Hans Kelsen. Leben - Werk - Wirksamkeit. Ergebnisse einer Internationalen Tagung, veranstaltet von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs und dem Hans Kelsen-Institut (19.–21. April 2009), hg. v. Walter, Robert/Ogris, Werner/Olechowski, Thomas (= Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts 32). Manz 2009. XII, 395 S. Besprochen von Walter Pauly.
Hans Kelsen. Leben - Werk - Wirksamkeit. Ergebnisse einer Internationalen Tagung, veranstaltet von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs und dem Hans Kelsen-Institut (19.–21. April 2009), hg. v. Walter, Robert/Ogris, Werner/Olechowski, Thomas (= Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts 32). Manz 2009. XII, 395 S. Besprochen von Walter Pauly.
Anzuzeigender Tagungsband trägt zur Historisierung der gerne als überzeitlich gültig verstandenen Reinen Rechtslehre, namentlich des Beitrages ihres Gründers Hans Kelsen bei. Die 22 Beiträge begleiten so denn auch Kelsens Lebensweg und setzen nach einer Einführung (Robert Walter) mit Herkunftsforschungen ein, die mit einer Studie zu „Juden in Brody“ (Börries Kuzmany) zunächst das Kelsens Vater Adolf und dessen Vorfahren prägende galizische Handelszentrum beleuchten, das einen jüdischen Bevölkerungsanteil von ca. 80 Prozent aufwies (S. 16f.) und aus dem übrigens auch Joseph Roth stammte. Entsprechend untersucht Petr Kreuz in seinem Beitrag „Zu den Prager Wurzeln Hans Kelsens“ die Lebensbedingungen der Familie in Kelsens Vaterstadt, wo der Rechtstheoretiker und Sozialphilosoph zwei Jahre vor Franz Kafka am 11. Oktober 1881 geboren wurde. Interessantes über Kelsens Jugendbiographie bietet schließlich der Aufsatz „Zwischen Emanzipation und Assimilation: Jüdische Juristen im Wien des Fin-de-Siècle“ (Anna L. Staudacher), der die Konversion des zunächst als „mosaisch“ immatrikulierten Kelsen zum Katholizismus schildert, verbunden wohl mit einer vielfach als „ehrenrührig“ empfundenen Abschwörungsformel (S. 47); die Heirat mit der ebenfalls aus dem Judentum ausgetretenen Margarete Bondi brachte dann den Übertritt zum Protestantismus Augsburger Bekenntnisses. Mit Kelsens Militärzeit beschäftigt sich Jürgen Busch („Hans Kelsen im Ersten Weltkrieg. Achsenzeit einer Weltkarriere), der auch dessen vor dem Ersten Weltkrieg angenommene Beamten- und Dozentenstellungen darstellt, sodann seine zentrale Stellung als Offizier im Kriegsministerium im Zusammenhang des Übergangs von der Monarchie zur Republik, die in eine öffentlich-rechtliche Professur an der Universität Wien mit militärrechtlicher Ausrichtung mündete (S. 72f.). Abgerundet wird das Bild des „jungen Kelsen“ durch eine Schilderung seiner Tätigkeit in Wiener Volksbildungseinrichtungen, die ihn in die Nähe zur Sozialdemokratischen Partei brachte, wie Tamara Ehs (Erziehung zur Demokratie: Hans Kelsen als Volksbildner) darlegt (S. 87f.), sowie seines über Edmund Bernatzik hergestellten Kontaktes zur Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald, von der im Beitrag „Die Schwarzwaldschule und Hans Kelsen“ (Deborah Holmes) Briefauszüge zitiert werden, die Kelsen fern „jüdischer Solidarität“ verorten (S. 108).
Mehr auf die inhaltliche Werkgenese ausgerichtet ist der Beitrag „Von den ‚Hauptproblemen’ zur Erstauflage der ‚Reinen Rechtslehre’“ aus der Feder Matthias Jestaedts, der in Kelsens Habilitationsschrift die „präzedenzlose Initialzündung der Reinen Rechtslehre“ ausmacht (S. 120), gleichwohl aber ihre „Befangenheit in Herkunftsprägung“ nachweist und Theorieumstellungen bis 1934 nachzeichnet. Daß Kelsens Fortgang von Wien 1930 nicht zu einem Zerfall der Wiener rechtstheoretischen Schule führte, erklärt im Anschluss Klaus Zeleny („Der Kreis um Kelsen“). Die Bedeutung der 1914 auf Initiative Kelsens gegründeten ÖZÖR als „Schulorgan“ zumindest in ihren Anfangsjahren und ihren Wandel zur Zeitschrift von Alfred Verdroß ab 1934 behandelt Ute Spörg („Die Zeitschrift für Öffentliches Recht als Medium der Wiener Schule zwischen 1914 und 1944“). Berührungspunkte im Objektivierungsanliegen zwischen Wiener Kreis und Wiener rechtstheoretischer Schule thematisiert Clemens Jabloner („Objektive Normativität“), der in Kelsens starker Fokussierung auf den Ermächtigungs- statt Verpflichtungszusammenhang anders als etwa Stanley Paulson keine Aufopferung von Normativität erblickt (S.175ff.). Dass Kelsen im Marxismus eine „gefährliche Utopie“ (S. 