Godfrey, Andrew Mark, Civil Justice in Renaissance Scotland. The Origins of a Central Court (= Medieval Law and its Practice 4). Brill, Leiden 2009. XV, 486 S. Besprochen von Peter Oestmann.
Godfrey, Andrew Mark, Civil Justice in Renaissance Scotland. The Origins of a Central Court (= Medieval Law and its Practice 4). Brill, Leiden 2009. XV, 486 S. Besprochen von Peter Oestmann.
Die Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Ancien Régime haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem gewichtigen Zweig der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte entwickelt. Die einschlägigen deutschen „Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ liegen inzwischen in 56 Bänden vor. Mehrfach sind auch europäische Vergleiche gezogen worden, so auf Tagungen 1993[1] und 2006[2] sowie auf dem Rechtshistorikertag in Halle 2006[3]. Damit lässt sich besonders gut erkennen, inwieweit sich die Gerichtsverfassung des Alten Reiches (Königliches Kammergericht, Reichskammergericht, Reichshofrat) in allgemeine europäische Justizmodernisierungen einfügt oder spezifisch mitteleuropäische Besonderheiten aufweist. Der europäische Rahmen ist jetzt um einen weiteren Baustein bereichert. Der schottische Rechtshistoriker Mark Godfrey (Glasgow) legt nach einigen kleineren Vorstudien eine umfangreiche, quellengesättigte und perspektivenreiche Untersuchung vor, welche die schottische Höchstgerichtsbarkeit von der ersten Hälfte des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts behandelt.
Für die Geschichte der schottischen Gerichtsverfassung sind zwei Ausgangspunkte entscheidend, die auch für Godfrey immer wieder den Hintergrund der Argumentation bilden. Zum einen hat man bisher Schottland als Fehdegesellschaft angesehen, die erst Ende des 16. Jahrhunderts befriedet worden sei. Zum anderen gab es seit 1426 einen Court of Session, ein ständiges Gericht mit enger Verflechtung zunächst zum Parlament, dann zum königlichen Rat. 1532 wurde die Session zwar als College of Justice neu organisiert, doch eine ältere wirkmächtige Lehre, die vor allem in den 1920er und 30er Jahren von Robert Kerr Hannay begründet wurde, sah hierin lediglich einen Durchlaufposten. Die Session sei schon viel früher fest institutionalisiert worden, zugleich sei die Befriedung der schottischen Gesellschaft erst Jahrzehnte später möglich gewesen. Godfrey gelingt es durch minutiöse Quellenexegese, die überkommene Sichtweise durch ein im wesentlichen anderes Bild zu ersetzen. Erstens zeigt er in intensiver Auseinandersetzung mit der Ansicht Hannays, dass die Errichtung des College of Justice 1532 das zentrale Ereignis der frühneuzeitlichen schottischen Justizgeschichte darstellt. Zweitens zwingt der erstaunliche Erfolg der Session bzw. des College of Justice in den 1530er Jahren dazu, die Rede von der bis ins späte 16. Jahrhundert allgegenwärtigen Fehdekultur erheblich einzuschränken. Schottland war zugleich eine Gerichts- und Streitschlichtungsgesellschaft, denn verschiedene Möglichkeiten der Konfliktlösung bestanden über lange Zeit nebeneinander. Hier hätte Godfrey gut an allgemeinhistorische Arbeiten zur Verrechtlichung sozialer Konflikte (Winfried Schulze, Peter Blickle, André Holenstein und andere) anknüpfen können. Jedenfalls aus deutscher Perspektive stimmt man ihm spontan und nachdrücklich zu, denn auch die Errichtung des Reichskammergerichts 1495 war eher die Neuorganisation des bereits bestehenden Königlichen Kammergerichts und nicht eine völlige Neugründung. Godfrey rennt also hierzulande offene Türen ein, nicht dagegen in Schottland, wie seine weit ausholenden Widerlegungen älterer Literaturmeinungen belegen.
