Franz Wieacker. Historiker des modernen Privatrechts, hg. v. Behrends, Okko/Schumann, Eva. Wallstein, Göttingen 2010. 326 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Franz Wieacker. Historiker des modernen Privatrechts, hg. v. Behrends, Okko/Schumann, Eva. Wallstein, Göttingen 2010. 326 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Franz (Hermann) Wieacker (Stargard/Pommern 5. 8. 1908-Göttingen 17. 2. 1994) war, wie der Umschlag in größtmöglicher Kürze mitteilt, Professor für römisches Recht, bürgerliches Recht und neuere Privatrechtsgeschichte an den juristischen Fakultäten der Universitäten Leipzig, Freiburg im Breisgau und Göttingen. Innerhalb seiner mindestens 407 gezählten Veröffentlichungen überwiegt dementsprechend das römische Recht. Gleichwohl war die Reichweite seiner in übersprudelnder Freundlichkeit stetig verbreiteten zahllosen Gedanken so groß, dass die zum Gedenken an die von Okko Behrends nach römischer Datierungstechnik ermittelte hundertste Wiederkehr seines Geburtstags von Schülern, Kollegen und Freunden erfolgte Befassung mit seinem bedeutendsten und zugleich persönlichstem Werk auch in der Germanistischen Abteilung der Zeitschrift zumindest eine kurze Anzeige un wenigen Zeilen verdient, zumal unter den 30 Teilnehmern des entsprechenden Symosions, bei dessen Gelegenheit Okko Behrends erfreulicherweise auch auf einen Beleg für das im Rahmen der Sympotica Franz Wieacker a suis libata noch als gar nicht bestehend angesehene anmutige Wort Sympotica in den Noctes Atticae bei Aulus Gellius gestoßen ist, mindestens ein Drittel sich vermutlich als Germanist bezeichnen würde.
Insgesamt enthält der mit zwei einander chronologisch kontrovers gegegenübergestellten, senkrecht hälftig geteilten Portraits des reifen universalen Gelehrten (links deutlich im Vordergurnd) und des jungen rastlosen Himmelsstürmers (rechts blass im Hintergrund) geschmückte hübsche Band nach einstimmenden Grußworten des Schülers und Nachfolgers Okko Behrends, der Dekanin der juristischen Fakultät, des Vizepräsidenten der Universität und des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen acht eindringliche Studien der besten Sachkenner. Sie reichen vom allgemeinen Leben bis zum besonderen Werk. Dieses wird einerseits auf die Privatrechtsgeschichte konzentriert, andererseits aber auch mit Verwissenschaftlichung und Positivismus, mit Romanistik und Germanistik sowie mit Italien und der Gesamtheit geschichtlicher Forschung verbunden.
Fasziniert und faszinierend beschreibt zunächst Detlef Liebs, den Wieacker (und persönliche Bindungen minderjährig) von Freiburg im Breisgau nach Göttingen lockte(n) und als studentische Schreibkraft zu den Textstufen klassischer Juristen führte(n), das Leben seines Lehrers in Freiheit und Einsamkeit, dessen anfangs bewegte Stationen (Stargard, Prenzlau, Weilburg an der Lahn, Stade, Celle, Tübingen [mit Corps Rhenania], München, Göttingen [Fritz Pringsheim 1882-1967, 1915 Habilitation bei Otto Lenel in Freiburg im Breisgau, 1923 Göttingen, 1929 Freiburg im Breisgau als Nachfolger Ernst Levys, 31. 12. 1935 Amtsverlust, 1939 Emigration England, 1946 Gastprofessor Freiburg im Breisgau, 1951 ordentlicher Professor in Freiburg im Breisgau], Freiburg im Breisgau, Palermo, Rom, Frankfurt am Main, Kiel, Leipzig [1936], Salzuflen [1945], Göttingen und Freiburg im Breisgau [1948]) 1953 in 40 Jahre Göttingen mündeten. Kurz nach dem in Celle mit 17 Jahren hervorragend bestandenen Abitur und der im Alter von 21 Jahren mit Auszeichnung im Oberlandesgericht in Celle am 19. und 20. 7. 1929 absolvierten ersten juristischen Staatsprüfung (mit zwar begonnener, aber niemals abgeschlossener praktischer Ausbildung im juristischen Staatsdienst) wurde Wieacker im Dezember 1930 (nach viermaliger oder vielleicht auch achtmaliger Rückgabe des Entwurfs durch Pringsheim) mit seiner Dissertation über die Lex commissoria (Erfüllungszwang und Widerruf im römischen Kaufrecht) mit summa cum laude promoviert und nach einem über Pringsheim erfolgten, aber auf dessen Rat abgelehnten Angebot eines Rufes auf ein Ordinariat an der Universität Königsberg am 16. 2. 1933 mit 24 Jahren mit seiner Habilitationsschrift über Societas (Hausgemeinschaft und Erwerbsgesellschaft - Untersuchungen zur Geschichte des römischen Gesellschaftsrechts) (wohl) für römisches Recht und bürgerliches Recht habilitiert.
