen Schweden internierter Angehöriger der Deutschen Wehrmacht an die Sowjetunion während der Jahre 1945/46. Der dritte Abschnitt richtet den Blick auf Österreich, auf die dort umgesetzte Repatriierungspolitik der sowjetischen Besatzungsmacht, auf die Auslieferung von Kosaken und Vlasov-Kämpfern (Exkurs) und auf die konkreten Biografien dreier Personen, denen es gelang in der Alpenrepublik zu verbleiben; im Anhang erscheinen dann, exemplarisch ausgewählt aus den Angaben von insgesamt 1022 in einer Datenbank erfassten, dereinst auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich tätigen ehemaligen „Ostarbeitern“, zusätzlich die Erinnerungen von drei weiteren Personen, die zu „klassischen Opfern zweier Diktaturen wurden“ (S. 313): zuerst als unter Hitler mit Zwang ins Deutsche Reich Verschleppte, dann - nach ihrer Rückkehr in die Heimat - als von Stalin verbannte „Verräter“.
Unter rechtsgeschichtlichem Blickwinkel bietet das vorliegende Werk mehrere bemerkenswerte Ansätze. Zunächst ist der von Nikita Petrov, Peter Ruggenthaler, Natal’ja Lebedeva und Michail Prozumenščikov gemeinsam verfasste, grundlegende Beitrag zur sowjetischen Repatriierungspolitik hervorzuheben. Er stellt den sich über gut 20 Jahre erstreckenden normativen Prozess von der Geburt der „Idee einer totalen Überprüfung aller sowjetischen Bürger, die sich 1941 in der Hand des Feindes befunden hatten“ (S. 64), die ihren ersten Niederschlag am 27. Dezember 1941 in einem Geheimbeschluss des höchsten Entscheidungsorgans der Sowjetunion im Krieg, des Staatlichen Verteidigungskomitees (GOKO) unter Stalins Vorsitz, mit dem sperrigen Titel „Über Maßnahmen zur Aufspürung ehemaliger Soldaten der Roten Armee, von Hochverrätern, Spionen und Diversanten, die sich in feindlicher Gefangenschaft oder Einkesselung befunden haben“ fand, bis zum „finalen Bruch“ (S. 108) mit der Idee einer Rückkehr in die Heimat durch den Beschluss des Sekretariats des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) zur Zusammenarbeit mit Emigrantenorganisationen vom 24. November 1962 ausführlich dar.
Ein weiterer Punkt betrifft die völkerrechtliche Grauzone im Hinblick auf die Staatsbürgerschaft der Einwohner der drei baltischen Staaten: In der Zwischenkriegszeit unabhängig, wurden Estland, Lettland und Litauen gemäß den geheimen Zusatzvereinbarungen zum sogenannten Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 im Juni 1940 von der Roten Armee besetzt; ihr Eintritt in die UdSSR wurde „künstlich mittels unfreier Wahlen zum Obersten Sowjet Estlands, Lettlands und Litauens, die im Anschluss daran um Aufnahme […] in die Sowjetunion ‚baten‘, fabriziert […] - nach sowjetischer Lesart die ‚juristische‘ Grundlage dafür, Staatsangehörige der baltischen Staaten nach der erneuten sowjetischen Besetzung und Annexion 1944/45 als sowjetische Staatsbürger zu bezeichnen und in die UdSSR zu repatriieren“ (S. 20). Viele Balten sahen dies naturgemäß anders, wie auch die Westmächte, welche die der militärischen Besetzung folgende Inkorporierung des Baltikums in die Union der Sowjetrepubliken nicht anerkannten. Die Aufsätze zu Estland (Ranno Roosi), Lettland (Heinrihs Strods) und Litauen (Kristina Burinskaitè) präzisieren sodann die Problematik dieser Repatriierungen vor Ort.
Aus mitteleuropäischer Perspektive offenbart besonders die Darstellung der beiden Herausgeber zur Organisation und zur Abwicklung der Rückführungen aus dem in vier Besatzungszonen geteilten Österreich interessante Erkenntnisse. Hier ist etwa auf den Umstand hinzuweisen, dass im Entwurf zum Staatsvertrag Österreich in einem eigenen Artikel (Artikel 16) verpflichtet werden sollte, bei der Repatriierung mitzuwirken, ein Passus, der erst mit Unterstützung der Westmächte auf der Wiener Botschafterkonferenz am 4. Mai 1955 eliminiert werden konnte. Denn „spätestens ab 1946“ waren „vor allem London und Washington zusehends von ihrem Konsenskurs mit Stalin ab(gegangen) und erschwerten der UdSSR die Rückführung von Sowjetbürgern aus den westlichen Besatzungszonen“ (S. 279). Eine intensivierte, sehr erfolgreiche Emigrationspropaganda konterkarierte die sowjetische Heimkehrpropaganda und führte – neben der Einbürgerung in Österreich – zur Auswanderung vor allem von Balten und Ukrainern in größerer Zahl, vorwiegend nach Übersee.
Als eine besondere Stärke dieses Sammelbandes mag der Umstand gelten, dass es dank der langjährig gepflegten, vorzüglichen Kontakte in die Staaten des ehemaligen Ostblocks dem Grazer Institut für Kriegsfolgen-Forschung einmal mehr gelungen ist, 17 namhafte Forscher aus den betroffenen Staaten (ihre Kurzviten und wissenschaftlichen Verdienste sind im Autorenverzeichnis erfasst) trotz anfänglicher (vor allem russischer) Vorbehalte für die Auseinandersetzung mit dieser noch keineswegs einheitlich akkordierten Materie zu gewinnen und im Sinne einer „Zwischenbilanz“ auch bestehende Diskrepanzen klar anzusprechen. Dieser erste, international breitere Ansatz zur Erforschung der (Zwangs-)Repatriierungen in die Sowjetunion stützt sich vor allem auf die systematische Auswertung von Aktenmaterial der Russischen Staatsarchive für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI) sowie für Zeitgeschichte (RGANI), wo die Überlieferungen des Staatlichen Verteidigungskomitees (GOKO, bis 1945), des Politbüros/Präsidiums des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (ab 1945) und der Abteilung für Repatriierung des Sowjetischen Teils der Alliierten Kommission in Österreich (SČSK) lagern. Über die reichhaltigen rechtlichen Aspekte und den historischen Erkenntnisgewinn hinaus bietet das mit durchgehenden Personen- und Ortsregistern und einem Abbildungsverzeichnis ausgestattete Buch durch seine Präsentation von Einzelschicksalen auch die Möglichkeit einer individuellen, emotionalen Annäherung an die persönlichen Lebens- und Leidenswege von Menschen, die von der Erfahrung mehrfachen Unrechts geprägt waren.
Kapfenberg Werner Augustinovic