Die Einzelergebnisse von Godfreys Arbeit sind so vielfältig, dass man sie an dieser Stelle nicht ausbreiten kann. Einige wenige Hinweise müssen genügen. Die ersten drei der neun Kapitel widmen sich der Institutionengeschichte. In der Session spiegelt sich die langsame Verlagerung der rechtsprechenden Tätigkeit vom Parlament zum königlichen Rat. Die Anbindung der Session, die zunächst nur unregelmäßig, eben in „Sessionen“, zusammentrat, an das Parlament wurde nach und nach gelockert. Seit dem späten 15. Jahrhundert bestand die Session bis 1626 aus Mitgliedern des königlichen Rates, wenn auch gelegentlich die Session beim Parlament um die authentische Interpretation von Gesetzen nachsuchte. Die entscheidende Zäsur geschah nach Godfrey 1532. Mit der Errichtung des College of Justice wurde die Teilnahme an der Session auf bestimmte Räte beschränkt. Nicht mehr jedes Mitglied des Council war fortan automatisch richterlich tätig. Für die Ausdifferenzierung von Justiz und Regierung in Schottland war das wegweisend. Bereits vor 1532 war die Session nach und nach zum höchsten Gericht erstarkt, hatte eine erhebliche Zunahme an Prozess- und Schlichtungstätigkeit bei 100 Sitzungstagen pro Jahr zu verzeichnen, ebenso die Berührung mit neuen Verfahrensformen und Argumentationstechniken. Es war also nicht die in der älteren Literatur postulierte Krise der Session, die zur Gründung des College of Justice führte, sondern gerade ihr Erfolg. Diesen Erfolg veranschaulicht Godfrey sodann in den Kapiteln vier bis sieben. Durch die Untersuchung gelehrter Terminologie, die spezifische Art der Klageerwiderung als Exzeption und durch Zitate gemeinrechtlicher Literatur und Rechtsquellen kommt Godfrey zu dem Ergebnis, dass die Session wie viele andere Höchstgerichte in Europa die Rezeption des römischen Rechts beförderte bzw. selbst im Zuge der Rezeption reformiert und professionalisiert wurde. Das erkennt man nicht zuletzt an der praktisch unbeschränkten sachlichen Zuständigkeit. In der schottischen Tradition gab es die lang hergebrachte Gewohnheit, Streitfälle über „fee and heritage“ (Eigen und Erbe) nur vor ordentlichen Untergerichten oder dem Parlament auszutragen, nicht aber vor der königlichen Session. Die Prozesspraxis zeigt nun, wie derartige Streitsachen dennoch vor der Session anhängig gemacht wurden. Selbst wenn die Gegenseite die exceptio forideclinatoria erhob, hatte sie seit 1513 damit in keinem Fall Erfolg. Rein tatsächlich unterlag die Zivilgerichtsbarkeit der Session also keinen Begrenzungen. Besonders originell sind Kapitel acht und neun, die beiden letzten Abschnitte des Buches. Godfrey wendet sich dort gezielt der nicht-urteilenden Tätigkeit der Session zu. Die Quellenbasis dafür ist günstig, denn die Protokollbücher der Session enthalten zahlreiche Hinweise darauf, dass die Mitglieder der Session von den Parteien auch als Schiedsrichter gewählt wurden, um Streitigkeiten ohne förmliches Gerichtsverfahren zu schlichten. In einigen Fällen kamen die Parteien sogar mit einer außergerichtlichen Einigung vor die Session und erhofften sich von deren Mitgliedern eine autoritative Bekräftigung der privaten Vergleiche. Sehr treffend zieht Godfrey daraus den Schluss, die hoheitlich-öffentliche und privat-konsensuale Konfliktlösung hätten sich gar nicht als zwei gegensätzliche Modelle gegenübergestanden, sondern seien häufig ineinander übergegangen. Hier ergeben sich vielfache Anknüpfungspunkte für verschiedene aktuelle Forschungsvorhaben zu Informalität und Streitbeilegungen. Die Umsicht, mit der Godfrey lautstarke Thesenbildung und Zuspitzungen vermeidet, ist dabei immer wieder vorbildlich. Die Wahrheit ist eben leise.