Unter dem 7. 1. 1938 äußerte sich Wolfgang Kunkel gegenüber Ernst Levy brieflich dahingehend über dieses Buch, dass „dessen dunkle und verworrene Darstellungsweise uns oft zur Verzweiflung bringt. Es ist eine seltsame Mischung von Tiefblick und unerhörter Schludrigkeit. Ich habe wiederholt Interpretationen gefunden, die ohne jede Grundlage im Text oder auch dem wahren Sinn genau zuwider waren“. Dazu führt Liebs überzeugend aus, dass Wieacker in seiner Habilitationsschrift aus unscheinbaren Spuren mit Hilfe genialer Kombination die Entdeckung einer älteren, aus künstlicher Verbrüderung hervorgegangenen römischen Gesellschaftsform gelungen ist, die später durch einen neu aufgefundenen ägyptischen Papyrus bestätigt wurde.
Wohl im Wintersemester 1933/1934 und im Wintersemester 1934/1935 vertrat Wieacker, der nun auch wichtige Rechtsfragen seiner Gegenwart aufgriff, einen Lehrstuhl in Frankfurt am Main, im Sommersemester 1935 und im Wintersemester 1935/1936 in Kiel, das zu einer Stoßtruppfakultät ausgebaut werden sollte, im Sommersemester 1936 in Leipzig, wo er zum 1. Januar 1937 fast vier Jahre nach seiner Habilitation planmäßiger außerordentlicher Professor wurde, wobei er 1937 eine Berufung nach Kiel ablehnte. Mit Wirkung vom 1. Mai 1937 trat er (nach Lockerung der vom 1. Mai 1933 bis April 1937 dauernden Aufnahmesperre) mit einem etliche Tage später datierten Aufnahmeantrag der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (ohne „Münchener Mitgliedsbuch“) und dem Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund bei. Am 1. Mai 1939 wurde er ordentlicher Professor in Leipzig.
Miltärdienst leistete er (mit 30 Jahren) seit 15. Mai 1939, wobei er bei der Artillerie zum Kanonier ausgebildet wurde. Vom 1. bis 28 September 1939 nahm er am Polenfeldzug des Deutschen Reiches Teil, wurde aber am Anfang des Jahres 1940 zu Gunsten der Lehrtätigkeit zurückgestellt. Im September 1944 wurde er erneut eingezogen und seit 1. November in Italien eingesetzt, wo sich seine Truppe in Mailand am 27. April 1945 ergab und er in ein britisches Kriegsgefangenenlager gelangte.
Sein Ordinariat im zerstörten und inzwischen von Truppen der Sowjetunion besetzten Leipzig gab er, ohne dass Einzelheiten dazu mitgeteilt werden, im Alter von 37 Jahren zum 1. Oktober 1945 auf und wohnte in Bad Salzuflen. Seit Dezember 1945 unterrichtete er in Göttingen zunächst als Lehrbeauftragter und dann als Lehrstuhlvertreter. Wohl zu dieser Zeit entschied er sich für einen kaum bekannten Eintritt in die SPD und 1949 für einen 1948 erhaltenen Ruf nach Freiburg im Breisgau, während er einen wenig späteren Ruf nach Göttingen ablehnte, diese Wahl aber 1953 trotz lebenslanger inniger Verbundenheit mit Freiburg zu Gunsten Göttingens nochmals änderte.