187) gesehen habe, belegt sodann Michael Potacs („Hans Kelsen und der Marxismus“) unter Hinweis auf das Schicksal des unter Stalin zu Tode gekommenen Kelsen-Kritikers Eugen Paschukanis. Die näheren Umstände der teils sehr persönlichen Auseinandersetzung von Fritz Sander und Hans Kelsen, die in einem Plagiatsvorwurf gipfelte, referiert Axel-Johannes Korb („Sander gegen Kelsen. Geschichte einer Feindschaft“), der die Legende eines Suizids Sanders zurückweist und dessen (ungewollte) Verdienste um die „Selbstvergewisserung Kelsens als Neukantianer“ (S. 206) herausstellt. Anschließend legt Thomas Olechowski („Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung“) minutiös dar, warum man Kelsen, wenn schon nicht als „Vater“, so doch als „Architekten der Verfassung“ Österreichs von 1920 zu würdigen hat (S. 228), obgleich der „Anschluss Österreichs an das (damals noch demokratische!) Deutsche Reich ein großes persönliches Anliegen Kelsens“ (S. 215 FN 32) gewesen sei. Der Beitrag „Hans Kelsen als Wahlrechtsexperte“ (Gerhard Strejcek) zeigt diesen als Rechtspolitiker wie Dogmatiker, der immerhin bereits 1907 einen „Kommentar zur österreichischen Reichsratswahlordnung“ vorgelegt hatte. Kelsens Anfeindung als Verfassungsrichter behandelt sodann das Referat Christian Neschwaras über „Hans Kelsen und das Problem der Dispensehen“, eine Streitsache, die Kelsen zeitlebens als Entscheidung eines reinen Kompetenzkonfliktes verteidigte (S. 257).
Die Umstände der frühen Entlassung Kelsens in Köln 1933 schildert Oliver Lepsius („Hans Kelsen und der Nationalsozialismus“), der aber auch die Solidarität der Fakultät, abgesehen namentlich von Carl Schmitt, anführt und auch, dass Kelsen Köln „erhobenen Hauptes“ verlassen habe (S. 274f.). Über die Zwischenstation in Genf (1933-1936) und die teils briefliche Mitwirkung an einem Projekt internationaler Verrechtlichung und insbesondere „Vergerichtlichung“ (S. 299) als Form institutionellen Pazifismus berichtet Nicoletta Bersier Ladavac („Hans Kelsen in Genf: Die Friedensproblematik zwischen Wissenschaft und Politik“). In Prag traf Kelsen dann auf seinen Opponenten Sander, der aus ständestaatlicher Sicht ein Gegenbuch zu Kelsens Demokratieschrift veröffentlicht hatte und die Berufung seines ursprünglichen Ziehvaters trübte, wie Jana Osterkamp („Hans Kelsen in der Tschechoslowakei“) berichtet, wobei sie auch auf die in dieser Zeit tschechisch nationalistisch ausgerichtete Rechtslehre des zum Nahbereich Kelsens gehörigen Frantisek Weyr und die Bedrohung durch nationalsozialistische Studenten eingeht. Verlauf und Stationen von Kelsens Emigration in die Vereinigten Staaten 1939 referiert im Anschluß Johannes Feichtinger („Transatlantische Vernetzungen. Der Weg Hans Kelsens und seines Kreises in die Emigration“), der die Schwierigkeiten eines Wirkens als Rechtstheoretiker in der Neuen Welt hervorhebt, wo Kelsen in erster Linie als Völkerrechtler wahrgenommen wurde (S. 334). Die Schattenseite einer nachhaltigen Durchleuchtung und Befragung durch US-Sicherheitsorgane trotz seines klaren Antikommunismus und Ablegung des gleichwohl von ihm kritisierten Loyalitätseides beleuchtet Oliver Rathkolb („Hans Kelsen und das FBI während des McCarthysmus in den USA“). Der mit dem Frühjahr 1959 einsetzenden letzten Werkphase widmet sich Ewald Wiederin („Das Spätwerk Kelsens“), der die Themenfelder Kelsens erneuter Grundlagenreflektion ebenso wie die jetzt einsetzende „volitive Unterfütterung“ (S. 359) benennt, aber hierin keinen Theorieniedergang, sondern einen wertvollen Werkstatteinblick wie eine ständige Denkherausforderung sieht. Den Abschluss bildet die Rezeptionsanalyse Otto Pfersmanns („Hans Kelsens Rolle in der gegenwärtigen Rechtswissenschaft“), die eine „Theorie-Amnesie“ (S. 371), insbesondere eine Abschiebung Kelsens im anglo-amerikanischen Rechtsdenken auf den Randplatz eines Hart-Vorläufers (S. 368), diagnostiziert. Gegen abwägungs- und prinzipienbestimmte Rechtstheorien setzt der Autor Kelsen zumindest ein Stück weit ins Recht und stellt nachdrücklich fest, dass die rechtswissenschaftliche Favorisierung von „Theorien ohne Objektivitäts- und Präzisionsanspruch und ohne Strukturkonzept“ letztlich das Recht und seine Strukturen selbst nachhaltig schwächt (S. 385). Insofern bleibt Kelsen aktuell, eine Erkenntnis, welche die inspirierenden und gut lesbaren Tagungsreferate lebendig halten.
Jena Walter Pauly