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Gehrke, Roland, Landtag und Öffentlichkeit. Provinzialständischer Parlamentarismus in Schlesien 1825-1845 (= Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 17). Böhlau, Köln 2010. XII, 525 S. Besprochen von Werner Schubert.

Gehrke, Roland, Landtag und Öffentlichkeit. Provinzialständischer Parlamentarismus in Schlesien 1825-1845 (= Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 17). Böhlau, Köln 2010. XII, 525 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Nach dem Scheitern von Verfassung und (nichtständischer) Nationalrepräsentation, wie sie 1815/20 versprochen worden war, beschritt Preußen mit der sog. Provinizialständischen Verfassung von 1823/24 „einen eigenen Weg zwischen altständischer Ordnung und Konstitutionalismus“ (S. 432). Die Einrichtung von Provinzialständen beruhte auf der konservativ-restaurativen Wende der preußischen Politik, die insoweit mit Postulaten der Reformära brach. Nach der Darstellung der Tätigkeit des Rheinischen Provinziallandtags durch Helmut Croon im Jahre 1918 liegt mit dem Werk Gehrkes über den Schlesischen Provinziallandtag nunmehr eine weitere Gesamtdarstellung über die regional ausgerichteten Vorformen des preußischen Parlamentarismus in der Zeit zwischen 1825 und 1847 vor. Hauptquelle für die Untersuchungen sind neben den vollständig gedruckten Landtagsverhandlungen von 1841, 1843 und 1845 die archivalischen Überlieferungen im Geheimen Staatsarchiv Berlin über den Preußischen Provinziallandtag auch für die Zeit von 1825-1837. Die Protokolle über die Landtagsverhandlungen und weitere Verhandlungsunterlagen sind im Zweiten Weltkrieg vollständig verloren gegangen. Aus diesem Grunde lassen sich die Rednerbeiträge in den Protokollen von 1841-1845 nicht mehr einzelnen Abgeordneten namentlich zuordnen, wie dies für den Rheinischen und Westfälischen Provinziallandtag möglich ist.

 

Das Werk verfolgt die Konzeption einer „regionalen Fallstudie“ (S. 30) und analysiert „Verfahren, Themen und Wirkung des provinzialständischen Parlamentarismus konkret am schlesischen Beispiel“ (S. 30). Den Hauptteilen vorangestellt sind Abschnitte über die ständischen Traditionen in der Provinz Schlesien und deren administrative Strukturen sowie über die schlesische Verfassungsdebatte (1807-1821) und die Genese der Provinzialständegesetze von 1823/24. Nach Erlass eines Rahmengesetzes „wegen Verordnung der Provinzial-Stände“ vom 5. 6. 1823 erging am 27. 3. 1824 das Ausführungsgesetz für Schlesien (ergänzt 1827), das vier Stände vorsah: Fürsten/Standesherren, Ritterschaft, Städte und Landgemeinden. Seit 1829 hatte der Provinziallandtag 95 Mitglieder mit insgesamt 92 Stimmen, von denen die beiden ersten Stände über 46 Stimmen verfügten. Zu Abgeordneten des zweiten, dritten und vierten Standes konnten nur Grundbesitzer gewählt werden. Anträge an den König (Petitionen) bedurften einer Zweidrittelmehrheit. Die Kompetenz der Landtage war beschränkt auf die vom König zur Beratung überwiesenen Gesetzentwürfe, auf Petitionen und auf die der Selbstverwaltung unterliegenden Gegenstände (Provinzialirrenhäuser und Feuersozietäten). Die jeweiligen königlichen Landtagsabschiede enthielten die Reaktion der Berliner Zentrale auf die Wünsche der Stände. Die folgenden Kapitel 5 und 6 des Hauptteils stellen detailliert die Verhandlungsgegenstände zunächst für die Landtage von 1825-1837 und sodann von 1841-1845 dar. Diese Zweiteilung rechtfertigt sich dadurch, dass mit dem Thronwechsel von 1840 verfassungsrechtliche Zugeständnisse und eine gewandelte Öffentlichkeitspraxis verbunden waren (S. 268ff., 278ff.). Die Beratungsgegenstände werden nicht rein chronologisch, sondern für die beiden Zeitabschnitte nach inhaltlich-systematischen Gesichtspunkten behandelt. Für den ersten Zeitraum geht es um die Frage der Einberufung von Reichsständen (1837), die Kreis-, Land- und Gemeindeverfassung, die Kodifizierung des Provinzialrechts, die (restriktive) Umsetzung der Agrarreformen, die Revinkulierung des ritterschaftlichen und bäuerlichen Grundbesitzes, die Gewerbegesetzgebung, die Schulpolitik und die Judenfrage. Die Ritterschaft verfolgte zur Aufrechterhaltung der patriarchalischen Herrschafts- und Sozialstruktur auf dem Lande einen restaurativ-konservativen Kurs (faktische Unmöglichkeit der Ablösung bäuerlicher Dienstpflichten durch die kleinbäuerlichen „Gärtner“; Dominanz in den Kreistagen). Die städtischen Abgeordneten leisteten, wenn auch ohne Erfolg, Widerstand gegen die 1811 eingeführte Gewerbefreiheit.

