Hilgenstock, Christopher, Die Anwendung des Allgemeinen Landrechts in der richterlichen Praxis. Sentenzen des Oberappellationssenats des preußischen Kammergerichts in den Jahren 1804 bis 1810 (= Schriften zur preußischen Rechtsgeschichte 6). Lang, Frankfurt am Main 2009. 621 S. zahlr. Tab., 2 Graf. Besprochen von Arno Buschmann.
Hilgenstock, Christopher, Die Anwendung des Allgemeinen Landrechts in der richterlichen Praxis. Sentenzen des Oberappellationssenats des preußischen Kammergerichts in den Jahren 1804 bis 1810 (= Schriften zur preußischen Rechtsgeschichte 6). Lang, Frankfurt am Main 2009. 621 S. zahlr. Tab., 2 Graf. Besprochen von Arno Buschmann.
Bei der vorliegenden voluminösen Untersuchung handelt es sich um eine von dem inzwischen verstorbenen Kieler Rechtshistoriker Jörn Eckert angeregten und in seiner Nachfolge von Werner Schubert betreuten Kieler rechtswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahre 2008. Sie steht in einer Reihe mit den Arbeiten Joachim Steinbecks und Matthias Albrechts, die allesamt der Anwendungspraxis des Allgemeinen Landrechts gewidmet sind, und ist insbesondere als zeitliche Weiterführung der Untersuchung angelegt[1]. Gegenstand ist die Analyse der Rechtsprechung des Oberappellationssenats des Preußischen Kammergerichts für die Zeit von 1804 bis 1810, Grundlage die Aktenüberlieferung der Sentenzenbücher des Gerichts, Erkenntnisziel die Ermittlung der methodischen Grundsätze, die bei dieser Rechtsprechung vom erkennenden Senat zugrunde gelegt wurden. Der Verfasser hat zu diesem Zweck insgesamt mehr als 3000 Urteile des Senats durchgesehen und in einem umfangreichen Register, das die wichtigsten Angaben über Verfahren, Parteien, Streitgegenstände angewendeten Vorschriften und die vom Senat für die Urteilsfindung herangezogene Literatur zusammengestellt und statistisch ausgewertet. Wichtigstes Ergebnis ist die Feststellung, dass trotz der zeitlichen Nähe der gefällten Urteile zum Termin der Verkündung des ALR dieses in wachsendem Umfang zur beherrschenden Rechtsquelle der Rechtsanwendung wurde und das gemeine Recht verdrängte, ein Ergebnis, das sich auch in der vorangegangenen Untersuchung Steinbecks schon abgezeichnet hatte. Das Ziel des preußischen Gesetzgebers, im Gebiet des preußischen Staates das gemeine römische Recht durch ein eigenes preußisches Gemeinrecht zu ersetzen, wurde damit überraschend schnell erreicht. Tatsächlich wurde nach dem Ergebnis der Untersuchung des Verfassers das gemeine römische Recht nur noch in wenigen Fällen angewandt, wobei allerdings einschränkend betont werden muss, dass in den nicht wenigen Urteilen, in denen der Verfasser keine Angabe von Rechtsquellen und keine Hinweise auf einschlägige Literatur hat ermitteln können, nicht doch auf Sätze des gemeinen römischen Rechts zurückgegriffen wurde.
Hinsichtlich der angewandten Methode kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass sich der Oberappellationssenat des Kammergerichts sehr wohl an die in den §§ 46 Einl. ALR gezogenen Grenzen der Rechtswendung gehalten hat, wobei freilich betont werden muss, dass die dort niedergelegten Grundsätze dem zeitgenössischen Stand der juristischen Methodik entsprachen. Das gilt insbesondere für die in § 49 Einl. ALR vorgesehene Rechtsanalogie, von der, wie der Verfasser meint, das Gericht nur vorsichtig Gebrauch gemacht habe. Was vom Verfasser nicht erwähnt wird, ist, dass die in § 47 Einl. ALR vorgeschriebene Anrufung der Gesetzkommission bereits durch Kabinettsordre vom 8. März 1798 aufgehoben und den Gerichten zur Pflicht gemacht worden war, das Gesetz nach den allgemein anerkannten Regeln der Wissenschaft auszulegen. Zu Recht stellt der Verfasser fest, dass der vielfach erhobene Vorwurf, dass die Gerichte durch das ALR ihrer rechtsschöpferischen Tätigkeit beraubt worden seien, nicht zutrifft. Ob allerdings der Hinweis des Verfassers, dass durch das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung die berühmte Kritik Julius von Kirchmanns an den Juristen, dass diese durch die Bindung an das positive Gesetz „zu Würmern geworden“ seien, „die nur vom faulen Holze leben“, in den Zusammenhang seiner Untersuchungsergebnisse gehört, darf bezweifelt werden. Der Satz Julius von Kirchmanns bezog sich nicht speziell auf die Stellung der Richter im ALR, sondern überhaupt auf die durch sklavische Bindung an das Gesetz definierte Rolle der Juristen in einer ausschließlich auf das positive Recht fixierten Rechtsordnung.
Insgesamt hat der Verfasser mit seiner sorgfältig angelegten Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der preußischen Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts geliefert, in dem nicht nur die Rechtsanwendungspraxis durch das Kammergericht in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts vorgestellt, sondern zugleich der Nachweis geführt wird, dass die Richter des Kammergerichts in Bezug auf das ALR keineswegs als bloße „Subsumtionsautomaten“ fungierten, vielmehr nach den methodischen Prinzipien der zeitgenössischen Rechtswissenschaft handelten.
Salzburg Arno Buschmann
[1] Joachim Steinbeck, Die Anwendung des Allgemeinen Landrechts in der richterlichen Praxis. Sentenzen des Oberappellationssenats des preußischen Kammergerichts von 1794 bis 1804, Frankfurt am Main 2004 (= Schriften zur Preußischen Rechtsgeschichte, Band 1); Matthias Albrecht, Die Methode der preußischen Richter in der Anwendung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Eine Studie zum Gesetzesbegriff und zur Rechtsanwendung im späten Naturrecht, Frankfurt am Main 2005 (= Schriften zur Preußischen Rechtsgeschichte, Band 2).