Das Schlusskapitel bettet die Untersuchung in vier größere Zusammenhänge ein und gelangt auf diese Weise doch zu einer gewissen Ausweitung. Zunächst betont Godfrey die enge Verbindung zwischen zunehmender zentraler Gewalt und der Errichtung eines höchsten Gerichts. Aus deutschem Blickwinkel könnte man auch vom Zusammenhang von Staatswerdung und Modernisierung der Justiz sprechen. Immerhin war die iurisdictio das entscheidende Herrschaftsrecht eines Monarchen im 16. Jahrhundert. Zweitens meint er, in der erfolgreichen Schaffung einer funktionierenden Obergerichtsbarkeit spiegele sich ein verändertes Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Für Konfliktlösungen werde zunehmend die obrigkeitliche Institution zuständig. Dies zeige drittens die sich wandelnde Rolle von Gesetz, Recht und Norm in der Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters. Die vielfache Anrufung der Session in ganz unterschiedlichen Konflikten steht demnach für das Bewusstsein, durch gerichtliche Streitentscheidung bzw. Streitschlichtung gewaltfrei zur Lösung rechtlicher Auseinandersetzungen zu kommen. Viertens stellt Godfrey in Anlehnung an David Ibbetson Überlegungen zur Natur des Rechtswandels in der spätmittelalterlichen Gesellschaft dar. Wenn einerseits die Zuständigkeit der Session de facto unbegrenzt war, andererseits aber Anwälte noch über Jahrzehnte die Unzulässigkeit von Prozessen um Eigen und Erbe erfolglos geltend machten, so prallten hier möglicherweise altes und neues Rechtsdenken aufeinander, die in der Zeit aber als gleichrangige Sichtweisen wahrgenommen worden sein können. Ob die so konstatierte „rechtliche Ambiguität“, die es sicherlich gab, nicht viel weitergehend und epochenübergreifend die Geschichte der Gerichtspraxis prägte, könnte man im Anschluss an diese Andeutungen fragen und in späteren Untersuchungen zu klären versuchen.
Godfrey liefert also viel Material zum Nachdenken, auch über das partikulare schottische Beispiel hinaus. Wenn man unbedingt etwas kritisieren will, sind das nur Marginalien. Vielleicht ist es überspitzt, die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts im frühen 15. Jahrhundert in de facto und de jure aufzuspalten. Nach der gelehrten Doktrin war nämlich die praktische Beachtung zugleich ein Kriterium für die Geltung einer Norm, so dass diese Abgrenzung in einer Zeit, in der Gesetzestexte nur relative Autorität besaßen, gerade brüchig war. Vertiefung hätten auch die gelegentlichen Hinweise auf den Usus und Stylus Curiae verdient. Von hier aus hätten sich Anknüpfungen an die Arbeiten zur frühneuzeitlichen Usualinterpretation angeboten. Das sind aber nichts als Kleinigkeiten. Die Behutsamkeit, in der Godfrey Schnellschüsse vermeidet, die Quellen ganz zurückhaltend interpretiert und gerade durch diese unaufgeregte Exegese auf der Basis zahlreicher mühsam erzielter Einzelfunde zum Schluss doch das Feld ganz neu vermisst, erweisen ihn als quellenkundigen und methodensicheren Rechtshistoriker von Rang. Dem Buch, an dem er inklusive Vorarbeiten fast zehn Jahre gearbeitet hat, ist auch außerhalb Schottlands die Beachtung zu wünschen, die es verdient.
Münster Peter Oestmann
[1] Bernhard Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit, 1996.
[2] Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hgg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, 2007.
[3] Rolf Lieberwirth/Heiner Lück (Hgg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages Halle an der Saale 2006, 2008, S. 525[3] Bernhard Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit, 1996.
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