Nach Liebs zeichnen Wieackers umfassendes Werk zwei selten gemeinsam begegnende Besonderheiten aus. Seine Äußerungen sind durchweg hochkomplex und gehen Feinheiten und Nuancen nach, wie dies kein anderer seiner Kollegen tat. Zugleich erreichte er aber eine breitere Öffentlichkeit als alle seine deutschsprachigen Fachgenossen.
Gleichwohl sieht Liebs als von Anfang an engstens eingebundener Sachkenner etwa das umfangreiche Werk über Textstufen klassischer Juristen als so ehrgeizig konzipiert, dass seine Verwirklichung scheitern musste. Entgegen dem Quellen gern aus dem Kopf zitierenden Verfasser kann man nach seinem Schüler die Frage, ob es vorjustinianische Textstufen gab, kaum seriös bejahend beantworten und muss sie im Gegenteil eher grundsätzlich verneinen. Regelrechte Textstufen im Sinne planmäßiger Anpassungen einer ganzen Juristenschrift an eine neue Rechtslage sind außer bei Justinian nicht wirklich sicher auszumachen.
Überhaupt, so kann der Schüler aus seiner langjährigen Beobachtung des Lehrers mitteilen, waren Geduld beim Zusammentragen disparater Quellen, Bestandsaufnahmen, Abzählen und Vergleiche Wieackers Stärke nicht. An die Stelle mühsamer Bestandsaufnahmen konnte er Aussagen setzen, die keine Bestandsaufnahmen waren, sich aber als solche gaben. Seine Aussagen an Hand der Texte und der Literatur zu überprüfen, unterließ er zu oft.
In kaum zu übertreffender wissenschaftlicher Neugier bemühte sich Wieacker nach den überzeugenden Erkenntnissen seines Schülers unablässig, viele oder alle Dinge neu zu sehen und sehen zu lehren. Dementsprechend bieten die Schriften sehr treffende, ja einzigartig formulierte Ansichten und Urteile. Daneben stehen aber auch manche scheinbar einleuchtenden Behauptungen, die sich bei nüchterner Überprüfung nicht wirklich halten lassen.
Auf dieser umfassenden, durch Bilder und Karikatur mit Reimen veranschaulichten Grundlage zieht Peter Landau vor allem aus kanonistischer Sicht nach vierzig Jahren eine Bilanz zu Wieackers Konzept einer neueren Privatrechtsgeschichte. Zu Recht sieht sie das bereits länger vorbereitete, 1952 in erster Auflage und 1969 in nahezu doppeltem Umfang in zweiter Auflage veröffentliche Buch als ein Hauptwerk und als ein Pionierwerk an. Gleichwohl zeigt die kritische Begutachtung von der Begründung und Begrenzung bis zum naturalistischen Gesetzespositivismus und der Gegenwartsdiagnose unübersehbare Probleme und Schwächen.
Insgesamt ordnet Landau daher die unglaublich perspektivenreiche Privatrechtsgeschichte Wieackers als Bekenntnisbuch ein, das weder das Buch eines Gründers noch eines Bewahrers ist, aber das Buch eines genialen Anregers. Es ist eines der wenigen großen juristischen Werke deutscher Sprache mit hohem literarischem Anspruch. Es adelt Franz Wieacker zu einem Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft.
Im Anschluss hieran fragt Joachim Rückert von der Zeitrechtsgeschichte her elegant nach Genese und Zukunft des Faches Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Dabei beginnt er mit dem Jahre 1935 und der durch die modernisierende Studienreform verordneten Einheit, der verordneten Neuzeit und dem verordneten Privatrecht, für die er danach aber gekonnt und zielsicher bis weit in das 19. Jahrhundert zurückgreift. Im Anschluss hieran behandelt er die vier neuen Chancen germanisch-deutscher Identität, gemeinsamer Neuzeit, mittelalterlicher Rechtsgeschichte und antiker Rechtsgeschichte, zeigt das neue Bild der Rezeption, die Emanzipation des Privatrechts und die Kontinuitäten und den Neuanfang nach 1945. Hinsichtlich der Zukunft des Faches stellt er die berechtigten Zweifel an der Erfolgsgeschichte der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit sowie die inhaltlichen und methodischen Mängel des Konzepts dar, sieht aber doch als Silberstreif am Horizont die Problemgeschichte nach dem Vorbild des von ihm als Mitherausgeber geschaffenenen Historisch-kritischen Kommentars zum Bürgerlichen Gesetzbuch, wobei nach seiner Ansicht die weltanschauungsträchtige deutsche Geistesgeschichte ausgedient haben und in den erhaltenswerten Teilen in (für Studierende noch zu schreibende) Problemgeschichte überführt werden sollte.
