Goltsche, Friederike, Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 3 Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar 35). De Gruyter, Berlin 2010. XV, 423 S. Besprochen von Arno Buschmann.
Goltsche, Friederike, Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 3 Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar 35). De Gruyter, Berlin 2010. XV, 423 S. Besprochen von Arno Buschmann.
In der schier unendlichen Geschichte der Strafrechtsreform in Deutschland spielt der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922, der nach seinem Initiator, dem seinerzeitigen Reichsjustizminister Gustav Radbruch benannte Entwurf, eine besondere Rolle. Es ist nicht nur der erste und einzige Entwurf eines gemeinsamen Strafgesetzbuches des damaligen Deutschen Reiches und Österreich, sondern zugleich auch der einzige Entwurf, der mit dem Namen und Wirken eines deutschen Reichsjustizministers verbunden wird, obschon der Anteil des österreichischen Ministerialbeamten und späteren Wiener Strafrechtsprofessors Ferdinand Kadečka (1874-1964), des Mitverfassers des österreichischen Strafgesetzbuchentwurfs von 1962, nicht unterschätzt werden darf. Das Schicksal des Entwurfs ist historisch interessierten Strafrechtlern und Rechtshistorikern bekannt. Man weiß, dass er mehrfach umgearbeitet wurde, 1925 als „Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches“ erneut im Druck erschien, danach dem Reichsrat und dem Reichstag zugeleitet und dort auch beraten wurde, jedoch wegen der Ereignisse des Jahres 1933 keine Gesetzeskraft erlangte.
In der rechtsgeschichtlichen Forschung ist zwar immer wieder auf diesen Entwurf Radbruch hingewiesen, eine eingehende Untersuchung seines Inhaltes, seiner Entstehungsgeschichte und seiner Grundlagen bisher nicht unternommen worden. Diesem Mangel sucht die vorliegende Studie, eine an der Fernuniversität Hagen entstandene und dort von Thomas Vormbaum und Günter Bemmann betreute rechtswissenschaftliche Dissertation, abzuhelfen. Ihre Abfassung steht im Zusammenhang mit der von Thomas Vormbaum begründeten Reihe strafrechtshistorischer Studien, die es sich zum Ziel gesetzt hat, in Einzeluntersuchungen Material zu einem strafrechtshistorischen Kommentar zum geltenden Strafrecht zusammenzutragen und aufzubereiten, wie dieser für das Bürgerliche Gesetzbuch bereits in Gestalt des Historisch-kritischen Kommentars in Angriff genommen und teilweise publiziert worden ist. Auch wenn der Entwurf Radbruch nie Gesetz wurde, ist er doch aus der Geschichte des geltenden Strafrechts nicht wegzudenken, insofern als in ihm erstmals jene strafrechtliche Reformvorstellungen in die Form eines Gesetzentwurfs gegossen wurden, die Jahrzehnte zuvor die strafrechtswissenschaftliche Diskussion beherrscht hatten.
Als Aufgabe der Untersuchung bezeichnet es die Verfasserin, ein Gesamtbild des Entwurfs wie auch der Kernpunkte der Reformbestrebungen, soweit sie in den Entwurf realisiert wurden, zu liefern, wobei sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, was wegen des Umfangs der Materie in dem durch eine Dissertation gezogenen Rahmen auch nicht erwartet werden kann. Die Untersuchung wird von ihr als eine Querschnittanalyse angelegt, in der nach der Kontinuität der im Entwurf geregelten Materien im Verhältnis zu den vorangegangenen Entwürfen gefragt werden soll, wie etwa den Einflüssen vor allem der zeitgenössischen österreichischen Reformbestrebungen, der legislativen Struktur und Systematik des Entwurfs, den Tendenzen zur Kriminalisierung oder auch Entkriminalisierung von einzelnen Tatbeständen sowie der Rationalisierung der Strafe, d. h. der aus den Feuerbach’schen Lehren herrührenden Bestrebungen der Trennung von Recht und Moral im Strafrecht.
Ihre Untersuchung beginnt die Verfasserin mit einer geschichtlichen Einleitung, in der die politische Situation des Entstehungsjahres des Entwurfs skizziert, eine vergleichsweise ausführliche Darstellung des Lebens und Wirkens Gustav Radbruchs gegeben und auch eine allerdings sehr kurze Biographie von Radbruchs österreichischem Partner Kadečka geliefert wird. Die erstere stützt sich auf die bekannten Quellen, vor allem auf Radbruchs Selbstbiographie, bei der zweiten werden zu Recht dessen Verdienste um die österreichische Strafrechtsreform, die mit der Abfassung des Strafgesetzbuches von 1975 ihr Ende fand, hervorgehoben. Kadečka wurde erst spät auf eine Lehrkanzel der Universität Wien berufen. Sein Nachfolger war dort der bekannte Militärstrafrechtler und spätere Marburger Strafrechtsprofessor Erich Schwinge (1903-1994), nicht wie die Verfasserin meint, ein Strafrechtler namens Schwinger. Es folgt eine Schilderung von Entstehungsgeschichte und Aufbau des Entwurfes, in der die Verfasserin - zu Recht, wie Rezensent meint - das Verhältnis des Strafrechtstheoretikers und Rechtsphilosophen Radbruch zum Rechtspolitiker erörtert und zu dem Ergebnis gelangt, dass der Entwurf als eine gelungene Synthese von Kriminalpolitik und praktischer Politik betrachtet werden könne. Eingehend behandelt sie im Anschluss daran die wichtigsten Einzelregelungen, zunächst im Allgemeinen Teil die Verwirklichung des Schuldprinzips und die Beseitigung der Reste der Erfolgungshaftung, sodann im besonderen Teil vor allem das Strafensystem und das System der Maßnahmen der Sicherung und Besserung, einem zentralen Teil der Reformideen der Liszt’schen Schule, sowie die Vorschriften über die Objektivierung der Strafbarkeit. Als Ergebnis ihrer Untersuchung und in einer zusammenfassenden Würdigung des Entwurfes stellt sie schließlich fest, dass der Entwurf keineswegs, wie immer wieder behauptet, ein herausragendes Dokument rationaler, zweckorientierter, mit einem Wort: liberaler Strafrechtspolitik ist, sondern sich in ihm sowohl liberale als auch restriktive und traditionale Elemente mischen, die solche Beurteilung nicht gerechtfertigt erscheinen lassen.
Diesem Resultat kann nur zugestimmt werden. Tatsächlich ist der Entwurf keine „lupenreine“ Verwirklichung der Reformvorstellungen der Liszt’schen Schule, sondern enthält im Gegenteil Vorschriften, die als Perpetuierung traditioneller Strafrechtsvorstellungen zu betrachten sind und sich ohne weiteres in die Linie der übrigen Reformarbeiten einordnen lassen. Mit dieser Feststellung ist keineswegs eine Schmälerung der Bedeutung des Entwurfs für die Entwicklung der Strafrechtsreform verbunden, wohl aber eine Reduktion der oftmals allzu euphorisch formulierten Urteile auf den harten Kern der historischen Tatsachen, die zu einer differenzierenden Betrachtung führen muss. Zu einer solchen zutreffenderen historischen Einordnung des Entwurfs einen wesentlichen Beitrag geleistet zu haben, ist das besondere Verdienst der vorliegenden Studie.
Salzburg Arno Buschmann