 

Die Beratungsgegenstände der letzten drei Landtage des Vormärz betrafen die Einberufung von Reichsständen, die Forderungen nach Reform der provinzialständischen Verfassung, presse- und justizpolitische Forderungen (u. a. Abschaffung der Patrimonialgerichte), Maßnahmen gegen den Pauperismus und die Handelspolitik. Der, wenn auch erfolglose Vorstoß von Breslauer Abgeordneten von 1841 auf sofortige Einberufung von Reichsständen führte zu einer tiefgreifenden Verstimmung des Königs. 1845 trat der Landtag für eine Wiederherstellung des Judenedikts von 1812 ein, lehnte jedoch eine vollständige Gleichstellung der Juden ab. Insgesamt nahm der schlesische Landtag im Spektrum der acht Provinzen eine Mittelposition ein, während sich in der Rheinprovinz und in Ostpreußen eine mehrheitsfähige Opposition gegen die Regierungspolitik formiert hatte (S. 440). Weitere Abschnitte des Werkes befassen sich mit den außerparlamentarischen Aktivitäten in Schlesien in der Vormärzzeit (S. 309ff.) sowie mit der Rolle der schlesischen Abgeordneten und dem Vereinigten Landtag von 1847 (S. 422ff.). Das Werk wird abgeschlossen mit einer Übersicht über die Abgeordneten der Landtage von 1825-1845 sowie einem Orts- und Personenregister. Zu bedauern ist, dass ein Sachregister fehlt, das insbesondere zur Erschließung der zahlreichen Beratungsgegenstände nützlich gewesen wäre. Gehrke hat die Beratungsgegenstände des Schlesischen Provinziallandtags, soweit sie verfassungspolitisch und sozialhistorisch von Bedeutung sind, vollständig erschlossen. Auch unter Berücksichtigung dieser thematischen Ausrichtung hätten die Beratungen über den Entwurf zu einem Strafgesetzbuch von 1843 (S. 321f.) eine ausführlichere Darstellung verdient. Das Gleiche gilt für die zahlreichen justizpolitischen Forderungen, die detaillierter hätten gekennzeichnet werden sollen. Hingewiesen sei noch darauf, dass die Petition des Landtags von 1843 auf „Verhinderung leichtsinniger Eingehung von Ehen“ (S. 319f.) den entscheidenden Anstoß zu einer Weiterführung der Reform des Unehelichenrechts des ALR gab (vgl. Thomas Heinrich, das preußische Nichtehelichenrecht. Von der Aufklärung zur Reaktion, Frankfurt am Main 1993, S. 167ff.). Insgesamt weist das detailreiche Werk Gehrkes über den Schlesischen Provinziallandtag von 1825-1845 – ähnlich breite Darstellungen insbesondere für den (Ost-)preußischen und Westfälischen Provinziallandtag wären erwünscht – auf zahlreiche wichtige Themen der preußischen und schlesischen Rechtsgeschichte hin, von denen längst nicht alle rechtshistorisch erschlossen sind.

 

Kiel

Werner Schubert