Martin Avenarius untersucht die Verwissenschaftlichung als „sinnhaften“ Kern der Rezeption im Sinne einer Konsequenz aus Wieackers rechtshistorischer Hermeneutik. In den Mittelpunkt stellt er dabei Wieackers Rezeptionsmodell und seine rechtshistorische Hermeneutik. Im Ergebnis gelangt er durch Wieacker über Wieacker hinaus, indem er die Sinnbestimmung auf einen anderen Rezeptionskontext überträgt.
Hans-Peter Haferkamp wendet sich demgegenüber den Positivismen als Ordnungsbegriffen einer Privatrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu und zählt dafür in seiner Einleitung eine überwältigende Vielzahl von Positivismen auf. Ausführlich erläutert er die wichtigsten Frontstellungen. Franz Wieacker zitierend schlägt er danach vor, die Schlüssel (z. B. Wieackers), die sich in seinem akribischen Zugriff als nicht passend erwiesen haben, aus der Hand zu legen und in diesem Sinne nach anderen Schlüsseln zu suchen.
Laurens Winkel nähert sich trotz verständlicher ursprünglicher Vorbehalte Franz Wieacker als Romanisten und Rechtshistoriker. Nach sorgfältiger Analyse ermittelt er bei Wieacker Züge, die Jhering und Savigny gleichen, ohne dass er ihn aber als Jhering oder Savigny des 20. Jahrhunderts einstufen möchte. Sein letztlicher Vergleich mit Cujacius, dem Jusristen des europäischen Humanismus, bedenkt Wieacker aber schließlich mit einem Kompliment, wie es einem Rechtshistoriker kaum ehrenvoller zugedacht werden kann.
Gerhard Dilcher betrachtet Franz Wieacker als „Germanisten“ und prüft zu diesem Zweck die Beziehungen zu Marx, Nietzsche und Max Weber. Dabei geht er von Wieackers Selbstdarstellung aus uns stößt über den Eintritt der germanischen Völker in die europäische Rechtsgeschichte, den Vorabend der Rezeption und die Rezeption bis zur jüngeren Vergangenheit vor. Im Ergebnis erkennt er in sorgfältiger Darlegung bei Weber wie bei Wieacker wohl ähnliche rechtstheoretische Ansatzpunkte wie emotionale Wertungen für das jeweilige Rechtsverständnis, die den Grund bildeten sowohl für Max Webers große soziologische Entwürfe wie auch für Franz Wieackers dichtes Bild der europäischen Rechtsgeschichte.
Am Ende beschreiben Luigi Labruna und Cosimo Cascione Franz Wieacker in Italien in herzlicher persönlicher Verbundenheit. Sie sehen den Gelehrten aus Göttingen in seinem Fach als einen Giganten, aber nicht als einsamen Riesen. In seinem ständigen Bemühen, Recht, Gesellschaft und Moral zu vereinen, wie in seiner Ablehnung von Formalismus jeglicher Art kann er als leuchtendes Vorbild aller zukünftigen Generationen dienen.
Insgesamt beschreibt der wertvolle, eine erwünschte Biographie vorbereitende, aber noch nicht bietende Band also Leben und Werk eines großen, seinem Land und seiner Sprache ebenso wie Rom und seinem Recht zutiefst verbundenen Gelehrten. Einzelne Schwächen vermögen diese beeindruckenden Vorzüge nicht wirklich zu schmälern. Franz Wieacker hat sich nach den Zeugnissen aller Freunde, Schüler und Kollegen um das gesamte Recht und seine lange Geschichte in Göttingen und in der gesamten Welt nachhaltig verdient gemacht.
Innsbruck Gerhard Köbler